Prekäre Zeiten in der Linken
Einige Anmerkungen zur Debatte um Prekarisierung

von J.D. Tussle / Lieselotte Hubbub (Berlin)

04/06

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"Die prekären Verhältnisse zum Tanzen bringen!", "Prekarisierung kippen!" oder auch "Wischmop, Laptop neu vernetzt, dem Pre-ka-ri-at reicht es jetzt!". So oder so ähnlich könnten Flugblatt-, Transpi- und Demosprüche in nächster Zeit wohl lauten. Nachdem die radikale Linke in der BRD seit ca. 2 Jahren die Frage nach sozialem Widerstand umtreibt, immerhin nach fast 20-jähriger Pause, will sie sie nicht mehr loslassen: Sozialforen und Großdemos gegen Sozialabbau, Aneignungsdebatte und Umsonst-Kampagnen, Anti-Hartz-Proteste, die Aktion Agenturschluss oder auch militante Aktionen gegen Arbeitsämter sind Beispiele für eine experimentelle Annäherung an mögliche Antworten. Mehr und mehr werden auch (wieder) die Arbeitsverhältnisse selbst in den Blick genommen, mit dem Fokus auf ihre Prekarisierung. Im letzten Jahr gab es dazu Broschüren und Schwerpunkte in verschiedenen linken Zeitschriften (arranca 31, Fantômas 6, analyse&kritik), Prekarisierung ist zudem Thema des euromayday, und auch auf dem diesjährigen BUKO vom 5. bis 8.5. in Hamburg wird dazu debattiert.

Wie kommt es, dass radikale Linke um den Begriff Prekarisierung kreiseln und sich neuerdings sogar - zumindest teilweise - unter diesem Schlagwort organisieren wollen? Ein Punkt, der als Begründung für die große Popularität der Thematik angeführt wird, ist die eigene Betroffenheit. Wir alle seien prekär Beschäftigte und werden es immer mehr. Das ist zum einen so, weil es keine anderen Jobs mehr gibt, aber auch, so die These, weil wir es gar nicht anders woll(t)en. Ja, wir Linke seien sogar diejenigen, die mit ihrem Wunsch, aussteigen zu wollen aus Arbeitszwang, Leistungsdruck und spießbürgerlicher Normalität, die Prekarisierung in ihrem aktuellen Ausmaß erst möglich gemacht habe. Beides, die eigene Betroffenheit als Ausgangspunkt für eine Organisierung als Prekarisierte und die These von der Prekarisierung von unten, wollen wir kritisch beleuchten. Außerdem ist es unserer Ansicht nach wichtig, antifeministischen Roll-back, Standortnationalismus und Rechtspopulismus als "Nebenwirkungen“ von Prekarisierung mit in die Debatte einzubeziehen (wie es bisher unserer Einschätzung nach nur die Gruppe Blauer Montag in ak485 und kürzlich Dirk Hauer als Einzelperson in ak494 getan haben). Am Ende findet ihr dann (vielleicht etwas überraschend) eine Begründung, warum wir es trotz aller Kritik richtig und wichtig finden, sich gegen und entlang von Prekarisierung gemeinsam zu organisieren. Also los...

wir sind sehr betroffen

Sowohl in der Fantômas Nr. 6 ("Prekäre Zeiten" - Winter 04/05) als auch in der arranca 31 ("age of precarius" - Frühling 05) berichten auf die eine oder andere Art "Prekarisierte" über ihren subjektiven Umgang mit entgrenzter Arbeitszeit, schlechter Bezahlung, Konkurrenz etc. Beide Hefte legen einen Schwerpunkt auf diese Berichte, was den Eindruck erweckt, diese subjektive, durchaus unterschiedlich beschriebene Betroffenheit sei in der radikalen Linken momentan der Ausgangspunkt des politischen Kampfes gegen scheiß Arbeitsverhältnisse.

Wir bezweifeln nicht, dass die Tatsache, dass uns prekäre Arbeitsverhältnisse als Linke auch betreffen, auch relevant war und ist für die Motivation, sich wieder mehr der sozialen Fragen zuzuwenden. Wir sind allerdings der Meinung, dass weniger die eigene Betroffenheit, als vielmehr politische Debatten an Unis und in Gewerkschaften sowie besonders vereinzelte Erfolge von Initiativen, in denen sich gesellschaftlich marginalisierte Gruppen oder prekäre Beschäftigte zusammengeschlossen hatten, Teile der Linken dazu brachte, zum Thema Prekarisierung aktiv zu werden. Gemeint sind Erfolge bzw. Kämpfe von Gruppen in Frankreich (Sans Papier, Intermittents, Arbeitsloseninitiativen) und Spanien (Prekarias a la deriva). Dem Bezug auf die Kampagnen und Kämpfe folgte die Übernahme des sie prägenden Mottos, das der gemeinsamen Organisierung zum Erfolg half: Prekarisierung. Kurz: Der Aktivismus auf diesem Feld ist eher einem strategischen Interesse geschuldet, so unsere These. Explizit formuliert dies z.B. Gregor Zattler in arranca 31. Hinzu kam, dass mit der aktuellen Arbeits- und Sozialpolitik der rot-grünen Bundesregierung, die Verschlechterung von Arbeits- und Lebensverhältnissen auch hierzulande stärker Thema wurden und die Linke (sinnvollerweise) nach neuen Widerstandsperspektiven suchte.

Die größere Bedeutung der politischen Konjunkturen im Vergleich zur eigenen Betroffenheit für die Themenwahl „Prekarisierung“ zeigt sich unserer Ansicht nach auch daran, dass letzterer immer noch individuell begegnet wird, mit sehr wenigen Ausnahmen. Der Widerspruch, auf der einen Seiten um die Abschaffung des Kapitalismus zu ringen, sich auf der anderen Seite letztlich aber auf individuelle Taktiken (und Qualifikationen) zu verlassen, ist nicht neu. Aber: Individuelles Rumwurschteln und das Konkurrieren um Jobs auch innerhalb der Linken haben tendenziell eher zugenommen - wir sehen das als einen deutlichen Unterschied zu den 80er Jahren -, eine gemeinsame Organisierung bleibt vielfach aus. Erklärbar wird dies unserer Meinung nach dadurch, dass es bei JobberInnen- und Erwerbslosenberatung heute nicht mehr darum geht, sich über offene Jobs gegenseitig zu informieren oder über Rechte aufzuklären. Es gibt schlichtweg kaum (bzw. keine) Jobs, und alle - auch radikale Linke - konkurrieren verschärft untereinander um die, die es gibt - wir verweisen hier nur auf Phänomene wie die Homepage www.jobdumping.de.1 Zudem gibt es mittlerweile weniger Rechte und Taktiken, die allen Arbeitslosen- und Sozialhilfe garantieren und die ich nur kennen muss, um Geld in Anspruch nehmen zu können (hierauf verweist auch die Gruppe Blauer Montag in ak485). Durch die stärkere Betonung der Einzelfallbehandlung in den „Arbeitsagenturen“ mit Hartz-IV hat der Handlungspielraum (und damit die Willkür) der einzelnen SachbearbeiterInnen (jetzt: „Fallmanager“) deutlich zugenommen.

Der Versuch, sich entlang dem Schlagwort „Prekarisierung“ zu organisieren, ist also nicht so sehr als (kollektive) Reaktion auf die eigene Betroffenheit zu interpretieren. Vielmehr dient er dem Ziel, das eigene Bündnis und damit möglichen Widerstand zu verbreitern. Dies zeigt sich am deutlichsten dann, wenn bewusst mit einem extrem breiten Begriff von Prekarisierung gearbeitet wird. Ein Beispiel ist die erwähnte Mobilisierung zur euromayday-Parade in Hamburg am 1. Mai. Im Aufruf heißt es: "Ob hoch oder niedrig qualifiziert, Ausbildungen oder keine, wir arbeiten in X Jobs. Mobilität und Zeitmanagement sind unser Kapital. Produktionsmittel? Kein Problem - vom Wischmop bis zum PC. Wir sprechen deutsch, türkisch, spanisch, polnisch und was so kommt. Viele haben einen unsicheren Aufenthaltsstatus. Ungewissheit dominiert den flexiblen Alltag von LagerarbeiterInnen, Servicekräften, IT-ExpertInnen, Alleinerziehenden, SexarbeiterInnen, Ich-AGs und StudentInnen." Wischmop (7,- €) und Laptop (1299,- €), deutscher Paß ja oder nein - alles eine Soße? Der Aufruf betont vermeintliche Gemeinsamkeiten in den Erfahrungen, um darüber eine Basis der politischen Organisierung zu schaffen. Leben wir nicht alle ein bißchen prekär? Die Differenzen scheinen zum Zweck des Bündnisses zurückgestellt. Herrschaftsverhältnisse und Hierarchien werden zwar erwähnt, allerdings nur in sehr vager Art und Weise: die globale, prekarisierte Multitude wird sie schon irgendwie abschaffen.

Etwas differenzierter geht es in der arranca zu ("Prekär und permanent aktiv" - arranca 31, S. 8). Die Redaktion trennt in "unterprivilegierte Prekarisierte" und "Luxusprekarisierte". Die beiden Gruppen verbinden, so auch hier das Argument, subjektive Erfahrungen von Individualisierung, Stress, Unsicherheit etc. Der erweiterte Begriff von Prekarisierung soll, so unser Eindruck, die Marginalität der eigenen Strukturen aufbrechen. Wir verstehen durchaus den Wunsch, eine politische Organisierung so zu gestalten, dass hier viele verschiedene Kämpfe zusammengeführt werden können. Auch wenn real empfundener Stress und Konkurrenzdruck bei „Hochqualifizierten“ und „SpitzenverdienerInnen“, "Existenzangst“, "Ohnmachtsgefühl“ etc. durchaus Anknüpfungspunkt für eine gemeinsame Organisierung bieten könnten, müssen diese hierfür aber nicht in die Gruppe der Prekarisierten addiert werden. Es macht einen Unterschied, ob und wie ich real von der Prekarisierung meiner Lebensverhältnisse betroffen bin, oder ob nur die eigene Betroffenheit droht. Wir denken, dass es nicht die Lösung sein kann, die unterschiedlichsten Lebensverhältnisse und verschiedene gesellschaftliche Positionen künstlich unter einem Konstrukt zu vereinen. Zu stark fühlen wir uns an die Fehler der Frauenbewegung erinnert. Der scheinbare Vorteil eines erweiterten Prekarisierungsbegriffs, Politik aus der ersten Person zu machen, selbst Betroffen zu sein und als Student mit einer auf sechs Monate befristeten Studistelle in einem Drittmittelprojekt scheinbar vereint mit der illegalisierten Hausarbeiterin ohne jeden Arbeitsvertrag kämpfen zu können, birgt die Gefahr, dass Unterschiede verwischen. Dies macht das angestrebte Bündnis selbst prekär. Dirk Hauer, der dies für die Differenzen zwischen Metropolen und Peripherie in Anschlag bringt, berichtet von den Problemen, die eine solche undifferenzierte Vereinheitlichung konkret in Bezug auf Organisierung gegen Prekarisierungstendenzen produziert (ak494).

Die Positionen und Mittel des Kampfes sind nicht gleich und es sind nicht alle gleich Betroffen. Sicherlich, wachsender Konkurrenzdruck, Unsicherheit und Lohndumping sind Erfahrungen, die immer mehr Menschen machen, so dass es durchaus verallgemeinerbare Aspekte gibt, gegen die es gemeinsame Strategien geben könnte. Wichtig ist dabei aber eben, sich den Spagat zwischen der Unterschiedlichkeit in den eigenen Erfahrungen und dem Wunsch auf einen breiten gemeinsamen Widerstand nicht allzu simpel durch eine Ausweitung des Prekarisierungs-Begriffs zu erleichtern. Dirk Hauer meint sogar, dass „der Prekarisierungbegriff an seine Grenzen gestoßen ist“ ( ak494). Soweit wollen wir nicht gehen. Nur: Es ist wichtig, die Bedeutung materieller Existenzsicherung und ihrer Unterschreitung als zentralen Aspekt von Prekarisierungsprozessen zu betonen. Der Manager mit einem Halbjahresvertrag ist nicht prekär beschäftigt, die Aushilfe mit einer festen Stelle, die aber bei 40h die Woche weniger als der Sozialhilfesatz verdient, ist es unserer Meinung nach schon. Wir finden Wortschöpfungen wie etwa "Luxusprekarisierte" oder auch "privilegierte Prekarisierte" (Fantômas 6, S. 56ff.) deshalb aus der Perspektive des politischen Kampfes nicht sonderlich glorreich. Dies, und nicht der im Prekarisierungsbegriff enthaltene Bezug auf das Normalarbeitsverhältnis als Norm (wie Dirk Hauer in ak494 meint), ist der identitäre Fallstrick in der Prekarisierungsdebatte. Es gibt kein Prekariat, wir müssen Hierarchien im Blick behalten, um uns gegen Prekarisierungstendenzen gemeinsam wehren zu können.


die radikale linke als avantgarde der prekarisierung

"Die ersten großen Wellen von prekären, flexiblen Jobs boten Alternativen und Freiräume zu den vorherrschenden normalen Arbeitsverhältnissen." (Aufruf euromayday Hamburg) Nicht nur hier entsteht der Eindruck, die Linke hätte stets für Prekarisierung gekämpft. Die Formulierung "Prekarisierung von unten" findet sich in vielen linksradikalen Debattenbeiträgen (vgl. Gruppe Blauer Montag in ak485, Redaktion arranca 31, S. 8, Dirk Hauer in ak494). Die These von der Linken (oder auch von Frauen/der Frauenbewegung) als Vorreiterin für die Entwicklung prekärer Beschäftigungsverhältnisse ist der beschriebenen Relativierung der Bedeutung materieller Standards geschuldet, denken wir. Nicht die Zahl derjenigen, die sich durch Sozialhilfe oder Finanz-Koops oder Jobberinnendasein aus dem allgemeinen Arbeitszwang ausklinken wollten, haben zur Durchsetzung prekärer Beschäftigungsverhältnisse geführt. Vielmehr waren für das Ausbrechen aus der spießbürgerlichen Normalität und die Verweigerung des Arbeitszwangs die Formen sozialstaatlicher Absicherung durch Arbeitslosen- und Sozialhilfe eine wichtige Voraussetzung.

Ein Beispiel: Aus der Perspektive, im Zweifel auf Sozialhilfe zurückgreifen zu können, war eine JobberInnen-Existenz in den 80er Jahren einigermaßen locker aushaltbar. Ab und zu einige Monate in der Fabrik jobben, den Sommer über nach Spanien trampen, danach wieder ein wenig jobben. Eine solche Situation als prekär zu bezeichnen, weil die Standards des Normalarbeitsverhältnisses für JobberInnen eben nicht galten, mag eine einfach nachvollziehbare Kategorisierung sein. Wir denken aber, dass das zu kurz gegriffen ist. Erst durch die erhöhte Konkurrenz um die Jobs und das Wegfallen sozialer Absicherung ist die Jobberinnen-Existenz prekär geworden. Mit dieser Entwicklung geht außerdem eine massive Erhöhung des Arbeitszwangs einher, wie Hartz IV deutlich zeigt.

Auch waren es nicht in erster Linie die Kämpfe gegen die patriarchale Kleinfamilie, die die prekäre Existenz von Frauen als Scheinselbständige oder Arbeitskraftunternehmerin ermöglicht haben. Dem einzelnen Kapital war Geschlecht und Nationalität immer schon egal, hier zählte und zählt die Mehrwertrate, die durch die Ausbeutung erzielt wird. Das Frauenerwerbsarbeit sich v.a. in prekären Beschäftigungsformen niederschlug, hat mehr mit der Schwäche, als mit der Stärker der Frauenbewegung zu tun. Der Vorteil, den schlecht bezahlten Halbtagsjobs mit der Kindererziehung vereinbaren zu können, ist nur einer aufgrund mangelnder Alternativen. Mehr noch: Die Wahl der Vereinbarkeit von Beruf und Familie war und ist für Frauen oft nicht ganz so freiwillig, wie es uns ideologische Verklärungen weiß machen wollen. Das zeigt allein schon die schlechtere finanzielle Situation von Alleinerziehenden sehr deutlich.

Momentan deutet sich außerdem durch Neuregelungen auf gesetzlicher Seite, d.h. durch die Anrechnung des Einkommens des Lebenspartners auf Sozialhilfe und ALG II, ein zwangsweiser Rückfall in die Kleinfamilie an. Anders als in einer (Zwangs)Einkommensgemeinschaft wie der Ehe, sind Projekte wie Ich-AGs auch gar nicht profitabel durchführbar. Der erweiterte Zugriff auf die Abeitskraft hat hier eine neue (alte) Basis. Ohne die kostenlose Reproduktionskraft Zuhause kann niemand 60h die Woche schuften. Auch wenn diese nicht mehr die Frau sein muss, so ist dies doch mehrheitlich nach wie vor der Fall.

In der These der Linken als Avantgarde der Prekarisierung werden die Normativität der bürgerlichen Existenz (Normalarbeitsverhältnis und Normalbiografie), die aufzubrechen Ziel linker Lebenskonzepte war und ist, mit der Verschlechterung von Arbeits- und Lebensverhältnissen verwechselt. Letztere wurde und wird nicht freiwillig, sondern zwangsweise von vielen Linken in Kauf genommen, um dem "normalen Leben" zu entkommen. Auch die „Flucht aus und vor den Zwängen des Betriebs- und Büroalltags oder den Verfolgungen durch Arbeits- und Sozialämter“ wie Dirk Hauer die „Prekarisierung von unten“ fasst (ak494), ist wohl kaum freiwillig. Sie konnte als solche (ja sogar als widerständig) erscheinen, solange neben einer relativen sozialen Absicherung auch die Linke so stark war, dass sie jede Frage nach der Zukunft (und damit auch nach Rente, Gesundheitsversorgung und Pflege im Alter) selbstbewusst mit einem optimistischen Verweis auf die Revolution - nach der alles anders ist - beantworteten konnte. Aber: Prekarisierung ist nicht Effekt des Ausbruchs aus der bürgerlichen Norm, sondern trägt vielmehr dazu bei, bereits brüchig gewordene Normen wieder fest zu zementieren, die entstandenen Risse zu kitten – sei es in Bezug auf Arbeitszwang, Leistungsdruck oder patriarchale Kleinfamilie. Wir sind der Meinung, dass Prekarisierung Ausdruck des verschärften Klassenkampfs von oben ist, und keine Tendenz von unten.

Verständlich ist, und daraus resultiert vermutlich die Perspektive auf Prekarisierung als Chance, dass man nicht zurück will zum autoritären Wohlfahrtsstaat mit seinen normativen Lebenskonzepten. Der war und ist nicht Ziel linksradikaler Politik. Aber einfach aus dem Nicht-Zurück-Wollen zu machen, es biete sich durch das Neue eine Chance, ist recht zynisch angesichts der Ausbreitung und Verschärfung von Armut und dem normativen Roll-back in Familienpolitik und Arbeitszwang. Uns wird gerade unsere oder Teile unserer Basis für eine wirksame Opposition gegen das neoliberale Regime genommen. Daran ist nichts positiv. Und es ist nicht rückständig, soziale Sicherung zu fordern, bzw. dem Abbau sozialer Sicherungssysteme massiv entgegenzutreten. Denn was wäre gerade sonst die materielle Grundlage für den Aufbau einer neuen Utopie? Das Cafe Morgenrot wohl kaum (so sehr wir deren/euren Milchkaffee schätzen).


prekäre zeiten für die linke

Wir sind an manchen Stellen ziemlich verwundert über den Optimismus, der der Organisierung am Thema Prekarisierung offenbar automatisch anhaftet. Ein Hinweis wie der von der Gruppe Blauer Montag, es sei prinzipiell offen, ob Prekarisierung zu kollektiven emanzipatorischen Kämpfen oder zu herrschaftsförmigen Abwehrmechanismen führe, ist in der Debatte die klare Ausnahme (vgl. Gruppe Blauer Montag, ak485). Konkurrenzdruck legt, zumal in Deutschland, Standortnationalismus und Rassismus nahe, Leistungsdruck ist anknüpfungsfähig an faschistische Denkformen in Richtung Sozialdarwinismus, das Primat der ökonomischen Effizienz ebenfalls. Diese Anknüpfungspunkte finden sich nicht nur bei der Gruppe der Prekarisierten, sondern insbesondere bei den noch nicht Prekarisierten, die potenziell betroffen sind. Rechte Kritik an "Globalisierung" hat hier eine Basis – Phänomene wie die Nazis auf den Anti-Hartz-Demos und die Wahlerfolge von DVU und NPD sind nicht zufällig. Außerdem gibt es Überschneidungen zur (neuen) Mitte und deren Standortnationalismus, der Effekt und Begründung weiterer Prekarisierung ist. Dies ist wichtig im Blick zu behalten, da anders die stillschweigende Resignation von vielen gegenüber der Verschlechterung ihrer eigenen Lebensverhältnisse in ihrer Funktion zur Stabilisierung des Neoliberalismus bzw. der gesamtgesellschaftlichen Durchkapitalisierung schnell unterschätzt wird. Für den Aufbau von Strukturen, die hiergegen Widerstand leisten wollen, gilt es, auch diese Säule ins wanken zu bringen. Existenzangst schürt Konformismus, Widerstand bedarf einer materiellen und einer sozialen Basis - und beide sind für die Linke momentan prekär.

Wir sind momentan in einer Situation der Prekarisierung unserer Utopien. Die Nischen, in denen wir hier in den Metropolen zumindest von einer besseren Welt träumen konnten, werden mehr und mehr dichtgemacht. Die Marginalisierung der Linken scheint auch nicht wirklich überwunden. Auch gegen die müssen wir kämpfen, und dabei sehen wir keinen anderen Weg als uns in die gegenwärtigen Kämpfe um Lebens- und Arbeitsverhältnisse offensiv einzumischen. Der vor allem von der Gruppe FelS stark gemachte Begriff der "experimentellen Praxis" trifft die Situation diesbezüglich erstmal sehr gut. Lasst uns konkret praktisch ausprobieren, wie wir das Fehlen der Utopien schnellstens überwinden und den Kapitalismus selbst prekär machen – im Sinne von seine Existenzsicherung angreifen. Das wirkt ein wenig wie eine hohle Phrase, nicht wahr? Es nicht bei Phrasen (und Appellen) zu belassen, wäre ein Anfang. Hierfür müssten wir die radikale Linke allerdings als sozialen Akteur begreifen, und eben nicht als NGO für die angeblich Stimmlosen - darin stimmen wir der arranca-Redaktion vollkommen zu.

Sich mit Bezug auf die Prekarisierungstendenzen zu organisieren, finden wir nur dann sinnvoll, wenn dies eng gekoppelt ist an die Frage des realen Einkommens. Wir bestreiten nicht das strategische Potenzial des Begriffs, welches sich daraus ergibt, dass Arbeitslose, Ausgeschlossene, und "Überflüssige" unterschiedlicher Berufe zusammen kämpfen (könnten). Auch bestreiten wir nicht die Tatsache, dass noch nicht von Prekarisierung betroffene Lohnarbeiterinnen durch diese auch unter Druck gesetzt werden, z.B. durch die Konfrontation mit LeiharbeiterInnen, also konkret durch Konkurrenzdruck, durch Erhöhung der Arbeitsintesität, durch die Verinnerlichung von Marktkriterien und -orientierungen. Daraus ergeben sich auch dann Möglichkeiten für den politischen Kampf, wenn mensch diese Gruppe nicht der Übersichtlichkeit halber in den Wortcontainer "Prekarisierte" steckt. Warum "Prekarisierte" als neue Identität schaffen, statt sich einfach gegen die Prozesse der Prekarisierung zu wehren? In diesem Sinne: Für ein besseres Leben für alle, für die Prekarisierung des Kapitals. Sofort!

 

Editorische Anmerkungen

Den Artikel spiegelten wir bei
http://www.nadir.org/nadir/kampagnen/euromayday-hh/de/2005/05/253.shtml

Der Text dient zur Vorbereitung der
TREND-Nachtgespräche


Prekäre Zeiten


am 24.4.2006 im Berliner BAIZ