Die "Visa-Affäre"

von Red. GegenStandpunkt
04/05

trend onlinezeitung

In der Präambel des sog. Volmer- Erlasses (zitiert nach FAZ vom 24.2.05) ist Folgendes zu lesen:

"Die deutschen Auslandsvertretungen bewegen sich im Visumsverfahren im Spannungsfeld zwischen dem Ziel, größtmögliche Reisefreiheit zu gewähren und Deutschland als weltoffen, ausländer- und integrationsfreundlich darzustellen, andererseits aber einem wachsenden Einwanderungsdruck standzuhalten und illegale Einwanderung zu verhindern."

Der damalige Staatsminister Volmer weist im März 2000 die deutschen Auslandsvertretungen an, in diesem Zielkonflikt im Zweifel für die Reisefreiheit zu entscheiden. Im Juni 2001 ergeht die Richtlinie, die Botschaften sollen beim Vorliegen einer Reiseschutzversicherung - die die Zahlungsfähigkeit des Antragstellers verbürgt - auf eine eingehende Einzelfallprüfung bei der Visumserteilung verzichten. "Ziel der Bundesregierung ist ein weltoffenes, ausländer- und integrationsfreundliches Deutschland. Dazu muss die Visumpraxis der Auslandsvertretung so transparent und modern wie möglich gestaltet werden." (Fischer, 18.4.2000)

Deutschland ist eines der bedeutenden Zentren der Globalisierung. Die neue rot-grüne Bundesregierung will mit diesem Pfund wuchern und Deutschlands weltweite ökonomische Interessen in einen Zuwachs an politischer und diplomatischer Macht ummünzen. Deutschland will sich die Welt öffnen, dafür braucht es die passende Selbstdarstellung, nämlich sich der Welt als eine "moderne", "weltoffene" und "ausländerfreundliche" Nation zu präsentieren. Das gilt insbesondere für die östlichen Anrainerstaaten von Schengen- und dem sich erweiternden EU- Europa. In einem immer weiter nach Osten ausgreifenden Imperialismus will Deutschland die Konkursmasse des Ostblocks und der Sowjetunion an sich binden und zum ökonomischen und ordnungspolitischen Hinterhof der EU im Allgemeinen und Deutschlands im Besonderen machen. Mit den Reiseerleichterungen beseitigt das Auswärtige Amt eine "Imagebeeinträchtigung" und sorgt für gedeihliche diplomatische Beziehungen zu anderen Nationen. Zur Gestaltung solcher Beziehungen gehören auch die Schikanen oder Freiheiten beim Hin- und Herreisen, denn daran, wie seine Bürger beim Grenzübergang behandelt werden, kann ein Staat auch ablesen, welchen Grad der Wertschätzung er bei der anderen Nation genießt.

An dem sprunghaften Anstieg der erteilten Visa hat man sich in Berlin nicht gestört. Im übergeordneten Interesse der deutschen Ostpolitik hat man wohl auch gewisse Missstände in Kauf genommen und sich nicht schon durch die ersten diesbezüglichen Meldungen irritieren lassen: Was ist schon ein bisschen Schwarzarbeit gegen die friedliche Eroberung ganzer Nationen. Ende 2003 wird Berlin das Treiben an seiner ukrainischen Botschaft dann doch zu bunt; speziell in der Ukraine werden die Reiseerleichterungen wieder zurückgenommen.

Gegenüber anderen Nationen sind die Reiseerleichterungen noch in Kraft; mit China läuft ein vergleichbares Abkommen gerade an. Schließlich ist die Vergabe von Visa kein selbstloser Dienst Deutschlands an reiselustige Bürger in aller Welt, sondern ein Instrument dafür, dass Deutschland sich die Dienstbarkeit der Welt erschließt.

Die Visa-Politik gegenüber der Ukraine ist längst korrigiert, alle Fakten sind seit Jahren bekannt: "Die Mehrzahl der Dokumente, die jetzt Tag für Tag Schlagzeilen machen, wären schon 2003 oder 2004 verfügbar gewesen." meldet die SZ am 19.2.05). Die Union schwankt in der Frage, mit welchem Thema sie der Regierung am besten an den Karren fahren kann, ob sie - wie man das in einem Vorwahljahr so macht - lieber einen Untersuchungsausschuss zur Autobahnmaut oder zu den Visa einberuft - letzteres gilt in Politik und Medien seit Jahren als ein nur mäßig interessantes "Seitenthema".

Anfang dieses Jahres beginnt die Stimmung sich zu drehen - geändert hat sich nicht die zu beurteilende Sache, wohl aber der Maßstab der Beurteilung: Im Wechselspiel von Regierung und Opposition ist das Thema 'Innere Sicherheit' mittlerweile absolut an die erste Stelle gerückt und entsprechend der Standpunkt von "Ausländerfreundschaft und Multikulti" in ein immer schlechteres Licht geraten. Im Geist der neuen öffentlichen Moral - an deren Etablierung Rot-Grün nach Kräften mitgewirkt hat - will sich die Regierung nicht mehr so richtig und schon gleich nicht mehr so richtig offensiv zu ihrer alten Devise: "In dubio pro libertate!" bekennen. In der SPD werden kritische Stimmen laut, und die Grünen bekommen kalte Füße: Volmer - inzwischen außenpolitischer Sprecher der grünen Bundestagsfraktion - muss zurücktreten; Fischer übernimmt die Verantwortung für "mögliche Fehler des Botschaftspersonals".

Jetzt kommt die Sache so richtig in Schwung. Die C-Parteien berufen sich darauf, dass es die Regierung selbst ist, die sich von ihrer einstigen Visa-Politik distanziert, und setzen das Ausmaß der begangenen "Fehler" ins richtige patriotische Licht: Die Regierung hat die Sicherheit des Vaterlands gefährdet und Deutschland dem Zugriff des internationalen und organisierten Verbrechens ausgesetzt. Die Warnungen der redlich-besorgten Repräsentanten des Staatsinteresses - "Polizisten, Zöllner, Botschaftsangehörige, Richter" - haben die Verantwortlichen aufgrund ihrer rot-grünen Gesinnung ignoriert: In den Augen der christlichen Partei-Ideologie hat die Regierung Vaterlandsverrat begangen; mit dem Stichwort "Zwangsprostitution" bekommt dieser Vorwurf ein menschliches Gesicht und moralische Durchschlagskraft.

Nach christdemokratischen Dafürhalten hat der grüne Außenminister seine Reputation verloren und jegliche Respektabilität verspielt; der Mann ist ganz einfach völlig unmöglich und völlig unten durch. Um diesen Standpunkt breitzutreten, ist der Opposition nichts zu blöd. Der Außenminister ist "ein einwanderungspolitischer Triebtäter", der für seine perverse Neigung "Schwarzarbeit fördert und Zwangsprostitution duldet". Also eigentlich selbst betreibt: "Zuhälter. Schleuser. Menschenhändler!" Mit seiner "laxen" Visa-Politik hat er "die größte Menschenrechtsverletzung seit ´45" begangen, dabei auch noch ganz nebenbei deutsche Arbeitsplätze vernichtet und die Staatsfinanzen zerrüttet. Kurzum: Joschka Fischer hat in der Gemeinschaft aller anständigen Menschen und aufrechter Patrioten nichts zu suchen; die Zulassung zu öffentlichen Ämtern hat er ein für allemal verwirkt.

Mit der Forderung nach Fischers Rücktritt hat der Skandal längst die zur Demokratie passende Dimension erreicht nämlich ob und wie er sich für die alles entscheidende Frage 'Wer darf die Macht im Lande ausüben?' verwerten lässt. Eine abgebrühte Öffentlichkeit stellt sich die üblichen Fragen: Schafft es die Opposition, das bislang für unbesiegbar gehaltene Vollmatrosen-Duo Fischer-Schröder zu zerschlagen? Hat Fischer im taktischen Umgang mit der Öffentlichkeit Fehler gemacht, hat ihn womöglich sein sprichwörtliches Gefühl für Macht und Meinungsmache verlassen? Kann die Opposition außer Fischer auch noch Schily und Schröder anschwärzen? Wichtig ist eine geschickte "Dramaturgie" der CDU im Untersuchungsausschuss; der Skandal muss mit neuen "Enthüllungen" am Laufen gehalten werden, zugleich darf die Munition nicht vor den wichtigen Wahlen in NRW verschossen werden. Dabei kommt es entscheidend darauf an, ob Presse und Rundfunkanstalten - jetzt tatsächlich die "vierte Gewalt" - dazu bereit sind, den immer wieder neu aufbereiteten Variationen längst bekannter Sachverhalte überhaupt den Stellenwert einer mitteilenswerten Nachricht zuzuerkennen. Die Presse ist so frei: Nach der Logik 'Der Verdacht nährt den Verdacht' kann man auch in den banalsten Zuständigkeitsregelungen eine gezielte Sabotage der Staatssicherheit vermuten. Und wenn die dazu verfertigten Schlagzeilen Wirkung auf die Gunst des Publikums erzielen, kann man daraus wieder eine neue Schlagzeile machen, etwa nach dem Strickmuster:"Fischer verliert wegen Visa-Affäre in Umfragen". Oder in seitenlangen Dossiers und Hintergrundberichten über die Krisenstimmung bei Rot-Grün berichten: Dass sich die Regierung um ihren künftigen Wahlerfolg sorgen muss, beweist dem mündigen Bürger zur Genüge, dass sie diesen Erfolg auch nicht verdient.

So nährt der Skandal den Skandal - und was interessieren schon da die Kalkulationen, die Deutschland an und mit der Welt - insbesondere in seinem Osten - anstellt, angesichts der anscheinend viel spannenderen Frage: Stürzt Fischer oder nicht?

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Ausgabe 12-05 vom 25. Mrz. 2005
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