Betrieb & Gewerkschaft
Brüssel: Arbeiter aus Ost- und Westeuropa demonstrieren für ein "soziales" Europa

von Dietmar Henning
04/05

trend onlinezeitung

Am Samstag ( 19.3.2005) demonstrierten laut Angaben der Veranstalter 60.000 Menschen aus ganz Europa in der belgischen Hauptstadt Brüssel gegen Sozialabbau. Vor allem Gewerkschaftsmitglieder aus zahlreichen europäischen Ländern folgten dem Aufruf des europäischen Gewerkschaftsbund unter dem Motto "Mehr und bessere Arbeitsplätze, Verteidigt ein soziales Europa, Stop Bolkestein".

Zum ersten mal seit der EU-Osterweiterung demonstrierten Arbeiter aus Ost- und Westeuropa gemeinsam. Neben großen Gewerkschaftsdelegationen vor allem aus Frankreich, den Niederlanden, Belgien und Deutschland, aber auch aus Italien, Spanien, Großbritannien und Portugal, waren viele polnische, rumänische und slowenische Arbeiter gekommen.

Ursprünglich war die Brüsseler Demonstration als Teil der weltweiten Demonstrationen gegen den Irak-Krieg geplant gewesen. Das Europäische Sozialforum hatte im Oktober 2004 in London beschlossen, zu dieser zentralen Demonstration aufzurufen. Aber ATTAC und die anderen Organisationen, die im Sozialforum den Ton angeben, vertreten eine politische Orientierung, die den sozialdemokratischen und ex-stalinistischen Parteien sowie dem Gewerkschaftsapparat einen linken Deckmantel verschafft. Sie machen sich dafür stark, dass diese für minimale Reformforderungen und für legale Einschränkungen der Aktivitäten globaler Unternehmen eintreten.

Folgerichtig luden sie die Gewerkschaftsbürokratie ein, die Veranstaltung zu übernehmen und für ihre Interessen zu instrumentalisieren. So wurde aus einer Anti-Kriegsdemonstration eine gewerkschaftliche Demonstration, die nationalen Protektionismus propagiert. Im Aufruf des Europäischen Gewerkschaftsbundes war der Irak-Krieg mit keiner Silbe erwähnt worden.

Es gab schließlich drei verschiedene Auftaktveranstaltungen, eine der Gewerkschaften, eine von belgischen Jugendorganisationen, die zu Protesten gegen die steigende Arbeitslosigkeit und Rassismus aufgerufen hatten, sowie eine der Organisationen, die sich um das Europäische Sozialforum scharen. Der Demonstrationszug bewegte sich vom Gare du Midi im Süden der Brüsseler Innenstadt quer durch die City zum Gare du Nord. Die Demonstranten passierten auf ihrem Zug die riesigen, verspiegelten Bürotürme der großen europäischen Konzerne, der EU-Administration und des Europäischen Gewerkschaftsbundes.

Ziel der Organisatoren war es, Druck auf die Staats- und Regierungschefs auszuüben, die sich am kommenden Dienstag und Mittwoch in der EU-Hauptstadt zu einem Gipfel treffen. Auf dem EU-Gipfel soll die Halbzeitbilanz des so genannten Lissabon-Prozesses gezogen werden. Vor fünf Jahren hatten die europäischen Regierungschefs in Lissabon beschlossen, die europäischen Großmächte und Konzerne bis 2010 gegenüber ihren Rivalen in Amerika und Asien zu stärken und die EU zum weltweit führenden Wirtschaftsraum zu machen.

Die Folgen dieses Prozesses sind neben dem Aufbau eigener militärischer Strukturen ein ständiges Absenken von sozialen Errungenschaften. Die EU-Osterweiterung wird dabei genutzt, um die Arbeiter in Ost und West gegeneinander auszuspielen. Nicht die sozialen Standards des Westens werden in Osteuropa eingeführt, sondern die Arbeitsbedingungen der osteuropäischen Arbeiter sollen zur Grundlage der Arbeitsbedingungen in ganz Europa werden. Ein generelles Lohn- und Sozialdumping ist in Europa an der Tagesordnung.

Andrzej Matla von der polnischen Gewerkschaft Solidarnosc forderte in einem Presse-Interview Mindestlöhne, um gegen Lohndumping etwa im deutschen Fleischsektor vorzugehen. Deutsche und dänische Fleischkonzerne sind seit kurzem dazu übergegangen, in Deutschland im großen Maßstab mit osteuropäischen Leiharbeitern, vor allem aus Polen, zu produzieren. Die deutschen Arbeiter und Arbeiterinnen werden entlassen und durch schlecht bezahlte und rechtlose polnischen ersetzt. Matla wies darauf hin, dass dies eine endlose Abwärtsspirale nach unten bedeutet. Nach Polen drängten inzwischen Billiglöhner aus der Ukraine.

Beispielhaft für diese Entwicklung ist das Schicksal der Arbeiter und Arbeiterinnen der Werkzeugfabrik Pferd in Vitoria-Gasteiz im spanischen Baskenland. Die baskischen Beschäftigten der deutschen August Rüggeberg GmbH, des Weltmarktführers für Schleifwerkzeuge, befinden sich seit mehr als 16 Monaten im Streik. Sie schickten eine Delegation nach Brüssel, um über ihren Streik zu informieren und Unterstützung zu mobilisieren.

Die WSWS sprach mit Ilde Ogayar und Pedro Barragan. Rüggeberg hatte vor 16 Monaten 77 von 220 Arbeitern gekündigt. Die Beschäftigten waren durch Rationalisierungsmaßnahmen (Rüggeberg investierte 42 Millionen Euro) und durch eine Verlagerung von Teilen der Produktion nach Bologna in Italien und Billiglohnländer in Osteuropa und Asien "überflüssig" geworden.

Die Beschäftigten traten in einen Streik, weil sich der Konzern an keinerlei rechtliche Auflagen gehalten hatte. Willkürlich hatte die Geschäftsführung vor allem Gewerkschafter entlassen. Auch zwei Frauen wurde gekündigt, der einen weil sie schwanger, der anderen weil sie krank geworden war.

Nur 20 Arbeiter halten die Produktion noch mehr recht als schlecht aufrecht. "114 Kollegen befinden sich nach wie vor im Streik", berichtete Pedro Barragan. Alle Angebote seitens der Belegschaft, die Produktionskosten durch Zugeständnisse wie längere Arbeitszeiten und geringere Löhne zu senken, habe die Geschäftsführung abgelehnt.

Ilde Ogayar fügte hinzu: "Die Geschäftsführung bot uns an, in anderen Betrieben des Konzerns im Ausland zu arbeiten. Doch wir haben Familie, wir können nicht so einfach weg in ein Land, das wir nicht kennen und dessen Sprache wir nicht sprechen." Keiner der Beschäftigten habe die "freiwilligen" Abfindungszahlungen angenommen, die der Konzern anbot.

"Wir müssen durchhalten", sagten die beiden baskischen Arbeiter. Das ist aber nicht leicht. Die Gewerkschaft unterstütze sie, könne aber auch nichts machen. Zumindest sei die Solidarität der Arbeiter groß. "Wir leben alle zum größten Teil von Spenden der Arbeiter in unserer Stadt. Einige von uns verkaufen auch Hemden und Kleidung auf Märkten."

Es war bezeichnend, dass die Streikenden aus dem Baskenland nur auf der Auftaktkundgebung des Sozialforums vor einigen Hundert Menschen sprechen durften und nicht auf der Abschlusskundgebung der Gewerkschaften vor Zehntausenden.

Dort sprachen zehn hohe Funktionäre europäischer Gewerkschaften innerhalb von 30 Minuten. Sie richteten sich in ihren kurzen Beiträgen insbesondere gegen die sogenannte Bolkestein-Richtlinie.

Die Dienstleistungsrichtlinie, die unter der Ägide des früheren EU-Binnenmarktkommissars Frits Bolkestein verfasst wurde, gilt als eines der wichtigsten Vorhaben der EU-Kommission. Zwei Drittel der gesamten Wirtschaftsleistung in der EU entfallen auf Dienstleister. Der amtierende EU-Binnenmarktkommissar Charlie McCreevy tritt vehement für die Verabschiedung der Richtlinie ein. Er behauptet, so könnten Hunderttausende Arbeitsplätze geschaffen werden.

In Wirklichkeit würde die Richtlinie die bereits vorhandene Abwärtsspirale bei Löhnen und Sozialstandards weiter beschleunigen. Nach dem geplanten "Herkunftslandprinzip" können Anbieter von Dienstleistungen ihre Arbeit auch im Ausland nach den Vorschriften ihres Heimatlandes anbieten. So können Bau-Unternehmen aus den neuen EU-Ländern - oder internationale Baufirmen, die kurzerhand eine Dependance in Osteuropa eröffnen - Aufträge in Westeuropa nach den niedrigeren Standards der neuen EU-Länder durchführen. Es gelten dann zum Beispiel die Arbeitssicherheit- und Arbeitszeitrichtlinien osteuropäischer Länder

An einer Vereinigung der europäischen Arbeiter sind die Gewerkschaften nicht interessiert. Sie treten für nationale Mechanismen, für protektionistische Maßnahmen ein. Aber die Globalisierung hat derartigen Maßnahmen die Grundlage entzogen, wie das Schicksal der baskischen Pferd-Rüggeberg-Fabrik zeigt. Die Forderung nach nationalem Protektionismus spaltet darüber hinaus die Arbeiter Europas und ermöglicht dadurch erst deren gegenseitiges Ausspielen.

Die Gewerkschaftsfunktionäre warnten in ihren kurzen Redebeiträgen in Brüssel die europäischen Regierungen vor den explosiven Folgen ihrer Politik. Sie befürchten, dass sich die europäischen Arbeiter von der offiziellen Politik abwenden und so eine Bewegung außerhalb ihrer Kontrolle entsteht.

Der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) Michael Sommer sprach dies in seiner kurzen Rede in Brüssel am deutlichsten aus. "Die Kapitalisten und die europäische Kommission müssen merken: Entweder entsteht ein Europa der arbeitenden Menschen oder die Menschen wenden sich ab. Wir wollen das nicht." Er bemängelte die Politik der EU-Kommission, die Entscheidungen treffe, "ohne die Folgen zu bedenken". Er forderte:"Hört endlich auf die Gewerkschaften."

Auf der Demonstration verteilten Mitglieder des Internationalen Komitees der Vierten Internationale mehrere Tausend Flugblätter, in denen eine Perspektive für die europäische Arbeiterklasse gegen Militarismus und Sozialabbau gegeben wird.

Editorische Anmerkungen

Der Artikel erschien am 22. März 2005 bei wsws.org und ist eine Spiegelung von www.wsws.org/de/2005/mar2005/brue-m22.shtml