Quelle: SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.6 vom 16.03.2000, Seite 13

Indien
Aufwind für die revolutionäre Linke

von Eva Cheng

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BALASUBRAMANIAN SIVARAMAN, Mitglied des Politbüros der Communist Party of India-Marxist Leninist (CPI-ML) und Redakteur der Monatszeitung der Partei, Liberation, nahm im Januar in Sydney an der von der Democratic Socialist Party und der Wochenzeitung Green Left Weekly organisierten Marxism 2000 Asia-Pacific Solidarity and Education Conference teil. Eva Cheng sprach am Rande der Konferenz mit ihm über die Aufgaben und Herausforderungen, vor denen die Linke in Indien steht.

Die CPI-ML entstand aus einer Spaltung in der Communist Party of India-Marxist (CPI-M) Ende der 60er Jahre, nachdem die von der CPI-M geführte Regierung des Bundesstaats Westbengalen die Kämpfe der Bauern um Land brutal unterdrückt hatte. Anfangs verfolgte die CPI-ML eine Strategie des bewaffneten Kampfes. Ende der 80er Jahre änderte die Partei ihre Strategie und ging zur legalen politischen Arbeit über.

Seitdem hat sich die CPI-ML zur drittgrößten Partei der indischen Linken entwickelt - mit einer aktiven Massenbasis in sowohl städtischen als auch ländlichen Kämpfen. Trotz ihrer immerhin 90000 Mitglieder bezeichnet Sivaraman die CPI-ML als "eine sehr kleine linke Partei".

Indiens aktuelle politische Landschaft ist vom 1998 erfolgten Aufstieg der Hindu-fundamentalistischen Bharatiya Janata Party (BJP) und ihrer Wiederwahl Ende des vergangenen Jahres geprägt. Die BJP gelangte nach Sivaramans Auffassung zur Macht, weil sie erfolgreich die Basis der führenden bürgerlichen Partei, der Kongresspartei, und der anderen bürgerlichen Parteien untergrub.

Diese anderen Parteien - ein Sammelsurium aus liberaler Bourgeoisie, Kongress-Abspaltungen, Vertretern von mittleren Kasten, die sich gegen die Hegemonie der Oberkaste bei Kongress und BJP wenden, und Kräften, die regionale Interessen repräsentieren - erzielten durch die Niederlagen des Kongresses 1977, 1989 und 1996 bedeutende Gewinne. 1996 schlossen sie sich zusammen, um die Regierung der Vereinigten Front (UF) zu bilden.

Doch als die UF-Regierung stürzte, profitierte die rechtgerichtete BJP enorm davon, während die "Mainstream-Linke" - die CPI und die CPI-M (die sich 1964 von der CPI wegen deren Moskauorientierung abgespalten hatte) - keine Gewinne erzielen konnten. Sivaraman führt dies auf die "organische Abhängigkeit" dieser Linken vom Kongress, besonders seit 1998, zurück.

Aufgrund dieser Abhängigkeit hat die Linke es nicht geschafft, die wiederholten Massenaufstände und Mobilisierungen gegen die neoliberale Politik der verschiedenen Regierungen in eine Kraft zu verwandeln, die diese bürgerlichen Regierungen herausfordern kann.

Opportunismus

Was bedeutet dieses Scheitern für die Politik von CPI und CPI-M? Der Opportunismus, so Sivaraman, ist ihr zentraler Fehler. Er kommt in einer großen Bandbreite zum Ausdruck, wie in ihrer Politik gegenüber dem Parlament, der Bourgeoisie und der Bauernschaft, sowie in ihrer Funktionsweise.

Sivaraman betont, dass es nicht darum geht, eine potenzielle Zusammenarbeit der revolutionären Linken mit der CPI-M und der CPI auszuschließen. Diese Parteien sind weiterhin bedeutende linke Kräfte mit einer starken Gefolgschaft in strategisch bedeutenden Sektoren der Arbeiterklasse. Die CPI-M hat etwa 1,7 Millionen Mitglieder, die CPI rund 850000.

Die CPI-M ist durch das Centre of Indian Trade Unions und die CPI durch den All India Trade Union Congress im staatlichen Sektor, bei Banken, Telekommunikation, in den Häfen und zunehmend bei der Eisenbahn sehr präsent. Der Einfluss dieser Parteien geht weit über ihre Größe hinaus, denn sie machen nur 2% der insgesamt gewerkschaftlich organisierten Arbeiterschaft aus, die überwiegend vom Kongress und von der BJP kontrolliert wird.

"Hinsichtlich ihrer politischen Kultur und Tradition, der öffentlichen Wahrnehmung und der Selbsteinschätzung ihrer Mitglieder sind diese Parteien Teil der ‚kommunistischen Weltbewegung‘", sagt Sivaraman. "Sogar ihre Führer müssen ihre opportunistische, auf Klassenkollaboration ausgerichtete Linie mit einer marxistisch klingenden Begründung versehen und ein marxistisches Vokabular verwenden."

Beispielsweise befürwortete kurz nach dem Zusammenbruch der UdSSR die Führung der CPI eine Änderung des Namens der Partei, um ihr abnehmendes Interesse am Marxismus zum Ausdruck zu bringen, doch Druck seitens der Basis verhinderte diesen Schritt.

Diese Koexistenz von opportunistischer Führung und militanter proletarischer Basis erfordert für die CPI-ML ein taktisch flexibles Herangehen gegenüber diesen Parteien: Zusammenarbeit zu spezifischen Fragen und Projekten und gleichzeitig ein politischer Kampf gegen sie.

Für Sivaraman haben CPI und CPI-M wenig getan, um die Werktätigen gegen die Angriffe der neoliberalen Regierung in den letzten Jahren ideologisch zu bewaffnen. Es fehlt ihnen ein kohärenter Fahrplan für die sozialen und demokratischen Kämpfe.

"Sie haben diese Politik im Parlament nicht blockiert", obwohl sie dort seit Jahrzehnten vertreten sind, seit den Wahlen im Oktober mit 35 Abgeordneten. "Faktisch waren sie in einigen Fällen Teil der Regierung."

Sivaraman zweifelt nicht daran, dass die Linke, würde sie in die Offensive gehen, "dem Klassenkampf in Indien eine andere Dimension geben könnte".

Die CPI-ML begann spät mit einer Arbeit in den Gewerkschaften aufgrund ihrer früheren Abwertung der Kämpfe der Arbeitenden um ihre elementaren Interessen als "Alltagsökonomismus". Dies änderte sich nach internen Auseinandersetzungen ab 1978. 1985 organisierte die CPI-ML ihre eigenen Gewerkschaften, anfangs bedacht darauf, das Terrain von CPI und CPI-M zu umgehen. 1987 machte sich die Partei von dieser Sorge frei und gründete ihren eigenen Gewerkschaftsverband, den All India Central Council of Trade Unions. Heute befindet sich die stärkste proletarische Basis der CPI-ML in den Bundesstaaten Tamil Nadu, Assam und Bihar.#

Um den Einfluss der Linken zu stärken, versucht die CPI-ML so oft wie möglich, Bündnisse mit anderen progressiven Kräften zu schließen. Zu den jüngsten Beispielen gehört die gemeinsame Initiative von CPI-ML, CPI-M und CPI bei den landesweiten Streiks im November 1999 gegen die Privatisierung in der Versicherungsindustrie und die allgemeine neoliberale Offensive der BJP-Regierung sowie eine große Demonstration in Bihar im Dezember, als die regionalen Leitungen der drei Parteien in diesem Bundesstaat eine gemeinsame Plattform gegen die Hindu-Rechte bildeten.

Trotz solcher positiven Beispiele bleibt die politische Zusammenarbeit zwischen den zentralen Leitungen dieser Parteien schwierig. "Manchmal wird die politische Zusammenarbeit unmöglich, z.B. wenn sie ein Bündnis mit regierenden bürgerlichen Parteien schließen oder selber in einer Regierung sind", meint Sivaraman.

Bewaffneter Kampf

Bis Mitte der 80er Jahre betrachtete die CPI-ML die illegale politische Arbeit als eine "Prinzipienfrage" für Revolutionäre. Seitdem ist sie jedoch zu der Erkenntnis gelangt, dass es sich dabei um eine taktische, von den konkreten Umständen diktierte Angelegenheit handelt.

Die Partei experimentierte an verschiedenen Orten mit diversen Kombinationen aus Untergrundarbeit und offener Massenmobilisierung. Bis heute hat die CPI-ML in bestimmten Regionen ein Element von Untergrundtätigkeit bewahrt, um Kader vor politischen Morden zu schützen, die in Indien an der Tagesordnung sind.

"Bei einem bestimmten Kräfteverhältnis kann die Partei wieder in die Illegalität zurückkehren", meint Sivaraman. "Eine besondere Abteilung der Partei ist dafür verantwortlich, sie auf eine solche eventuelle Wende vorzubereiten - über Nacht wenn nötig."

Während die Hauptlinie gegenwärtig darin besteht, so offen wie möglich zu funktionieren, hat die CPI-ML militante Taktiken wie die Bildung von Volksmilizen, die Bewaffnung der Leute mit traditionellen Waffen, die Ausbildung von jungen Menschen für den bewaffneten Widerstand, "die Entwaffnung des Feindes" und die Organisierung militanter Zusammenstöße nicht aufgegeben. Sivaraman betont, dass die Partei jedoch sehr darauf achtet, sich mit solchen Taktiken nicht von den Massen zu isolieren.

Seit sich die CPI-ML auf eine offene Arbeit konzentriert, hat sie großen Zuwachs bekommen sowie eine bessere interne Koordinierung und für ihre Massenorganisationen ein höheres nationales Profil erreicht. Die Partei ist in der Lage, auf neue Herausforderungen "rasch zu antworten", fügt Sivaraman hinzu.

Während sie früher auf den Bundesstaat Bihar konzentriert war, hat die CPI-ML sich dort weiter gestärkt und sich darüber hinaus beträchtlich auf Karnataka, Rajasthan, Orissa, Jammu und Kashmir ausgedehnt.

Sowjetunion

Von ihrer Gründung an hat die CPI-ML eine kritische Haltung gegenüber der bürokratischen Degeneration der Sowjetunion eingenommen. Auf der Grundlage der Ablehnung der aggressiven Außenpolitik der UdSSR und der Sichtweise, dass es sich um eine bürokratische Form von staatsmonoplistischem Kapitalismus handele, charakterisierte die CPI-ML die UdSSR als "sozialimperialistisch".

Doch das zunehmende Unbehagen der Partei mit dieser Position führte zu einer Neubewertung. In den 80er Jahren kam die CPI-ML zu der Schlussfolgerung, dass eine "sozialistische Ordnung" in der UdSSR existiere - trotz ihrer Entartung und Verzerrungen. Die Partei begrüßte Glasnost und die Perestroika, da sie als Versuche erschienen, die grundlegenden Probleme innerhalb des sowjetischen Systems anzupacken. Doch als der liberale Charakter dieser Veränderungen 1987/88 deutlich wurde, drückte die CPI-ML ihre Besorgnis aus.

Auch in Indien wurde die Linke wie auch in anderen Ländern Zielscheibe verstärkter ideologischer Angriffe nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Doch, so Sivaraman, führte dieser Zusammenbruch in den Reihen der CPI-ML zu keinen feststellbaren Demoralisierungen. Auch die größte Linkspartei Indiens, die CPI-M, überlebte ihn ohne größere Verluste dank ihrer relativen Unabhängigkeit. Andererseits erlitt die von sowjetischer Hilfe stark abhängige CPI einen heftigen Aderlass.

Nationalismus

Es gibt nationalistische Bewegungen in Assam und im von Indien kontrollierten Teil Kashmirs. Die CPI-ML unterstützt die Forderung nach nationaler Selbstbestimmung in Kashmir bis hin zum Recht auf Lostrennung, aber sie befürwortet die Lostrennung nicht. Für Assam lehnt die Partei eine ähnliche Forderung ab.

Sivaraman erklärt, dass sich die Position der CPI-ML zu Kashmir auf Lenins Auffassungen zur nationalen Frage stützt. "Während wir das Recht auf Lostrennung anerkennen, rufen wir nicht zur Lostrennung auf, sondern sprechen uns dagegen aus, wir wollen sie vermeiden … Diese Position ist die Voraussetzung dafür, verschiedene Nationalitäten in einem gemeinsamen Kampf für den Sozialismus zu vereinen."

"Wir vertreten das Recht auf Selbstbestimmung, einschließlich des Rechts auf Lostrennung, lediglich, um die Lostrennung zu verhindern. Diese Position ist nur ein Mittel zur Integration, nicht zur Spaltung. Das Recht auf Selbstbestimmung kann zwar von den Massen einer spezifischen Nationalität als Ziel an sich betrachtet werden, aber Leninisten dürfen dies nicht tun", betont Sivaraman.

Die kleinbürgerlich-nationalistische Bewegung in Assam war laut Sivaraman bereits im Niedergang begriffen, bevor sie zum Terrorismus Zuflucht nahm. Auf dem Höhepunkt der Bewegung war die CPI- ML die einzige linke Partei, die auf ihrer Seite stand. "Jetzt, wo die Bewegung nur noch randständig ist, müssen sich die Arbeiterinnen und Arbeiter mit den realen Problemen von Neoliberalismus und Kapitalismus beschäftigen, statt nationalistische Illusionen zu hegen."

Hauptziel der Bewegung in Assam war, den Zustrom von Siedlern aus Bangladesh nach 1971 zu stoppen. Das zur Hindureligion gehörende assamesische Volk sah sich im eigenen Land durch Bengali sprechende Muslime zu einer Minderheit reduziert. Die Herrscher über die Assamesen im Dienste der britischen Kolonialisten vor der Unabhängigkeit Indiens waren ebenfalls Bengali sprechende Muslime gewesen.

"Die assamesische Bewegung forderte, die Neuankömmlinge auszuweisen. Doch wir haben diese Forderung nicht unterstützt. Wir argumentierten, dass es sich lediglich um Arme handelte, die aus einer ärmeren Region kamen und sich in anderen indischen Bundesstaaten ansiedeln können", erklärt Sivaraman.

"Als die indische Regierung versuchte, in der Region Wahlen abzuhalten, ohne zu einem Abkommen mit der nationalistischen Bewegung zu kommen, wurde die Lage explosiv."

"Wir sehen das Problem des assamesischen Volkes und erkennen an, dass sie nicht den Preis auf Kosten ihrer Identität im eigenen Land zahlen sollten. Wir haben Sympathien für die assamesische Bewegung und arbeiten mit ihnen zusammen, doch wir haben auch Vorbehalte und Kritik und grenzen uns in bestimmten Punkten klar von ihnen ab."

Die CPI-ML befürwortet eine sozialistische Konföderation zwischen Indien, Pakistan und Bangladesh. Eine solche Föderation könntedieSpaltungzwischen Hindus und Muslimen sowie weitere schädliche Hinterlassenschaften der Teilung des indischen Subkontinents überwinden.
Sivaraman betont, dass die CPI-ML eine von Indien, dem mächtigsten dieser drei Länder, dominierte Föderation nicht akzeptieren würde. Da die Angst vor einer indischen Dominanz in den kleineren Ländern weit verbreitet ist, wird die Losung einer sozialistischen Föderation von der CPI-ML gegenwärtig als nicht angemessen betrachtet und soll eine längerfristige Perspektive bleiben.

Gekürzt aus: Green Left Weekly, Nr.392, 9.2.2000, und Nr.393, 16.2.2000.

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