In seinem 1984 erschienen Roman
„Schwarzenberg“ lässt Stefan Heym ein Stück deutscher
Nachkriegsgeschichte auferstehen, das weniger in Vergessenheit
geraten, als niemals in die Geschichtsbücher aufgenommen worden war.
Er beschreibt Wochen von Arbeiterselbstverwaltung, möglich gemacht
durch den historischen Zufall, dass in einem kleinen Teil Sachsens,
nahe der tschechischen Grenze und heute dem Landkreis Aue
entsprechend, weder die sowjetische Rote Armee noch die US-Armee als
Besatzungsmacht einmarschiert war. Mit dieser unerwarteten Situation
konfrontiert organisieren sich die Arbeiter der Ortschaft
Schwarzenberg zu einem antifaschistischen Aktionsausschuss und
bilden eine neue Verwaltungsmacht, eine Art Regierung. Sie nehmen
die Entnazifizierung der Gegend in Angriff, sorgen dafür, dass die
durch die Nazis ausgebeuteten Fremdarbeiter den Weg in die Heimat
antreten können, lassen die Produktion von Industriegütern wieder
anlaufen und treiben Handel mit den besetzten Gebieten. Kurz: sie
schaffen eine neue Ordnung, frei von den Vorgaben der amerikanischen
oder russischen Siegermächte. Die Arbeiter, Kommunisten und
Sozialdemokraten, im Aktionsausschuss beginnen – unter den
schwierigen Bedingungen der Nachkriegszeit – ihre politischen
Überzeugungen zu materieller Realität zu machen und bilden die
Republik Schwarzenberg, arbeiten an einer Verfassung und träumen den
Traum zwischen dem Machtvakuum der sowjetischen und
US-amerikanischen Besatzungszonen eine Art sozialistischem
Laboratorium entwickeln zu können – die ersehnte Verbindung von
„Sozialismus und Freiheit“. Der Traum war schnell ausgeträumt. Nach
der Aufteilung Deutschlands in verschiedene Besatzungszonen durch
die Ergebnisse der Verhandlungen von Jalta ziehen die Amerikaner ab,
die Rote Armee hält nicht viel von „Sozialismus und Freiheit“ und
marschiert in Schwarzenberg ein und enthebt den Aktionsausschuss
seiner Funktionen. Ein kurzer Frühling der Arbeiterdemokratie findet
ein schnelles Ende.
Heyms Buch besteht aus Aufzeichnungen von Gesprächen, die er mit
einem der Mitglieder des Aktionsausschusses führte, dem KPD-Mann
Kadletz, und einem fiktiven Teil. Teil der Geschichte ist die wahre
Liebesbeziehung zwischen Kadletz und einer russischen
Fremdarbeiterin, das Schicksal des Mädchens Justine Egloffstein, die
durch ihre traumatischen Erfahrungen im Krieg die Sprache verloren
hat und die Suche des amerikanischen Offiziers nach seiner
Jugendliebe Esther Bernhardt. So gelingt es ihm große internationale
Geschichte, kleine schwarzenbergische Geschichte und das Leben und
die Schicksale der Menschen in solchen Zeiten eindrucksvoll zu
verbinden.
Das Buch ist gleichzeitig eine Anklage gegen den Stalinismus – von
einem Schriftsteller, der in der DDR lebte und wirkte, dieses Buch
aber nur in der kapitalistischen BRD veröffentlichen konnte. Das
Schicksal von Max Wolfram wird zur Anklage gegen die bürokratische
Diktatur der Stalinisten. Wolfram war der geistige Schöpfer der
Republik Schwarzenberg, der erste, der die Idee aussprach und eine
Vorstellung davon entwickelte. Ein intellektueller Jude, der nur mit
Glück der Vollstreckung der Todesstrafe entgangen war und die
Nazizeit im Zuchthaus verbrachte, beginnt er eine Verfassung für die
Republik Schwarzenberg zu erarbeiten. Dies ist sicherlich das
politisch herausragende Kapitel des Buches. Heym lässt Wolfram
nahezu das komplette Programm der politischen antistalinistischen
Revolution entwickeln und die Prinzipien eines demokratischen
Arbeiterstaates, so wie Lenin und Trotzki ihn verwirklichen wollten,
darlegen. Der Verfassungsentwurf sieht die jederzeitige Wähl- und
Abwählbarkeit der Volksdeputierten vor, schließt Privilegien aus,
sieht einen durchschnittlichen Arbeiterlohn für Volksvertreter vor,
ersetzt Berufsarmee und Berufspolizei durch eine Arbeitermiliz,
sieht Gemeineigentum an Banken, Bergwerken, Hütten sowie
Großbetrieben in Industrie und Handel vor, die demokratisch
verwaltet werden sollen. Und mehr: das Recht auf freie
Meinungsäußerung, ein Verbot der Pressezensur, ein Schutz vor
Verfolgung aus politischen oder anderen Gründen werden
festgeschrieben. All die Mängel der stalinistischen Sowjetunion
werden von Stefan Heym durch seine Figur Max Wolfram aufgedeckt.
Nicht nur weil dieser den Verfassungsentwurf erstellt, sondern auch
dadurch, dass er Opfer des stalinistischen Repressionsapparates
wird. Denn als sich die Rote Armee ankündigte, sah die Mehrheit des
Aktionsausschusses keine Perspektive und auch keinen Sinn darin,
weiter für den Fortbestand der Republik Schwarzenberg zu kämpfen und
entschied „die Freunde“ willkommen zu heißen und sich der Besatzung
zu fügen. Wolfram, Kadletz und ein weiterer Genosse stimmten damit
nicht überein. Wolfram begibt sich dann zu den amerikanischen
Besatzungsoffizieren, um zu versuchen dort Unterstützung für den
Fortbestand seiner unabhängigen Republik zu erhalten, denn der
amerikanische Lieutenant Lambert hatte gewisse Sympathien mit
Schwarzenberg geäußert. Nach der Rückkehr aus der amerikanischen
Besatzungszone wird er vom sowjetischen Kapitän Workutin und dessen
Unterstützer in den Reihen des Aktionsausschusses, Reinsiepe,
verhaftet, festgehalten und verhört. In seiner Wahrnehmung erinnert
ihn diese Situation an die Zeit in den Nazigefängnissen und den
Verhören dort. Hiermit weist Heym auf die durchaus vergleichbaren
Methoden stalinistischer und faschistischer Herrschaft hin
(abgesehen natürlich von der industriellen Massenvernichtung der
jüdischen Bevölkerung durch die Nazis).
Liest man „Schwarzenberg“ könnte man
meinen Heym sei ein – bewusster oder „unbewusster“ - Trotzkist
gewesen. Doch es fällt auf, dass der Name Trotzki in dem ganzen Buch
nicht einmal fällt. Dies ist in einem Buch dieses Themas nicht
unbedeutend. Heym lässt Wolfram weitgehend das Programm der
trotzkistischen Bewegung für eine Arbeiterdemokratie entwerfen.
Trotzki in diesem Zusammenhang genauso wenig zu nennen wie Lenin,
der in seinem Werk „Staat und Revolution“ viele dieser Forderungen
entwickelte bzw. aus den Erfahrungen der marxistischen Bewegung und
vor allem der Pariser Kommune zusammen trug, ist entweder Ausdruck
der Tatsache, dass Trotzki durch den Stalinismus zur Unperson
gemacht wurde oder zeigt, dass man als Stefan Heym zwar kritische
Bücher in Westdeutschland veröffentlichen konnte, aber diese
spezielle Freiheit nicht so weit ging den größten Kritiker des
Stalinismus politisch zu rehabilitieren. Doch Heyms politische
Erkenntnisse gingen offensichtlich sehr weit – schade nur, dass er
dieses von ihm in „Schwarzenberg“ vertretene politische Programm für
eine sozialistische Demokratie nicht in die revolutionäre Bewegung
in der DDR im Herbst 1989 einbrachte. Er hätte sicherlich aufgrund
seiner Autorität ein größeres Echo gefunden als es die wenigen
Trotzkisten der damaligen Gruppe „Marxisten für Rätedemokratie“, die
heute in der SAV sind, finden konnten.
„Schwarzenberg“ ist ein wichtiges
Buch und es ist eine Schande, dass es zur Zeit vergriffen ist. Es
erzählt die wahre Geschichte der Eigeninitiative, Kreativität und
der sozialistischen und demokratischen Instinkte der Arbeiterklasse.
In Schwarzenberg konnte diese Initiative für einige Wochen „die
Macht“ ergreifen. Doch auch in unzähligen anderen deutschen Städten
entstanden nach Ende des Zweiten Weltkriegs antifaschistische
Komitees, die versuchten die Entnazifizierung durchzuführen, die
Betriebe ans Laufen zu bringen und die eine sozialistische
Demokratie zum Ziel hatten. Sie wurden von den Besatzungsmächten, ob
kapitalistisch oder stalinistisch, behindert, bekämpft und
aufgelöst. Es ist auch die Aufgabe der marxistischen Bewegung heute,
diese Geschichte in Erinnerung zu halten und auf diesen Traditionen
aufzubauen.
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