Kritische Theorie zur Befreiung der Tiere
Marco Maurizi: Jenseits der Natur

besprochen von Christian Stache

03/2017

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Das Buch umfasst teils bereits veröffentlichte, teils unveröffentlichte Thesen, Essays, Vortragsskripte und im Anhang zwei Interviews mit dem Autor in deutscher Sprache. Die Texte stammen aus den Jahren 2007 bis 2010. Inhaltlich knüpft Maurizi an frühere Beiträge an. Eine besondere Nähe besteht zu Maurizis zwei Aufsätzen für den 2007 publizierten Sammelband „Das steinerne Herz der Unendlichkeit erweichen“, den die Hamburger Vertreterin einer kritischen Theorie für die Befreiung der Tiere, Susann Witt-Stahl, herausgegeben hat. Thematisch überschneiden sich die Beiträge des Sammelbands, die leider auch zahlreiche grammatische, sprachliche und Rechtschreibfehler aufweisen, zum Teil erheblich.

Kritik des metaphysischen Antispeziesismus

Das große Verdienst, das Marco Maurizi sich innerhalb der kritischen Debatte über die Beziehungen zwischen Menschen und Tieren erworben hat, gründet auf seiner Kritik bürgerlich idealistischer Tierrechts- und Tierbefreiungstheorien und der daraus resultierenden Suche nach alternativen, historisch materialistischen Erklärungen für die Ausbeutung und Unterdrückung der Tiere einerseits und der Notwendigkeit ihrer Befreiung andererseits. Seine „Neun Thesen zum historischen und metaphysischen Antispeziesismus“ , die seinen Band eröffnen, können ohne Übertreibung als Meilenstein der kritischen, gesellschaftstheoretischen Debatte des Mensch-Tier-Verhältnisses eingestuft werden. Kurz und bündig formuliert Maurizi hier die Defizite, Fehler und Widersprüche des bis heute im Diskurs vorherrschenden „metaphysischen Antispeziesismus“ (S. 11).

Insbesondere, aber nicht allein, mit Bezug zu Peter Singers Auffassung, die Ausbeutung der Tiere sei eine Konsequenz aus dem Vorurteil der menschlichen Spezies gegenüber allen nichtmenschlichen Spezies und der damit verbundenen Forderung nach einer anderen, spezies-gerechten Ethik konstatiert der Verfasser, dass es sich dabei um eine metaphysische Position handele. Das Verhältnis zwischen Menschen und Tieren würde als „abstrakte Opposition zwischen Mensch und Tier“, Menschen „als ein Einzelding“ (S. 11) und nicht gesellschaftliche und historische Wesen begriffen. Von konkreten historischen gesellschaftlichen Entwicklungen, in die das Mensch-Tier-Verhältnis eingebettet ist, werde abgesehen und stattdessen der Geschichte die heutige Perspektive der Ausbeutung und Herrschaft über Tiere übergestülpt. Letztlich erklärten die GegnerInnen der Tierausbeutung diese bis dato aus einer Denkform, dem Speziesismus, wie ihn Singer und zahlreiche andere in diversen Varianten konzipiert haben.

Maurizi argumentiert dem entgegengesetzt in der historisch materialistischen Tradition von Marx und Engels. In „Zur Kritik des metaphysischen Antispeziesismus“, einem Essay, in dem der Autor seine Thesen noch einmal ausbuchstabiert, spitzt er seine Kritik zu:

„Natürlich will ich nicht verneinen, dass das moralische Vorurteil gegen die Tiere tatsächlich existiert – ebenso wie die entsprechende Weltanschauung. Aber ihre Existenz ist etwas gesellschaftliches und nichts individuelles. Wir beuten die Tiere aus, nicht weil wir sie als niedriger ansehen, sondern wir sehen sie als niedriger an, weil wir sie ausbeuten.“ (S. 26f.)

Der „Imperialismus des Menschen“ (Horkheimer), sei, so Maurizi, vielmehr eine „Konsequenz ökonomischer und sozialer Verhältnisse“ (S. 27). In „Marxismus und Versklavung der Natur“, dem umfangreichsten Essay des Sammelbands, weist der Autor außerdem eindringlich darauf hin, dass „kein allgemeines Interesse der menschlichen Gesellschaft an der Ausbeutung der Tiere“ (S. 55) gäbe. Je nach Gesellschaftsformation in der Geschichte haben nur bestimmte Klassen Interesse daran.

Historischer Antispeziesismus und die Kritik der Naturbeherrschung

Marco Maurizis Vorschlag für eine Alternative zum metaphysischen ist der „historische Antispeziesismus“ (S. 13), der die Herrschaft über Tiere „historisch und soziologisch“ (S. 27) begreifen und analysieren müsse. Genau in dieser Hinsicht könnte die antispeziesistische Theoriebildung vom Marxismus profitieren. Im Aufsatz „Marxismus und Antispeziesismus“, in dem Maurizi einige Ansatzpunkte und Grenzen der Indienstnahme des Marxismus für den Antispeziesismus diskutiert, hebt er hervor, dass zum Beispiel der „solidarische Materialismus“ (S. 27) in der Linie von Darwin bis zu Marcuse die Kontinuitäten zwischen Menschen, Tieren und der Natur betone und dass der Marxismus eine Analyse der realen Menschheits- und Natur-Geschichte und nicht nur die Reflexion der historischen Entwicklung des Denkens über Menschen und Tiere einfordere.

Im Zentrum der geschichtlichen und philosophischen Überlegungen der Genese des Mensch-Tier-Verhältnisses stehe allerdings, so führt es Maurizi in seiner lehrreichen Vorrede zum Sammelband aus, „die Dialektik der Naturbeherrschung samt den Folgen für Menschen und Tiere“ (S. 8), wie sie Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in ihrer „Dialektik der Aufklärung“ dargestellt haben. Die beiden kritischen Theoretiker böten

„eine fortschrittliche Interpretation und Kritik der Naturbeherrschung an: Menschen müssen die Natur beherrschen, um ihre Angst vor ihr zu überwinden; eine solche Naturbeherrschung impliziert die Aneignung der äußeren und der inneren Natur, also die Ausbeutung von Tieren und die Entfremdung des menschlichen Geistes aus der Natur. Das ist die Grundstruktur, aus der die gesamte Ordnung der Zivilisation – d.h. die Geschichte der hierarchischen Gesellschaft – verstanden werden kann.“ (Ebd.)

Die zentrale These der Frankfurter Schule habe also eine Kritik der Herrschaft über Tiere eingeschlossen und zeige den unmittelbaren Zusammenhang zwischen der Klassenherrschaft und der Herrschaft über die Tiere. In der Geschichte markiere die neolithische Revolution, das heißt die vor über 12.000 Jahren einsetzende Umstellung der menschlichen Produktion auf Ackerbau und Viehzucht sowie die beginnende Sesshaftigkeit menschlicher Familienverbände, „das Geburtsdatum der Herrschaft überhaupt, der Herrschaft über die Natur, aber auch der Herrschaft über den Menschen“ (S. 78). Mit der möglichen Erzeugung eines Mehrprodukts durch die Unterwerfung der äußeren Natur und der Tiere sei der Weg für die Herrschaft des Menschen über den Menschen bereitet worden. Wenn die Herrschaft über die Tiere und die Menschen denselben historisch-gesellschaftlichen Ursprung haben, so folgert Maurizi logisch in seiner Schlussbemerkung, in der er noch einmal die wesentlichen Ergebnisse seiner theoretischen Überlegungen zusammenfasst, dann gehörten „Menschenbefreiung und Tierbefreiung zusammen“ (S. 72).

Ferner könne man mit der Kritik der Naturbeherrschung Adornos und Horkheimers die „Trennung zwischen Mensch und Tier, Geist und Natur“ als „ideologische Widerspiegelung einer inneren Spaltung des Bewusstseins des Menschen erklären, das immer noch Natur ist und trotzdem sich selbst als Nicht-Natur vorstellt“ (S. 56f.). Um die Natur zu unterwerfen, müssten die Menschen ihre eigene innere Natur unterdrücken und ihre Zugehörigkeit zur Natur verleugnen, so dass der Widerspruch von Mensch und Natur als Äußerer erscheint.

Marx' doppeldeutiger Naturbegriff?

Marco Maurizi hat mit den Beiträgen zu diesem Band und anderen Artikeln zur Diskussion über Marxismus und Tierbefreiung das Fundament für eine Brücke zwischen beiden theoretischen Traditionen und zwischen beiden Bewegungen gelegt. Nichtsdestotrotz weisen seine Ausführungen einige Probleme für die Entfaltung einer kohärenten marxistischen Position zur Befreiung der Tiere auf. Einerseits aufgrund ihres Pioniercharakters und ihres Alters, andererseits aufgrund der Übernahme ökologisch-liberaler Kritik an Marx trotz neuer Erkenntnisse der marxistischen Forschung.

In nahezu allen Artikeln moniert der Autor zum Beispiel, Marx und Engels hätten „die menschliche Beherrschung der Natur durch Arbeit (…) gerechtfertigt“ (S. 7/33). In „Marxismus und die Versklavung der Natur“ leitet Maurizi aus diesem Vorwurf ab, Marx sei inkonsequent gewesen, weil er Natur doppeldeutig auf der einen Seite ontologisch als dynamischen Prozess, auf der anderen Seite aber „als bloßes Objekt der instrumentellen Vernunft“ (S. 34) interpretiert habe, so dass der Marxsche Naturbegriff „undialektisch“ (S. 36) sei, die „tierische Subjektivität“ (S. 34) verneint werde und man Tiere nicht als „Subjekte oder sogar Partner der Befreiung“ (S. 36) begreifen könne. Marx und Engels hätten dementsprechend „nie darüber nachgedacht, dass die Verhältnisse zwischen Mensch und Natur anders sein könnten, als sie diese durch die Herrschaftsgeschichte kennengelernt hatten“ (S. 44).

Diese Einschätzungen, die damit verbundene partielle Zurückweisung der Marxschen Gesellschaftstheorie und ihre Ersetzung durch die Kritik der Naturbeherrschung in Anschluss an die kritische Theorie, entspringen einer vereinseitigten Interpretation von Marx' und Engels' Werk. Sogar wenn Marx die Natur in seinem Hauptwerk „Das Kapital“ als Objekt der menschlichen Arbeit bestimmt, weist er darauf hin, dass es sich um einen Prozess innerhalb der Natur handelt, in dem eine Naturkraft, die Menschen, auf die Natur einwirkt und dazu von der Natur produzierte Produktionsmittel nutzt. Da Marx und Engels den Menschen – also auch den vergesellschafteten Menschen – als Naturwesen begreifen, wird Natur keineswegs undialektisch verstanden. Allerdings gehen sie nicht so weit, die Natur oder Tiere zu Subjekten zu stilisieren. Davor schrecken im Übrigen auch Adorno und Horkheimer zurück. Sie begreifen Tiere als Individuen, aber nicht als Subjekte. Das hindert aber die Gründer-Duos des Marxismus und der Frankfurter kritischen Theorie nicht daran, Natur und Tiere als Objekte der Befreiung anzuerkennen. Marx spricht in Teilen seines Frühwerks, wie zum Beispiel in den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten“, von der befreiten Gesellschaft als einer „vollendeten Wesenseinheit des Menschen mit der Natur“, einer „wahren Resurrektion der Natur“ (MEW EB 1: 538). Und im „Kapital“, entwirft Marx unzweideutig die Notwendigkeit einer nachhaltigen postkapitalistischen Gesellschaftsformation.

Wenn Maurizi aber mit seiner Kritik an Marx' Naturbegriff falsch liegt, stellt sich die Frage, wie mit Marx' und Engels' interdisziplinärer Theorie von Natur und Gesellschaft die Ausbeutung der Tiere erklärt und die Foderung nach ihre Befreiung begründet werden kann. Die Aneignung der Tiere in der gemeinsamen Geschichte müsste beispielsweise in erster Instanz als ökonomische Ausbeutung und nicht als politische Herrschaft interpretiert werden. Die Ausbeutung der Tiere wäre zudem durch die historisch spezifische Organisation der gesellschaftlichen Arbeit bestimmt, in die anthropologische Sozialpsychologie zwar eingeht, aber keineswegs als ihr einziges oder bestimmendes Element.

Zusätzlich verwendete Literatur

Adorno, Theodor W. und Horkheimer, Max (1997): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. In: Tiedemann, Rolf (Hg.).: Theodor W. Adorno. Gesammelte Schriften. Band 3. Suhrkamp, Frankfurt am Main.
Horkheimer, Max (1991): Kritik der instrumentellen Vernunft. In: Schmidt, Alfred (Hg.): Max Horkheimer. Gesammelte Schriften. Band 6. Fischer, Frankfurt am Main.
Marx, Karl (1962/1963/1983): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. In: Marx-Engels-Werke (MEW). Band 23-25. Dietz-Verlag, Berlin.
Witt-Stahl, Susann (Hg.) (2007): Das steinerne Herz der Unendlichkeit erweichen
Beiträge zu einer kritischen Theorie für die Befreiung der Tiere. Alibri, Aschaffenburg.

Marco Maurizi
Jenseits der Natur

Kritische Theorie, Marxismus und das Mensch-Tier Verhältnis
 

Verlag: Lulu
Herausgegeben: 6. Juli 2016
Seiten: 98


Preis: 6,00 € (exkl. MwSt)

Editorischer Hinweis

Die Rezension erschien im Januar 2017 bei kritisch-lesen.de.