Anmerkungen zur Prekarität
Referat für die attac-Konferenz „Arbeit und Globalisierung" vom 19.2.2005 in Bochum Langendreer

von Dirk Hauer, Gruppe Blauer Montag, Hamburg
04/06

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Die vorangegangenen Impulse haben einen schönen Überblick gegeben über das, was heute Arbeitsrealität in den unterschiedlichsten Bereichen heißt. Ich brauche dem nichts hinzuzufügen, und werde mich deshalb ein bisschen auf den roten Faden zwischen den „Freien“ in den Medienberufen, den VerkäuferInnen bei Lidl oder den WanderarbeiterInnen auf den Baustellen konzentrieren. Dieser rote Faden heißt Prekarität, und dazu werde ich im Folgenden vier Thesen zur Diskussion stellen.

1.

Die Debatte um prekäre Beschäftigungsverhältnisse ist nicht neu. Als sie Anfang der 1990er Jahre das erste Mal aufkam, war sie von Gegenüberstellungen geprägt: reguliert – dereguliert, gesichert – ungesichert, tarifiert – tariflos, garantiert – entgarantiert. Meine erste These, die ich hier zur Diskussion stellen möchte lautet, dass solche Gegenüberstellungen damals wie heute analytisch und politisch irreführend sind. Es ist vielleicht eine Binsenweisheit, aber in kapitalistischen Gesellschaften hat es niemals so etwas wie Garantien für Arbeit und Existenzsicherung gegeben. Die Existenz- und Reproduktionsbedingungen von Menschen, Familien und Haushalten, die darauf angewiesen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, waren und sind prinzipiell entgarantiert. Das ist das einzige, was unter den Bedingungen von Marktlogik und Kapitalverwertung sicher gewesen ist und bis heute sicher ist.

Das so genannte fordistische Normalarbeitsverhältnis war in historischer und globaler Perspektive stets eine Ausnahmeerscheinung. Es war auf die Länder des Nordens begrenzt und dort auch nur auf einen beschränkten historischen Zeitraum. Aber selbst in den „goldenen Zeiten“ des Fordismus war diese Normalarbeitsverhältnis auch in den kapitalistischen Metropolen keineswegs allgemeingültig. Für Frauen war Erwerbsarbeit überhaupt nicht vorgesehen, und dort, wo sie in die Lohnarbeit eingebunden waren, haben sie in aller Regel „nur dazu verdient“. D.h. Frauen haben schon immer in Leichtlohngruppen und in prekären Beschäftigungsverhältnissen gearbeitet. Gleiches galt und gilt für ArbeitsmigrantInnen, für Wander- und SaisonarbeiterInnen, für Flüchtlinge. Aus der Perspektive des Südens, aus der Perspektive von Frauen und MigrantInnen und in zeitlichen Dimensionen, die nicht etwa auf die 1960er Jahre fixiert sind, war und ist der eine Job mit tarifierten Arbeitsbedingungen mit Existenz sichernden Löhnen, 38,5 Stunden in der Woche, lebenslang und womöglich auch in einem Betrieb der eigentliche Ausnahmefall. Aus diesen Perspektiven erscheint Prekarität als kapitalistischer Normalzustand.

Prekarität ist hierzulande deswegen ein Debattengegenstand, weil die so genannten Normalarbeitsverhältnisse unter Druck geraten sind und das bereits seit Jahren. In all den ökonomischen, sozialen und politischen Umbauprozessen geht es um eine umfassende Neudefinition dessen, was heute Normalarbeits- und Lebensverhältnisse sein sollen.

2.

Dabei meint Prekarität in diesem Zusammenhang wesentlich mehr als Verarmung, Niedriglohnsektoren und Teilsegmente des Arbeitsmarktes. Prekarität ist vielmehr – so meine zweite These – die prinzipielle und fundamentale Verunsicherung aller Lebens- und Arbeitsbereiche. Für immer mehr Menschen wird die Existenzsicherung unter Vorbehalt gestellt: Gibt es einen Folgeauftrag? Wird mein Vertrag verlängert? Wird das Weihnachtsgeld oder Urlaubsgeld gestrichen? Wird der Betrieb geschlossen oder verlagert? Werde ich übernommen? Lande ich bei Hartz IV? Reicht das Geld – für den Urlaub, für die Ausbildung der Kinder, fürs nackte Überleben? Was passiert, wenn ich krank oder alt bin? Wenn ich ein Pflegefall werde oder jemand aus der Verwandtschaft? Diese grundsätzliche Verunsicherung erfasst alle Bereiche der sozialen Reproduktion, und auch gut verdienende FreiberuflerInnen, ProjektleiterInnen etc. sind davon nicht verschont.

Diese Verunsicherung ist das eigentliche Programm der Agenda 2010, der eigentliche Inhalt der verbesserten Verwertungsbedingungen für das Kapital. Es geht darum, die sozialen Sicherheitsbedürfnisse als „Vollkaskomentalität“ nachhaltig zu diskreditieren und durch permanente und lebenslange Flexibilisierungsanforderungen zu ersetzen. Ein kluger Gewerkschaftssekretär hat das mal so formuliert: „Der Sinn der sozialpolitischen Misere erfüllt sich vor allem darin, dass sich die Menschen fortlaufend nur noch mit ihrer ökonomischen Lage beschäftigen sollen.“

3.

Meine dritte These lautet: Prekarität ist inzwischen längst in der Mitte des Arbeitsmarktes angekommen. Ein Blick in die Arbeitsmarkt- und Arbeitsrealität belegt, wie normal prekäre Arbeitsverhältnisse inzwischen sind. Der alte Blickwinkel von den fein säuberlich trennbaren Kern- und Randbelegschaften wird genauso obsolet wie die Vorstellung es gebe einen klar abgrenzbaren Niedriglohnsektor. Dazu ein paar Beispiele.

  • Die Kollegen der GoG bei Opel Bochum erzählen, dass sich inzwischen über 50 Firmen auf dem Werkgelände tummeln: Zulieferer, Leiharbeitsfirmen, ausgegründete Betriebsteile von Opel selbst. In einer Halle arbeiten somit unzählige Beschäftigte zu völlig unterschiedlichen Konditionen nebeneinander, manchmal machen sie sogar dieselbe Arbeit - allerdings unter komplett unterschiedlichen Tarif- und Entlohnungsbedingungen.
     
  • Selbst dort, wo Arbeitsbedingungen tariflich reguliert sind, sind sie alles andere als sicher oder Existenz sichernd. Auch tarifierte Arbeitsplätze sind häufig genug befristet und/oder werden mit Niedriglöhnen bezahlt. Von 2.800 Tarifverträgen in Deutschland beinhalten 130 Stundenentgelte von sechs Euro und weniger. Das neue Tarifwerk im Öffentlichen Dienst führt explizit einen Niedriglohnsektor ein, die früher mal weggekämpften Leichtlohngruppen feiern fröhliche Wiederkehr. Tariföffnungsklauseln und Sondertarife für BerufsanfängerInnen, NeueinsteigerInnen oder ausgegründete Betriebsteile sind inzwischen üblich.
     
  • Über ein Drittel aller Vollzeitbeschäftigten arbeiten in Deutschland zu Niedriglöhnen, wie gesagt häufig genug tarifiert. Da sind die „klassischen“ prekären Beschäftigungsverhältnisse wie Minijobs, Leiharbeit, Scheinselbstständigkeit etc. noch gar nicht enthalten. Sechs Millionen MinijobberInnen hat es Ende 2004 in Deutschland gegeben. Gemessen an der Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten war das ein gutes Viertel.
     
  • Auch die diversen Formen der öffentlichen geförderten Beschäftigung dürfen in diesem Zusammenhang nicht vergessen werden, zumal sie flächendeckend in 1-Euro-Pflichtarbeiten umgewandelt werden. Und zumindest erinnern möchte ich auch an die Pflichtarbeit in den Gefängnissen oder die Arbeit in den Werkstätten für Behinderte.

Karl Heinz Roth hat darauf hingewiesen, dass sich unter den Bedingungen der Prekarität die objektiven Reproduktionsbedingungen weltweit tendenziell angleichen. Wenn man beispielsweise mit GewerkschafterInnen aus Uruguay über „atmende Fabriken“, „just-in-time“-Produktion, Outscourcing und Prekarisierung spricht, so erzählt man ihnen nichts Neues. Wir zumindest haben da Eulen nach Athen getragen. Das heißt natürlich nicht, dass sich auch die subjektiven Verarbeitungsformen von Verunsicherung und prekären Lebenssituationen vereinheitlichen würden. Prekarität verdeckt eine ganze Reihe sozialer Hierarchien und beinhaltet auf der subjektiven Ebene unzählige Spaltungslinien. Das Leben am seidenen Faden führt noch lange nicht und erst recht nicht automatisch zu einem gemeinsamen Widerstandsverhalten.

4.

Auf solche möglichen Widerstandsperspektiven bezieht sich meine Schlussthese. Wenn es stimmt, dass Prekarität, Verunsicherung und Flexibilitätsanforderungen zum Normalarbeitsverhältnis des 21. Jahrhunderts gemacht werden sollen, so bekommt der Kampf um das Recht auf Sicherheit, auf soziale und existenzielle Absicherung, einen zentralen Stellenwert. Es geht um das unbedingte Recht auf menschenwürdige Existenz unter prekären Lebens- und Arbeitsbedingungen. Wo flexible (Selbst-)Verwertung zum materiellen und ideologischen Leitbild avanciert, geht es auch um das Recht, unflexibel und unsexy zu sein und dennoch gut zu leben.

Unter den Bedingungen der Prekarität wird mehr gearbeitet als je zuvor, es wird Arbeitskraft mobilisiert, wie kaum jemals zuvor, doch die Arbeit sichert keine Existenzen mehr. Je mehr „die Arbeit“ ideologisch aufgewertet wird, desto inhaltsleerer wird sie. Angesichts des „Terrors der Ökonomie“ (Vivianne Forrester) muss es um die theoretische und praktische Kritik dieser Arbeit gehen. Ganz realpolitisch denke ich, dass sich eine solche Kritik in zwei miteinander verknüpften Mindestanforderungen gegen den Prekarisierungsdruck niederschlägt: in der Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn und in der Forderung nach einem unbedingten und garantierten Einkommen. Wenn die einzige Form der Existenzsicherung im Kapitalismus – der Verkauf der Ware Arbeitskraft – Existenzen nicht mehr dauerhaft und perspektivisch absichert, dann ist die Existenzsicherung unabhängig von Arbeit zwingend notwendig. Wie lautete ein Slogan auf den Montagsdemos so schön: „Von Arbeit muss man leben können. Ohne Arbeit auch.“

Editorische Anmerkungen

Den Artikel spiegelten wir von
http://www.labournet.de/diskussion/arbeit/realpolitik/prekaer/hauer.html


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TREND-Nachtgespräch PREKÄRE ZEITEN am 24.4.2006