„Ein
Minister hält das Maul, oder er tritt zurück“:
Auf diese relativ drastische Art und Weise hatte
dereinst Jean-Pierre Chevènement,
sozialdemokratischer Multiminister in den achtziger
und neunziger Jahren und später Gründer einer
Anti-EU-nationalistischen Kleinpartei, seine
Konzeption der Amtsführung beschrieben. Den
Ausspruch tätigte er, um ein Nichteinverständnis
mit dem damaligen Staatspräsidenten François
Mitterrand im Jahr 1983 aus Anlass seines
Rücktritts von einem Ministeramt – es sollte nicht
der letzte Rückzug Chevènements bleiben – zu
signalisieren. (Chevènement sollte jedoch später
noch mehrfach Minister werden, unter anderem
„Verteidigungs“minister von 1988 bis 91 sowie
Innenminister in den Jahren 1997 bis 2000.)
An den Spruch erinnern sich noch
immer viele Politikbeobachter in Frankreich. In
diesen Tagen müsste er allerdings wohl eine
Abwandlung erfahren. In den vergangenen Wochen
meldete sich die französische Kulturministerin
François Nyssen zu Wort - oder versuchte es
jedenfalls. Denn leider signalisierte ihr der
Elysée-Palast, dass ihre geplante öffentliche
Stellungnahme „zu Missverständnissen Anlass
geben könnte“. Daraufhin kniff die Dame
gegenüber ihrem Vorgesetzten und Staatspräsidenten
Emmanuel Macron und hielt es dann doch mit dem
Statement ihres einstigen Ministerkollegen
Chevènement, nicht in der Variante Rücktritt,
sondern eher in der Form eines Rückziehers.
Um Missverständnisse ging es
freilich nicht, eher wohl fürchtete man im
Präsidialamt, Madame Nyssen könne richtig
verstanden werden. Wie andere Prominente, die bei
der Präsidentschaftswahl im Vorjahr noch ohne zu
zögern Emmanuel Macron unterstützt hatten, verspürt
sie erhebliche Bauch- und Kopfschmerzen gegenüber
dessen Migrationspolitik. Nyssen forderte daraufhin
Mitte Januar dieses Jahres mindestens zehn Leiter
öffentlich-rechtlicher Kultureinrichtungen dazu
auf, zusammen mit ihr einen Aufruf zu
unterzeichnen, indem es unter anderem hieß:
„Stellen wir uns vor, dass unsere Kinder sich in
zwanzig, dreißig oder fünfzig Jahren umdrehen und
unser Tun befragen. Und fragen wir uns: Werden sie
stolz sein können auf das, was sie dann sehen?“
Ihre Antwort fiel wohl negativ aus. In einer
Ansprache bei einer Kulturtagung in Nantes am 17.
Januar 18 – wo sie dann doch deutlich wurde -
schlug Nyssen als Alternative zur aktuell
eingeschlagenen Politik gegenüber den Migranten
vor: „Die Kulturwelt hat die Pflicht zu
reagieren. Lasst Ihnen uns eine Aufnahme bieten,
die dieses Wortes würdig ist. Unsere Ehre, die
unserer Kultur, unserer Republik hängt daran.“
Demonstrativ weihte Nyssen kurze Zeit später
auch eine Ausstellung über Künstler im Exil ein.
Diese Worte war sicherlich
ziemlich moralisch-pathetisch formuliert. Doch die
ihnen zugrunde liegende Kritik an der derzeitigen
Migrationspolitik im Macron-Lager wird von Vielen
geteilt, auch Personen, die ihm nahe stehen. Die
staatliche Politik gegenüber den Migranten war ab
Herbst 2017 sukzessive verschärft worden, nachdem
am 1. Oktober 17 ein Tunesier im Hauptbahnhof von
Marseille zwei junge Frauen erstochen hatte und
dabei selbst erschossen wurde. Der Mann mit
psychischen Störungen, der sich in der letzten
Phase eine vage jihadistische Ideologie zulegte
(der IS bekannte sich im Nachhinein zu der Tat),
war kurz zuvor wegen Ladendiebstahls festgenommen
und in eine Abschiebehaftanstalt in der Nähe von
Lyon verbracht worden. Aufgrund von Platzmangels,
also weil Überbelegung herrschte, überdies
Wochenende war und weil sein „Fall“ damals nicht
als dringlich galt – er war nicht als so genannter
Gefährder eingestuft -, war er jedoch durch die
dortige Verwaltung am selben Tag wieder entlassen
worden.
Seitdem sollen alle
illegalisierten Migranten seine Tat in gewisser
Weise mit bezahlen, indem die Abschiebepolitik
drastisch verschärft wird. Eine ministerielle
Anweisung vom Dezember 17 – die durch mehrere NGOs
vor dem Conseil d’Etat (höchsten
Verwaltungsgericht) angefochten, allerdings durch
dieses bestätigt, jedoch eingeschränkt wurde -
ordnete zudem an, in Notunterkünften für Wohnungs-
und Obdachlose sollten Sozialarbeiter und andere
Beschäftigte dabei mitwirken, die Betreffenden nach
Vorhandensein oder Fehlen einer
Aufenthaltsberechtigung zu sortieren. Im November
17 erging bereits die Anordnung von Innenminister
Gérard Collomb, zügige Ausreisebescheide an alle
abgelehnten Asylsuchenden auszustellen.
Ein im Januar 18 als Vorentwurf
bekannt gewordenes Gesetzesvorhaben, das am
Mittwoch, den 21.02.18 vom Kabinett als
Regierungsentwurf angenommen wurde und nun ab April
dieses Jahres im Parlament debattiert werden soll,
sieht weitere drastische Verschärfungen vor. Die in
Frankreich bislang relativ kurze Abschiebehaft – in
mehreren deutschen Bundesländern kann sie bis zur
nach EU-Recht zulässigen Höchstdauer von anderthalb
Jahren gehen – soll zum Beispiel von derzeit
maximal 45 Tagen auf künftig neunzig, unter
Umständen auch 135 Tage ausgedehnt werden.
Entscheidender ist, dass ein Einspruch gegen die
erstinstanzliche Ablehnung in Zukunft in bestimmten
Fällen keine aufschiebende Wirkung mehr haben soll.
So soll eine Abschiebung möglich werden, noch bevor
die zweite Instanz, die in Frankreich beim
„Nationalen Gerichtshof für Asylrecht“ (CNDA)
zentralisiert ist, entschieden hat – wer dort
gewinnt, kann dann gegebenenfalls wieder einreisen,
wenn ihm oder ihr nichts zugestoßen ist. Keinen
Aufschub gegen Abschiebungen erhalten sollen
Asylsuchende, die einen Folgeantrag stellten, die
in Frankreich einen bestimmte Gesetzesverstöße
begingen oder die aus Herkunftsländern stammen,
welche offiziell als „sicher“ eingestuft wurden.
Doch auch bei Menschen aus „sicheren
Herkunftsstaaten“ gibt es begründete Asylgesuche,
die in der Praxis auch mitunter in zweiter Instanz
durchkommen, besonders bei spezifischen Bedrohungen
wie Genitalverstümmelung oder bei Homosexuellen.
Auch innerhalb der, erst vor weniger als einem Jahr
entstandenen Regierungspartei La République en
marche (LREM) regt sich wachsende Opposition.
Besonders Abgeordnete mit Migrationshintergrund –
in der jungen Generation wächst ihr Anteil – oder
von der Linken kommende Angehörige des eher
sozialliberalen Flügels bei LREM lassen sich kein
Blatt mehr vor den Mund halten. Seit dem
Donnerstag, 22. Februar d.J. wollen, trotz einer
expliziten Unterlassungsaufforderung von
Innenminister Collomb, um die dreißig Abgeordnete
der Regierungspartei Änderungsanträge zum geplanten
neuen Ausländer- und Asylgesetz ins Parlament
einbringen.
Bereits seit Januar dieses Jahres diskutieren auch
Intellektuelle erregt darüber, und die Pariser
Abendzeitung Le Monde sprach deswegen
am 05. Februar 18 von einem „Krieg der
Petitionen“. Ein Gastbeitrag, der sich
gegen aus Sicht der Unterzeichner zu restriktive
Änderungen im Ausländerrecht einsprach, erschien am
16. Januar 18 in derselben Zeitung. Seine
Unterzeichner waren so wenig des Linksradikalismus
verdächtige Prominente wie Laurent Berger, der
Generalsekretär des rechtssozialdemokratisch
geführten Gewerkschafsbunds CFDT, und der
sozialliberale Wirtschaftswissenschaftler Jean
Pisani-Ferry. Am 11. Januar d.J. erschien das
ebenfalls sozialliberale Wochenmagazin L’Obs
unter einem Titelblatt, das ein Konterfei
Emmanuel Macrons umgeben von Stacheldraht zeigt. Im
Blattinneren kritisierte etwa der Schriftsteller
Jean-Marie Gustave Le Clézio eine
„unerträgliche Entmenschlichung“ in der
Behandlung von Migranten und Geflüchteten durch die
Regierung.
Derzeit stehen eher
Intellektuelle an vorderer Front, da die sozialen
Bewegungen insgesamt aufgrund ihrer Niederlagen
gegen die Macron-Regierung – etwa bei den
Mobilisierungsversuchen gegen regressive Änderungen
beim Arbeitsrecht im Herbst 2017, und im Januar 18
gegen die Einschränkung des Hochschulzugangs, wozu
die Mobilisierung scheiterte – eher in einer
Flauteperiode stecken. (Allerdings könnte aus
derzeitiger Sicht der 22. März 18, also der
geplanten Streiktag in den öffentlichen Diensten
und bei der Eisenbahngesellschaft SNCF, einen
Kristallisationspunkt für viele soziale Widerstände
darstellen.)
Die gewerkschaftlich
organisierten Mitarbeiter am „Nationalen
Gerichtshof für Asylrecht“ (la CNDA, Cour
nationale du droit d‘asile) ihrerseits
traten seit dem 15. Februar d.J. in den Streik
gegen geplante Neuregelungen wie die einmal mehr
beschworene „Verfahrensbeschleunigung“, die sie als
Gefahr für die Geflüchteten wie für ihre eigene
Arbeitsbedingungen betrachten. Wenn sich die
sozialen Widerstände in den kommenden Monaten doch
bündeln sollten, dann wird dieser Aspekt keine
geringe Rolle spielen dürfen.
Editorische Hinweise
Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese
Ausgabe. Er ist die ausführliche Fassung
eines Artikels, der in der
Berliner Wochenzeitung ‚Jungle World‘ vom 22.
Februar 18 erschienen ist |