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Nr. 04-04
Notausgabe
3. April 2004

9. Jahrgang online

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Der antisemitische Komplex
Eine selbstkritische Konzeption des Feindes: Zur Doppelgestalt von Judenhass und Araberhass

Von Etienne Balibar

Die verschiedenen Formen des Hasses haben ihre Geschichte. Damit gilt es sich auseinander zu setzen, anstatt Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus weiterhin so zu behandeln, als wären sie ihrem Wesen nach für immer identisch. So glaube ich, dass es wichtig ist, einen Unterschied zu machen zwischen dem, was man im allgemeinen als Rassismus bezeichnet, und dem Antisemitismus. Dieser hat der rassistischen Ideologie einen neuen Zuschnitt gegeben, er wurde innerhalb des Paradigmas der Rassenkämpfe und der rassischen Ungleichheiten hinzugezogen. Aber er enthält zugleich einen Kern irreduzibler Bedeutung, und das noch dort, wo er am vollständigsten säkularisiert ist.

Der Anti-Judaismus beziehungsweise der Judenhass stellt nicht mehr die einzige Form des Antisemitismus dar, wenn das überhaupt je der Fall war. Er ist zum einen Teil eines Begriffspaares geworden, das auf anderen Grundlagen den semitischen Mythos des 19. Jahrhunderts neu errichtet. Dessen anderer Teil ist der Araberhass beziehungsweise die Islamfeindlichkeit. Die gewalttätige Abneigung, die der Nahost-Konflikt nährt und die ihn ihrerseits nährt, indem sie Effekte einer auf Identität basierenden Polarisierung hervorbringt, spricht nicht gegen diese Interpretation. Sie hat vielmehr den Zweck, deren Modalitäten miteinbeziehen zu können. Dieser Antagonismus gibt Dritten neue Mittel an die Hand, um sich ihrer Überlegenheit versichern zu können und ihren Abscheu zu rechtfertigen. Indem ich die Dinge so darstelle, versuche ich zugleich, Phänomene zu erfassen, die einige dazu verleitet haben, von einem neuen Judenhass zu sprechen, und zu korrigieren, was daran einseitig, selbstgefällig und insofern mystifizierend ist.

Zum ersten Punkt fasse ich mich kurz, auch wenn man ihn nicht vom folgenden trennen kann (dass Judenhass und Araberhass sich gerade auf Grund ihres Unterschiedes zusammenrechnen lassen, liegt vor allem daran, dass sie sich zusammen vom rassistischen Paradigma absondern), und konzentriere mich auf den zweiten, um sowohl zu erwähnen, was er erklärt, wie auch, welche Probleme er aufwirft. Es ist bekannt, dass die umfangreiche Literatur zum Rassismus und zum Antisemitismus fortwährend oszillierte zwischen der These von der herausragenden Identität der zwei Phänomene (weil der Antisemitismus als eine typische Form oder besser als Extrem des Rassismus erscheint) und der ihrer Heterogenität (weil sich der Antisemitismus, der sich auf der Basis einer säkularisierten Theologie entwickelt, nicht nur auf eine lediglich phantasmatische "Rasse" mit widersprüchlichen Eigenschaften bezieht, sondern auch eine im Wesentlichen innere Alterität als Objekt seiner Phobie wählt, die nicht isoliert werden kann).

Über alles das kann man diskutieren. Sind wir aber sicher, dass die zwei Möglichkeiten einander ausschließen? Was, wenn sie in der absurden Rationalisierung des Hasses des Anderen und des Selbsthasses komplementär werden könnten. Auf jeden Fall sollte man zu einer radikalen Historisierung der Probleme übergehen, wobei die Frage der Worte und ihres Gebrauchs fortwährend neu bewertet werden muss.

Der Antisemitismus hat sich im diskursiven Raum des Rassenkampfes zwischen dem 16. und dem 20. Jahrhundert geäußert. Im Gegenzug hat er dazu beigetragen, diesem eine eschatologische Bedeutung zu geben, wobei die Stigmen des Ursprünglichen und die "End"-Lösungen sich verbinden. Er kann nicht abgetrennt werden von den Umsetzungen und den fortwährenden Auswirkungen des genealogischen Phantasmas (Rassenzuordnung des Anderen, Rassenzuordnung des eigenen Selbst). Aber zwei tatsächliche Ereignisse, die irreversibel und gleichwohl nicht notwendig waren, haben den Antisemitismus im 20. Jahrhundert grundlegend verändert. Das eine ist die Vernichtung der europäischen Juden durch die Nazis und ihre Kollaborateure, mit den Wirkungen der verdrängten Schuld und den Wiederholungszwängen, die sie nach sich zog. Das andere ist die Schaffung (von der man sagen könnte, dass sie auf grundlegende Weise unabgeschlossen ist) des Staates Israel, der die tausendjährigen Verzweigungen des "Volks der Überlebenden" versammelt und es zumindest idealiter aus der Verfassung eines Volks ohne Vaterland herausreißt, es aber auch tief gehend in die inneren und äußeren Juden teilt.

Postkoloniale Gesellschaften

Es ist für unsere Vorstellungen des Rassismus grundlegend, dass diese Ereignisse ihre Auswirkungen im Kontext einer Entkolonialisierung haben, die ebenfalls unabgeschlossen ist oder auf vielfältige Weisen (wie im Mittelmeerraum) konterkariert wird, die aus den Gesellschaften des Nordens wie aus denen des Südens postkoloniale Gesellschaften macht. Der arabisch-islamische Komplex nimmt hier offenkundig eine äußerst empfindliche Scharnierfunktion ein. Er wird seinerseits das Ziel und die Quelle der Diskurse, in denen es um Konflikte zwischen den dominierenden und den dominierten Identitäten geht. Auch wenn sie der Präzisierungen und Richtigstellungen bedarf, kann uns als Ausgangspunkt einer Analyse die Selbstdarstellung dienen, die die Palästinenser für ihre Situation anbieten - mal auf humoristische Weise: "Wir sind ein wenig wie die Juden, oder?" (Elia Suleiman beim Festival in Cannes), mal auf tragische Weise, die auf die unheilvolle Ironie der Opfer, die Täter geworden sind, verweist ("Wir sind die Juden der Juden").

Über den singulären Fall hinaus, und das ist es, was aus der Situation der Palästinenser einen Hort der Identifikationen und der Solidaritätsbekundungen, aber auch der imaginären Ersetzungen und der Stellvertreterkämpfe macht, gibt es die Verallgemeinerung des Status der (mit Hannah Arendt gesprochen) Parias, den zahlreiche Gemeinschaften arabisch-muslimischen Ursprungs teilen - wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß und in jedes Mal spezifischer Ausformung.

Aber dieses Schema der Umkehrung hat zum Nachteil, dass es die Fortdauer des judenfeindlichen Antisemitismus im Dunklen lässt (wenn nicht gar qua Prinzip ausschließt) und selbst dessen Erneuerung auf der Grundlage des Nahost-Konflikts und der phantasmatischen Globalisierung, die er hervorbringt. Diese paradoxalen Überdeterminierungen gilt es zu denken. Der gleiche Nachteil betrifft zu einem geringeren Grad (denn er vermeidet es sorgfältig, eine Juden-Zentrierung in eine Araber-Zentrierung umzuwandeln) das Schema der Übertragung, das Edward Said am Ende von Der Orientalismus skizziert, einem Werk, das auf grundlegende Weise unsere Wahrnehmung der Kategorisierungen erneuert hat, mittels derer der Okzident sein Selbstbewusstsein konstruiert hat, indem er die Figur des Anderen entwarf.

Mit Einschränkungen vertritt Said die These, dass der Orientale (im Wesentlichen der arabisch-islamische) heute mit Vorliebe den Platz der inneren, unheilvollen und sich schnell ausbreitenden Alterität besetzt, der zuvor derjenige des Juden war. Er ermöglicht es so, die Hälfte, die in den meisten Geschichtsschreibungen des semitischen Mythos fehlt, wiederherzustellen und das symbolische Funktionieren der zugleich rassischen (der Andere als Araber) wie spirituellen (der islamische Andere) Bezeichnung zu begreifen, die befremdlicher Weise zur Parallele der doppelten Figur des jüdischen Volkes als einer zugleich spirituellen und zeitlichen, staatlichen und sich in der Diaspora befindenden Gemeinschaft geworden ist.

Ich denke jedoch, dass wir von einer Überlegung in Analogien zur Analyse eines ideologischen und historischen Komplexes übergehen müssen. In diesem singulären Komplex liegt die Neuheit und vielleicht das Ereignis. Die diskursiven Analogien (Zirkulation der antisemitischen Stereotypen), die empirischen Verbindungen (hoher Grad der statistischen Übereinstimmung von Judenhass und Araberhass in der französischen Bevölkerung, wie Nonna Mayer feststellt), die symbolischen Symmetrien (der Wettbewerb des Juden und des Arabers um den Platz des inneren Feindes, der die Möglichkeit einer vereinten nationalen Gemeinschaft infrage stellt) machen erst einen Sinn, wenn man die Existenz eines Komplexes zugibt, der seine eigene Logik hat und sich gerade aus seinen Widersprüchen nährt.

Als Basis dieses Komplexes muss man immer noch eine theologische Spur setzen, wobei man darauf achten muss, dass man nicht das Theologische mit dem Religiösen verwechselt. Das Theologische verschwindet keineswegs mit der Säkularisierung unserer Gesellschaften, mit dem Niedergang der Gläubigkeit und der religiösen Praktiken. Ebenso wenig wird es in den unterschiedlichen Phänomenen einer Rückkehr des Religiösen wiedergeboren. Es hat noch nicht einmal etwas mit dem zu tun, was man die Konkurrenz der drei Monotheismen nennt, die sich auf die einzigartige Authentizität ihrer Beziehung zu Gott berufen. Es verweist vielmehr, wie Freud es erklärt hat, auf das Element der Intoleranz, das ein Universalismus enthält, der in den Schemata der Wahl, der Menschwerdung und der Vorherbestimmung wurzelt. Wir sind weit davon entfernt, dem zu entkommen, denn es ist zugleich die Sprache unserer Öffnung zur Welt wie auch die, die es uns erlaubt, aus ihr den Sinn einer emanzipatorischen Mission zu beziehen, deren Träger wir sein werden.

Dieses theologische Element würde jedoch keine unüberwindliche populäre und institutionelle Feindseligkeit speisen, wenn es nicht durch sozio-politische Bedingungen überdeterminiert wäre. Damit sich als Negativ der nationalen Gemeinschaft die Figur der Bevölkerungsgruppen herausbildet, die als nicht assimilierbar eingeschätzt werden und gleichwohl so in Ökonomie, Kultur und Staatsbürgertum integriert sind, dass sie von diesen unabtrennbar erscheinen, müssen die Diskriminierungen und die Differenzen vor dem Hintergrund einer Krise Sinn machen, die die Unmöglichkeit oder die Unnatürlichkeit dieser Gemeinschaft beschwört. Das war der Fall im Moment, als sich in Europa zum Schaden der traditionellen gesellschaftlichen Ordnung die bürgerlichen Nationalstaaten herausbildeten. Das ist wahrscheinlich der Fall in dem Moment, wo deren Funktion und Zukunft auf brutale Weise neu infrage gestellt werden durch die Globalisierung. Die imaginäre Gemeinschaft wird umso mehr fetischisiert, je beschränkter und unsicherer ihre Souveränität erscheint.

Nun kommt ein drittes, im eigentlichen Sinne phantasmatisches Element hinzu: Das Szenario der Verschwörung. Hier knüpft der Komplex des Judenhasses und des Araberhasses am stärksten an. Man weiß, dass die Juden unablässig als die Anstifter eines weltweiten Unternehmens der Subversion durch das Verbrechen und die Macht des Geldes dargestellt worden sind (das Protokoll der Weisen von Zion, eine berühmte Fälschung, die heute immer noch in Gebrauch ist, war davon zugleich das Symptom wie auch Instrument). Diese Darstellung ist nicht verschwunden, aber sie hat sich durch eine symmetrische Darstellung verdoppelt, die den Islam und die Araber betrifft, die unter der Regie einer okkulten Macht im planetarischen Maßstab die Öl-Reichtümer, die fundamentalistische Missionierung und den Terrorismus (Dschihad) manipulierten und deren Ziel über die Juden hinaus das Herz der freien Welt sei.

In beiden Fällen gibt es Tatsachen: Der Einfluss der zionistischen Lobby in den USA, die Unternehmungen der Al Qaida oder dessen, was man sich unter diesem Namen vorstellt . . . Aber das Verschwörungs-Phantasma geht über diese Elemente hinaus und führt sie auf einen Kern in einem unsichtbaren und monströsen Ding zurück, von dem, wie man annimmt, die jüdischen oder arabischen Völker nur die Instrumente oder Agenten sind.

Moralische Fallen

Judenhass und Araberhass dergestalt im selben antisemitischen Komplex zu umfassen, beinhaltet ohne Zweifel intellektuelle und moralische Fallen. Ich bin mir dessen bewusst. Diese Hypothese erscheint mir indessen als die einzige, die in der Lage ist, die Kristallisierung der Vorurteile in der aktuellen Situation zu erklären, besonders in Europa. Sie bezeichnet eine furchtbare Maschine der geistigen Gefangennahme, der zu widerstehen umso lebenswichtiger ist, als sie in der Lage ist, die bestehenden Fronten des Antirassismus zu verändern (Le Pen hat, wie man weiß, keine Schwierigkeit damit, sich als Bewunderer von Saddam Hussein und Ariel Scharon zu bezeichnen). Und, was noch schwerer wiegt, sie ist in der Lage, im tiefsten Inneren eines jeden von uns das Gefühl der Gerechtigkeit und der Solidarität auszubeuten, das zum Engagement für Fälle führt, in denen die historischen Rollen der Opfer und der Täter sich vertauschen oder sich verkehren. Hannah Arendt forderte deshalb zu Recht, dass sich der Antirassismus auf eine aktive, sich verändernde, selbstkritische Konzeption des Feindes stützen müsse, den er bekämpft, statt bei der Denunziation des Übels und bei der Identifikation mit den Verfolgten stehen zu bleiben. Dies ist heute, in der Stunde der Gefahr, unsere Aufgabe.
 


Editorische Anmerkungen

Der Text des französischen Philosophen Etienne Balibar ist die Zusammenfassung eines Vortrags, den er am Collège International de Philosophie zum Thema "Die Philosophie im Angesicht des Risikos des Rassismus" Ende Mai 2002 gehalten hat. Aus dem Französischen von Nikolaus Müller-Schöll.

Der Artikel ist eine Spiegelung von
http://www.antisemitismus.net/europa/juden-araberhass.htm

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