Editorial
Radikal oder militant?

von Karl Müller
04/07

trend
onlinezeitung

Für die bundesdeutschen Linken ist 2007 tatsächlich das Jahr der relevanten Jahrestage: Vor 40 Jahren wurde Benno Ohnesorg ermordet. 1977 soll es angeblich den "Deutschen Herbst" gegeben haben und vor 20 Jahren fand in Westberlin die erste Aufführung der sich seitdem jährlich wiederholenden Maifestspiele in SO 36 statt.

Während die ersten beiden Jahrestage eher zu Nachdenklichkeiten, Bilanzierungen und Korrekturen anregen, ist das dritte Ereignis so richtig etwas für Bewegungslinke. Obwohl oder gerade weil wir zur Theoriefraktion gehören, hegten wir vom TREND  schon immer Sympathien für diese GenossInnen und begleiteten sie von der ersten Ausgabe an kontinuierlich parteilich-journalistisch. So war es denn auch eine Selbstverständlichkeit, dass wir mit dieser Ausgabe eine "20 Jahre Maifestspiele in Berlin-Kreuzberg"-Seite eingerichtet haben.

Linkhinweise und Texte für diese Seite sind ausdrücklich erwünscht!   

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Gut 30 GenossInnen aus undogmatisch linken&radikalen Zusammenhängen kamen am 6. März 2007 zum 1. TREND-Nachtgespräch 2007 ins BAIZ. Der Film "Die Fabrik brennt" sollte anregen, über Selbstorganisation und Militanz in betrieblichen Kämpfen zu diskutieren. Obwohl die KollegInnen des französischen Unternehmens Cellatex Methoden anwandten, die heute schmerzlich in bundesdeutschen Klassenkämpfen vermisst werden, wenn es darum geht, ArbeiterInnenforderungen Nachdruck zu verleihen, kam deutlich rüber, dass es sich beim  Cellatex-Konflikt trotz aller Militanz nur um einen Verteilungskampf handelte, der das Kapitalverhältnis ausdrücklich akzeptiert und damit perpetuiert.

In der anschließenden Diskussion wurde daher zurecht vertreten, dass Klassenkämpfe immer daran zu messen seien, ob in ihnen die Perspektive einer anderen Gesellschaft, nämlich der Kommunismus, aufscheine, enthalten sei oder sogar bewusst propagiert werde. Dem wurde entgegen gehalten, dass die Propaganda für den Kommunismus wertlos sei, wenn sie rein ideologischer und nicht praktischer Natur wäre. Eine praktische Kritik wäre mithin eine, so wurde vertreten, die in der Lage ist, die gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse als inhuman zu denunzieren, um mithilfe dieser Kritik die Konturen einer freien Gesellschaft formulieren zu können. Dies hätte jedoch wahrlich nichts mit Militanz zu tun, sondern mit Radikalität. Militanz, so wurde gefolgert, wäre damit ein rein taktische Frage, die aus der Analyse der Kräfteverhältnisse auf der Grundlage der kommunistischen Programmatik abzuleiten sei. Moralische Entrüstung, individuelles Verlangen, Wut und Bauch seien daher als Triebkraft der Militanz - trotz eines eventuellen medialen Erfolges - strategisch denkbar ungeeignet.

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Obwohl an diesem Abend aktuelle Debatten über Militanz keine Rolle spielten, waren die auf Betriebskämpfe bezogenen grundsätzlichen Hinweise freilich auch für die Tagespolitik hoch brisant. Hatten doch Kraushaar und Co. wenige Tage zuvor den Terrorismus-Dreckkübel über Christian Klar ausgeschüttet, der nichts weiter getan hatte, als mit einer Grußadresse für die Aktualität des Godesberger Programms zu werben, welches seinen geistiger Ziehvater, IM-Pfarrer Fink von der PDS/WASG, auch gerade erleuchtet.

Aufgegeilt an der Militanz der RAF, hatte es jene Journaille bisher einfach leicht, Baader mit seiner selbst ernannten Avantgarde aus dem Mittelstand eine Radikalität anzudichten, die jene RAF nie besessen hat. Sie war schlechterdings ein Projekt zur Selbstverwirklichung des Faustischen kombiniert mit einer mechanistischen Milieutheorie und garniert mit einem spritzigen Schuss Antiimperialismus: Kurzum 90 Prozent Militanz und 10 Prozent politischer Reformismus. Von Kommunismus - von Radikalität keine Spur. Bereits 1974 ergriff die undogmatische Linke ein diesbezügliches Unbehagen: "Wenn die RAF nach rechts driftet, dann deshalb, weil sie mit gewaltigem Kraftaufwand von Rechten reproduziert wurde."

Doch die permanent entgegen besseren Wissens praktizierte Verwechselung von Militanz und Radikalität auf Seiten der mit staatsbürgerkundlicher Unterweisung befassten Ex-68er (Kraushaar, Koenen) macht Sinn. Ihr Ziele, Delegitimierung von sozialem Widerstand und Hetze gegen den Kommunismus, lassen sich mit Hilfe dieser Verdrehung leichter bewerkstelligen, wirken plausibler. Dazu bedarf es einer selektiven Wahrnehmung von geschichtlich-gesellschaftlichen Prozessen, also der Geschichtsklitterung, was am besten dadurch zu leisten ist, indem bestimmte Sachverhalte oder Inhaltliche Positionen ungenannt bleiben bzw. vergessen werden.

Diesen Klitterungen (ein wenig) entgegen zu wirken, wann immer es nötig scheint, ist Teil unseres Verständnisses von linker Gegenöffentlichkeit im Internet. Daher setzen wir unsere Rubrik Stichwort RAF mit entsprechenden Texten fort. Gerade das Statement "Kritik am Terror muß klarer werden" von Rudi Dutschke ist ein Schlag ins Kontor der Legendenbildner vom "Politbüro des Hamburger Instituts" (JS, a&k) , die nicht Ruhe geben, zu behaupten, dass Rudi der geistige Ziehvater der RAF gewesen sei.

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Dass wir TRENDies uns erkenntnistheoretisch vom dialektischen und historischen Materialismus leiten lassen, ist ja kein Geheimnis. Doch es ist für uns nicht immer einfach, Artikel zu finden, die unserem Anspruch an die Durchdringung der Wirklichkeit entsprechen. Daher waren wir sehr erfreut, endlich einmal Artikel zum Komplex "Nahost" zu finden, die versuchen, die dortige Situation vom Klassenstandpunkt aus zu analysieren. Zum einen handelt es sich um einen Bericht vom Generalstreik in Israel "Starke ArbeiterInnenklasse in Israel", zum andern um einen Überblick über die Klassenkämpfe in den arabischen Staaten. Beide Texte stammen vom "Funken", einer marxistischen Strömung aus Österreich.

Genauso bedeutsam sind Bernard Schmids Berichte aus Frankreich, wovon wir einen als Aufmacher genommen haben, weil sein Bericht ungeschminkt zeigt, was das für eine bullenterrorisierte Zivilgesellschaft ist, die der Welt zum Vorbild gereichen und an der sie genesen soll - spätestens seit 9/11. Daher kann die Antwort auf die Frage: Radikal oder militant? nur lauten: Radikal und militant.