Indymedia Kritikpapier
Strukturen schützen: Anna und Arthur halten´s Maul!
Überlegungen zu Nutzen und Gefahren des Internetforums Indymedia
 
04/02
 
trend
onlinezeitung
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Das vorliegende Papier befasst sich mit der Gefährdung linker  Strukturen durch die Publikation bestimmter Beiträge auf den Kommentarseiten des Internetforums Indymedia. Wir wollen hiermit eine Auseinandersetzung um Gefahren und Nutzen eines solchen offenen
Forums anregen, um zum einen die NutzerInnen zu einem verantwortungsvolleren Umgang mit dem Medium zu bewegen, und um zum anderen die Indymedia BetreiberInnen um eine erneute kritischeReflexion ihrer bisherigen Praxis zu bitten.

Das Internetforum Indymedia hat sich in den letzten Monaten zu einem zentralen Informations- und Diskussionsforum der (radikalen) Linkenentwickelt. Zur grundlegenden Konzeption Indymedias gehört es, jedem/jeder, der/die über einen Internetzugang verfügt, zu  ermöglichen, Informationen, Inhaltliche Statements oder Diskussionsbeiträge zu publizieren. Ziel dieses radikaldemokratischen Ansatzes ist es, dass diejenigen, die politisch aktiv sind, auch die
Nachrichten über die jeweiligen Aktionen produzieren, und dies so aktuell wie möglich. Während inhaltliche Beiträge von der Indymedia-Redaktion redaktionell bearbeitet, zumindest aber vor ihrer Veröffentlichung gelesen werden, und die Beiträge im Open Posting nach Schlüsselwörtern gescannt werden, um beispielsweise rassistische Propaganda von vornherein herauszufiltern, unterliegt der Bereich der Kommentare keiner redaktionellen Kontrolle. Wir halten den Umgang einiger NutzerInnen mit diesem Forum für bedenklich und wollen daher
eine Debatte um Risiken und Nutzen desselben innerhalb der Linken  anregen.

Unsere Kritik macht sich im Wesentlichen anfolgenden Punkten fest:

1. Gerüchteküche

Da Indymedia jedem/jeder die Möglichkeit bietet, Informationen im Netz zu publizieren, ist es der Verantwortung jedes/jeder einzelnen überlassen, was er/sie in diesem Rahmen der Öffentlichkeit zugänglich machen will. Insbesondere die Kommentarseite entwickelt sich dabei
zuweilen zu einer brodelnden Gerüchteküche. Schnell werden hier aus  Vermutungen und persönlichen Einschätzungen Tatsachen, die sich auf die Vorbereitung von Aktionen auswirken und in die Irre führen können. Die Publikation von Gerüchten (oder im schlimmsten Falle
lancierten Falschinformationen), die für andere Nutzerinnen des  Forums nicht nachprüfbar sind, ist schlichtweg verantwortungslos: Das bloße Spekulieren über mögliche Bullenstrategien oder angebliche Vorhaben von Nazi-Gruppen führt dazu, ein unüberschaubares
Bedrohungsszenario zu schaffen, das einschüchternde Wirkung haben und  zu Fehleinschätzungen führen kann.

Das bloße Drohen mit militanten Aktionen bzw. das Spekulieren darüber  schadet unserem Agieren am Tag selbst und nutzt de facto überhaupt nichts. Diejenigen, die militante Aktionen vorhaben, tun besser daran, ihre Energie auf die Planung zu verwenden statt auf das
Rumprahlen mit ihren revolutionären Absichten. Mal ganz abgesehen davon, dass die eigene Aktion gefährdet wird, wenn vor lauter Vorfreude nebenbei die ein oder andere Information abfällt, die den Bullen im Vorfeld durchaus nützlich sein könnte.

2. Den Bullen in die Hände arbeiten: ?Ich war dabei!?

Ähnlich verantwortungslos ist zuweilen der Umgang mit Debatten über bereits gelaufene Aktionen. Die nach manchen Aktionen auftretende ausführliche Diskussion über den genauen Ablauf der Begebenheit spielt Polizei und Staatsschutz in die Hände und stellt eine konkrete
Gefährdung linker Strukturen dar. Debatten um den genauen Ablauf militanter Auseinandersetzungen mit Faschisten beispielsweise nutzen niemandem und sind für alle Beteiligten schlichtweg gefährlich.

Manche NutzerInnen überbieten sich nach solchen Ereignissen oftmals  gegenseitig mit Detailinformationen. Jede/r weiß dann noch ein bisschen genauer zu berichten, wie genau die Schlägerei verlaufen ist, wer angefangen hat, wie viele Leute auf der einen wie auf der  anderen Seite beteiligt und welche Verletzungen zu verzeichnen waren.  Die Publikation solcher Infos stellt eine konkrete Gefährdung für alle an den Auseinandersetzungen beteiligten dar, sowohl für jene, die mit ihrem vermeintlichen Insiderwissen prahlen, als auch für
jene, die aus gutem Grund den Mund halten. In solchen Fällen haben es  Polizei und Staatsschutz gar nicht mehr nötig, sich mühsam um Zeugenaussagen zu bemühen, weil sie wichtige Informationen direkt von den Involvierten selbst bekommen. Und ist dies einmal nicht der Fall, so braucht es nur eine ohne größeres psychologisches Geschick in den  Raum geworfene Falschbehauptung, und schon setzt eine Welle von Gegendarstellungen ein.

Abgesehen davon, dass diese bereitwillig zur Verfügung gestellten Informationen Polizei und Staatsschutz helfen, ihre Akten zu komplettieren, birgt die Form der Kommentarseite Indymedias auch die Möglichkeit, gezielte Falschinformationen zu publizieren, und zwar sowohl von Seiten der Nazis als auch von Seiten der Bullen selbst.

3. Anonymität und Identifizierbarkeit von NutzerInnen

Abschließend noch eine Bemerkung zum technischen Umgang mit  Indymedia: Im Allgemeinen schreiben die KommentatorInnen ihre  Beiträge unter Pseudonymen, in der Hoffnung, damit ihre Anonymität wahren und sich vor Repression schützen zu können. Dies allein reicht jedoch bei weitem nicht aus, da staatliche Überwachungsmaßnahmen im Internet stark expandieren und mit einigem Aufwand es möglich ist, mitzuverfolgen, von welchem Rechner (bzw. welchem Telefonanschluß) aus sich NutzerInnen in die Kommentarseite eingeloggt haben. Bei den meisten Rechnern ist der Kreis derer, die Zugriff darauf haben eingrenzbar, so dass es Polizei und Staatsschutz möglich ist, diejenigen mit dem vermeintlichen Insiderwissen zu ermitteln und zu kriminalisieren.

Dies sei jedoch nur am Rande erwähnt, da es natürlich technische Möglichkeiten gibt, sich auch hiervor zu schützen. Die zuvor geäußerte Kritik am allgemeinen Umgang mit dem Medium bleibt davon jedoch unberührt.

Unserer Meinung nach gefährdet der jetzige Umgang mit Indymedia, insbesondere der Kommentarseite, konkret linke Strukturen bzw. auch politisch aktive Einzelpersonen und schadet damit der politischen Arbeit. Um in Zukunft zu verhindern, dass auf Indymedia Informationen publiziert werden, die uns möglicherweise auf die Füße fallen könnten, fordern wir zu einer Auseinandersetzung um einen sicheren Umgang mit dem Medium auf. An die Indymedia-Redaktion richten wir die Bitte, die Gefahren, die das Medium birgt, nochmals kritisch zu reflektieren und den Diskussionsprozess öffentlich zu machen. Als praktischen Vorschlag von unserer Seite möchten wir anregen, darüber nachzudenken, ob nicht vielleicht ein entsprechender kurzer Hinweistext direkt in das Kommentarfenster integriert werden könnte, oder gegebenenfalls das Kommentarfenster ganz weggelassen wird.

In der Hoffnung auf eine produktive Auseinandersetzung
und mit solidarischen Grüßen

Antifa O.R.K.A., Aktion Knastmucke und R.A.Z., organisiert im Koordinierungskreis antifaschistischer Gruppen aus Düsseldorf (Antifa-KOK)

Editorische Anmerkungen:

Der Artikel ist eine Spiegelung von:
http://www.de.indymedia.org/2002/04/19478.shtml
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