Ein anderer Blick auf den "8. Mai"
Berlin von Hitler befreit!
Rundfunkansprache vom 4. Mai 1945 über den Sender "Freies Deutschland" (Moskau)

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Wilhelm Pieck
04/05

trend onlinezeitung

Deutsche Männer und Frauen! Deutsche Jugend! Landsleute!

Nun ist die Hitlerbande (am 2. Mai) auch in ihrer Hochburg von der Roten Armee geschlagen worden. Berlin ist befreit von diesem Verbrechergesindel. Und damit hat auch für die Berliner der Hitlerkrieg sein Ende gefunden. Die rasende Hitlerbestie ist am Verenden, sie erhielt in ihrer Höhle von der Roten Armee den letzten tödlichen Schlag. Aber das ist nicht nur ein militärischer Sieg, sondern auch der Sieg einer höheren Gesellschaftsordnung über die tiefste Barbarei. Es ist — entgegen der von Hitler und Goebbels so oft zum Betrug der Massen wiederholten Prophezeiung vom angeblichen Sinn der Geschichte und Willen der Vorsehung — der Sieg des menschlichen Fortschritts und der Solidarität der freiheits- und friedensliebenden Völker über die Kräfte der Finsternis, über den Rassenwahnsinn und die Völkervernichtung, die der Hitlerismus verkörpert. Welchem ehrlichem, anständigem Deutschen schlüge darüber nicht das Herz höher! Aber in diese Freudenbotschaft mischt sich das bittere, quälende Bewußtsein, daß sich das deutsche Volk nicht selbst von dieser Mörderbande befreite, sondern ihr bis zuletzt folgte und sie bei ihren Kriegsverbrechen unterstützte.

Hitler hat unser Volk in die größte Katastrophe seiner Geschichte getrieben. Städte und Dörfer liegen in Schutt und Asche. Ausgeblutet und völlig verarmt ist unser Volk, krank an Leib und Seele, verseucht von dieser verbrecherischen Naziideologie. Hitler hat durch seine Kriegsverbrechen unserem Volk den Haß und die Verachtung der ganzen Menschheit zugezogen. Die Welt schreit auf vor Entsetzen über die unmenschlichen Grausamkeiten, die von der Nazibande in ihren Vernichtungslagern in Buchenwald, Sachsenhausen, Dachau, Belsen, Auschwitz, Mai-danek und in den vielen anderen an Millionen von Menschen verübt wurden. Ward je ein Volk so tief geschändet und so tief


zu Boden getreten wie das deutsche Volk durch Hitler? Er ist es, der unser Volk total versklavt und seine kräftigsten Teile ausgerottet hat. Er hat Deutschland vernichtet. Das ist das Resultat von dreizehn Jahren Hitlerdiktatur, von fast sechs Jahren Hitlerkrieg.
Aber, Landsleute, warum konnte das geschehen? Mit aller Eindringlichkeit steht diese Frage vor jedem einzelnen von euch. Mußte es so kommen, oder gab es für unser Volk eine Möglichkeit, diese Katastrophe zu verhindern? Ja, eine solche Möglichkeit gab es. Erinnert euch doch, wie ihr von verantwortungsbewußten Deutschen, die ihr Volk und Vaterland lieben, vor dieser Hitlerbande gewarnt wurdet, wie sie euch aufriefen, die kämpfende Einheitsfront für die Verhinderung der Hitlerdiktatur zu schließen.

Werktätige von Berlin!

Erinnert euch der großen antifaschistischen Massenversammlung im Berliner Sportpalast am 24. Februar 1933. Es war drei Tage vor der Provokation der Reichstagsbrandstiftung durch die Hitlerregierung. In dieser Versammlung wurdet ihr vor den Naziprovokateuren gewarnt. Es wurde aufgezeigt, daß Hitler an der Macht für unser Volk Knechtschaft, Elend und Krieg bedeutet. Ihr wurdet aufgerufen zum Kampfe für den Sturz dieser Bande, weil nur dadurch unser Land und Volk vor der Katastrophe bewahrt bleiben könne. Die Versammlung kam nicht zu Ende. Sie wurde mit Polizeigewalt auseinandergetrieben. Aber alles ist so gekommen, wie es in dieser Versammlung vorausgesagt wurde. Ihr habt auf die Warnungen der Antifaschisten nicht gehört, seid ihren Aufrufen nicht gefolgt, ihr ließet euch blenden von den scheinbaren Erfolgen der Hitlermacht und nahmt in euch das Nazigift der imperialistischen Raubideologie auf. Ihr wurdet zu Werkzeugen des Hitlerkrieges und habt damit eine große Mitschuld und Verantwortung auf euch geladen. Jetzt werdet ihr diese Schuld gegenüber den anderen Völkern abtragen und den deutschen Namen wieder reinwaschen müssen von seiner Beschmutzung durch die Hitlerschande.

Berlin ist frei von der Nazibande, sie wird und muß restlos vernichtet werden. Aber unser deutsches Volk wird weiterleben. Es gilt jetzt, eine gründliche Reinigung vorzunehmen. Mit seiner schmählichen Vergangenheit muß Schluß gemacht werden. Es geht um eine Neugeburt unseres Volkes, um ein Neubeginnen in seinem ganzen Denken und Handeln. Neue Menschen, ein neues Deutschland müssen entstehen, um in Frieden und Freundschaft mit den anderen Völkern zu leben und im deutschen Volke selbst Garantien gegen eine Wiederholung der Aggression von deutscher Seite zu schaffen.

Eine schwere Zeit steht vor unserem Volke, die Zeit einer ernsten Prüfung. Unser Volk muß den Beweis erbringen, daß es dieser Wandlung fähig ist. Unter der militärischen Besetzung des Landes wird es den Schaden ersetzen müssen, der durch den Hitlerkrieg und die Hitlerbarbarei den anderen Völkern, besonders dem großen Sowjetvolke, zugefügt wurde. Unser Volk wird diese Pflicht erfüllen in der Erkenntnis ihrer Notwendigkeit, weil es nur so den Weg zu seinem eigenen Wiederaufstieg findet. In gewissenhafter Erfüllung der ihm auferlegten Verpflichtungen muß unser Volk ein ehrliches, aufrichtiges Verhältnis zu den Besatzungsbehörden schaffen. Es gilt, die Naziverbrecher in allen ihren Schlupfwinkeln aufzustöbern und unschädlich zu machen. Allen ihren Provokationen, die sie durch ihre illegalen Wehrwolfbanden versuchen werden, ist mit aller Entschiedenheit entgegenzutreten, weil sie damit die Lage unseres Volkes nur verschlechtern. Nur durch eine gründliche Säuberung von diesen Elementen kann unser Volk die Voraussetzung für seinen Wiederaufstieg schaffen.

Die Hitlerbande hat unserem Volke ein ungeheures Maß von Not und Schande hinterlassen: Hunger und Krankheiten, Zerstörung der Erwerbsgrundlagen und völlige Aussaugung des ganzen Landes. Mühselig wird unser Volk sich aus diesem Zusammenbruch herausarbeiten müssen. Es ist die Pflicht aller Hitlergegner, aller ehrlichen und anständigen Deutschen, unserem Volke zu helfen, aus dieser fürchterlichen Notlage herauszukommen, sich aus dem faulenden Morast der Naziideologie herauszuwinden und wieder zu selbständig denkenden Menschen mit ehrlicher, anständiger Gesinnung und demokratischem Bewußtsein zu werden. Jeder muß dieses ehrlichen Willens sein. Vor dieser großen Aufgabe müssen alle Sonderinteressen zurücktreten.

Landsleute! Soldaten!

Es gilt mit allen euch zu Gebote stehenden Mitteln, dem Hitlerkrieg schnellstens ein Ende zu machen. Jede Stunde seiner Fortsetzung vergrößert die Katastrophe unseres Volkes und erhöht den Preis seiner Niederlage. Legt die Waffen nieder! Stellt sofort die Kriegshandlungen ein! Vernichtet jeden, der euch daran zu hindern sucht! Es geht darum, unser Volk und die Welt von der Hitlerpest zu befreien und den lang ersehnten Frieden zu schaffen.
 

Editorische Anmerkungen

Der Text wurde entnommen: Pieck, Wilhelm, Reden und Aufsätze 1908-1950, Band 1, S. 423f, Berlin 1952, OCR-Scan by red. trend