Vorwärts Du junge Garde...
Gedanken über die aktuelle Debatte ums Prekariat

Susanne Lang und Florian Schneider in Arranca!-Ausgabe 31

04/06

trend
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Sie waren Ich-AGs schon lange bevor es dieses Wort gab. Sie werden niemals eine feste Anstellung erhalten, obwohl sie sich vor Arbeit kaum retten können. Sie tanzen auf mehreren Hochzeiten, arbeiten gleichzeitig an verschiedenen Baustellen und hangeln sich von Projekt zu Projekt.

Die schönen Scheinselbständigen sind ohne Zweifel die wichtigste Ressource des postmodernen Kulturbetriebs. Sie suchen nicht sich selbst, sondern ein Leben voller Widersprüche, schnellen Wechsel und systematischer Überforderung. Dabei können sich die Kinder der Baby-Boomer alles vorstellen - nur eines nicht: Jeden Tag die gleiche Arbeit machen.

Jahrelang waren Freelancer, Kleinst-Unternehmer, Netzwerker, Quereinsteiger, Freiberufler und Freischaffende begehrt als Multitalente, deren Flexibilität, Einsatzbereitschaft und Cross-Kompetenzen gar nicht hoch genug gelobt werden konnten.

Doch vor dem Hintergrund der Krise in der Medienbranche, des Zusammenbruchs der New Economy, der Umstrukturierung des Bildungssektors und der eskalierenden Geldnot der öffentlichen Hand steht die Generation der heute 25- bis 40-jährigen auf einmal vor schier nicht zu bewältigenden Herausforderungen.

Die fetten Jahre sind vorbei: Wovon sollen die Heerscharen von Journalisten, Fotografen, Designern, Werbetextern, Schauspielern, bildenden Künstlern, Musikern, Filmemachern heute eigentlich leben? Es geht nicht um die Rente, sondern darum, wie die Miete für den laufenden Monat bezahlt werden soll, wie der Gerichtsvollzieher in letzter Sekunde abgewendet und wie die Kreditkarten weiter überzogen werden können.

Entsteht erstmals ein intellektuelles Proletariat, wie es FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher mit düsterer Miene prophezeit? Oder sind freischaffende, immaterielle Arbeiter die Speerspitze eines "Prekariats", dessen unabwendbarer Aufstand den Spätkapitalismus endgültig überwinden wird?

Mitte Oktober trafen sich im Windschatten des dritten Europäischen Sozialforums in London Initiativen aus ganz Europa, um unterschiedliche Konzepte und Handlungsansätze in Sachen Prekarisierung zu diskutieren.

In der Kapelle der Middlesex University versammelte sich fast alles, was in der noch jungen Debatte Rang und Namen hatte: Darunter Vertreter der "Intermittents" aus Frankreich, die seit geraumer Zeit gegen die Streichung von Sozialleistungen für vorübergehend Beschäftigte im Kulturbetrieb und für ein garantiertes Grundeinkommen kämpfen, aber auch die Begründer des EuroMayday aus Mailand, wo es in den letzten drei Jahren gelang, den 1. Mai aus den Klauen des Gewerkschaftsapparates zu befreien und zu einem Feiertag zu Ehren der prekär Beschäftigten zu stilisieren.

Die Diskussion förderte vor allem eines zu Tage: Hinter dem Modewort "Prekarisierung" verbirgt sich eine ungeheure Vielzahl von Unsicherheiten und Ungewissheiten, was die rapide um sich greifenden Formen von Überausbeutung anbelangt. Phänomene der Prekarisierung schlagen einen Bogen von freischaffenden Künstlern und Kulturarbeitern über Jobber, Zeitarbeiter, vorübergehend und deswegen weitgehend rechtlose Beschäftigte, bis hin zur illegalisierten migrantischen Arbeitskraft.

Ebenso verschieden sind auch die Konzepte von Prekarität, die momentan verhandelt werden: Allem Anschein nach geht es zunächst um die existenzielle Unsicherheit der Arbeiter in den Affektindustrien, in denen Unterhaltung und Wohlbefinden Gegenstand einer entfesselten immateriellen Produktion ist, die sich nicht mehr in den Kategorien herkömmlicher Entlohnung fassen lässt.

Zunehmend basiert die geleistete Arbeit auf sozialen Beziehungen, Kollaborationen, subjektiven Erfahrungen und spontanem Lernen, die sich nicht mehr in fixen Stundensätzen ausdrücken und untereinander verrechnen lassen. Der Lohn ist von der Arbeitsleistung entkoppelt und dementsprechend despotisch. Das Drama der Prekarität besteht darin, eben nichts gemeinsam zu haben: Keine gemeinsame Arbeitszeit, keinen Ort, an dem gemeinsam gearbeitet wird und keine Handlung, die gemeinsam verrichtet werden würde.

Gleichzeitig greift Prekarisierung auch auf traditionelle Industrien über, die einst als Bastionen der organisierten Arbeiterklasse galten und heute zusehends von einer Flexibilisierung der Produktion gekennzeichnet sind: Just-In-Time-Produktion, Outsourcing, Subcontracting und Zeitarbeit brechen lange und erbittert erkämpfte Standards und Statuten, die den Arbeitern einst eine einigermaßen gesicherte Existenz garantieren sollten. Resultat ist in der Regel eine zersplitterte, rechtlose und beliebig erpressbare Belegschaft, die sich allenfalls der eigenen Schwäche bewusst ist.

Daran anknüpfend etabliert sich in den aktuellen politischen Debatten gerade ein Begriff von Prekarisierung, der Leid und Elend der Prekarisierten in den Vordergrund stellt: Prekär ist, wer selbst um einen viel zu geringen Lohn noch betteln muss.

Die Allegorie des "Prekariats" als direkter Nachfolgeorganisation des Proletariats scheint derzeit auf orientierungslose Linksradikale eine nicht zu unterschätzende Anziehungskraft auszuüben. Als ginge es darum, die verloren gegangene Einheit aller über Gebühr Ausgebeuteten wiederherzustellen und dabei auch endlich selbst wieder einmal Opfer zu sein, wird, was nicht passt, passend gemacht: von Brainworkers bis Chainworkers, von Putzleuten bis Projektlinken.

Unterschlagen werden dabei gerne auch einmal all jene Besonderheiten, die etwa die aktuelle Situation prekär Beschäftigter von früheren Formen schrankenloser Ausbeutung wie beispielsweise in Nordeuropa im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts unterscheiden. Verkannt wird wie so oft, was das wesentliche Merkmal der Multitude ausmacht: Die prinzipiell unvergleichbare Vielheit der verschiedensten produktiven Praktiken, deren Ergebnisse sich nicht mehr messen und in warenförmige Beziehungen zueinander setzen lassen.

Despotie und Willkür, Prekarisierung und Flexibilisierung sind so gesehen nicht nur die ebenso vielfältigen wie verzweifelnden Antworten des Kapitals auf die Verweigerung von Arbeitszwang und Arbeitstag durch Generationen von Massenarbeitern oder die Aneignung zumindest eines Teiles des Extraprofits aus dem internationalen Ausbeutungsgefälle durch Arbeits- und PendelmigrantInnen.

Was auch immer das Prekariat ausmachen mag, es verweist vielmehr auf die Möglichkeit, die lebendige Arbeit aus dem Herrschaftsverhältnis des Kapitals zu befreien. Dies geht weit über die kursierenden halbherzigen oder sozialdemokratischen Vermittlungsversuche von "Flexicurity" hinaus, die statt traditioneller Statussicherung, die Absicherung von Übergängen postuliert.

Schließlich soll es ja genau nicht darum gehen, milde Gaben, ein paar Almosen oder gar ein Zurück zum alten Wohlfahrtsstaat zu erbetteln, sondern darum, den neuen Arten zu produzieren und zu kommunizieren angemessene Formen der Selbstorganisierung zu erfinden und zu entwickeln. Herkömmliche Organisierungskonzepte, die auf einer wie auch immer gearteten Einheit basieren oder diese über die Hintertüre wiedereinzuführen versuchen, müssen dabei notwendigerweise fehlschlagen.

Denn wenn es schon keine gemeinsame Ausgangslage gibt, dann ist es allemal viel versprechender, die Perspektive der Organisierung nicht in der allgemeinen Misere, sondern bei den zu verallgemeinernden immateriellen Produktionsmitteln zu suchen: Bewegungsfreiheit und Kommunikationsfreiheit müssen die Grundlagen eines im besten Sinne des Wortes prekären Programms darstellen, das nicht für weniger Flexibilität, sondern für mehr Freiheit, das nicht um etwas mehr Sicherheit, sondern um Autonomie kämpft.

Editorische Anmerkungen

Den Artikel spiegelten wir bei
http://arranca.nadir.org/arranca/article.do?id=306

Der Text dient zur Vorbereitung der
TREND-Nachtgespräche


Prekäre Zeiten


am 24.4.2006 im Berliner BAIZ

arranca! ist die Zeitschrift der Gruppe FelS - Für eine linke Strömung
arranca! c/o Schwarze Risse, Gneisenaustraße 2a, 10961 Berlin