Stadtumbau & Stadtteilkämpfe
Vortragsmanuskript zur Buchvorstellung
"Rebellische Städte" von David Harvey

von Karl-Heinz Schubert /
Februar 2014

03-2014

trend
onlinezeitung

Lesehinweis: Es wird empfohlen auch mein Konspekt zu den "Rebellischen Städten" zu lesen. Die Zahlen in den Klammern an den Zitaten bezeichnen, sofern nicht anders ausgewiesen, die Seitenzahl in den "Rebellischen Städten". Unterstreichungen in den Zitaten sind von mir.
David Harvey
Rebellische Städte

Aus dem Englischen von Yasemin Dincer
edition suhrkamp 2657
Broschur, 283 Seiten / 18,00 €
erschien am 15.04.2013

Einleitendes

David W. Harvey wurde 31. Oktober 1935 in Gillingham, in Kent in England geboren.
Von 1957 bis 1969 studierte und lehrte Harvey in Großbritannien und Schweden. Seitdem lehrt er in den USA. Sein Lehr- und Forschungsgebiet ist die Geographie. Dieses wissenschaftliche Fachgebiet bearbeitet er seit den frühen 1970ern aus marxistischer Sicht unter dem Stichwort: Geopolitik des Kapitalismus und die Stadtentwicklung. Ab 1971 begann David Harvey regelmäßig Kapitalkurse anzubieten, die man sich auch bei Youtube ansehen kann.

1.0 Harvey ein „Marxianer“

Marxianer bei: Bakunin = Etikett / Sartre = Dissidenz zur KPF / heute = Abgrenzung zu „old school“

Im Vorwort zu seinem 2011 erschienenen Buch »Marx 'Kapital' lesen« zählt er sich zu den "Marxianern" und versteht sein theoretisches Wirken als "eine konstruktive Neubewertung der Arbeit von Marx".

In der Einleitung zu diesem Buch skizziert er, was das für ihn heißt:

"Einen großen Teil meiner akademischen Laufbahn habe ich damit verbracht, der marxianischen Theorie in der Untersuchung von kapitalistischen Urbanisierungsprozessen, der ungleichen geografischen Entwicklung und des Imperialismus Geltung zu verschaffen. Diese Erfahrung hat offensichtlich Einfluss auf die Weise, in der ich heute das Kapital lese. Zunächst einmal geht es um praktische und nicht so sehr um philosophische oder abstrakt theoretische Anliegen; ich habe mich immer gefragt, was uns das Kapital dazu sagen kann, wie das Alltagsleben in den vom Kapitalismus geschaffenen Großstädten gelebt wird. In den gut dreißig Jahren meiner Beschäftigung mit diesem Text hat es alle möglichen geografischen, historischen und gesellschaftlichen Veränderungen gegeben. Einer der Gründe, warum ich jedes Jahr wieder gerne das Kapital unterrichte, ist tatsächlich der, dass ich mich jedes Mal fragen muss, was sich an der Lektüre verändern wird, was mir auffallen wird, das ich vorher nicht gesehen habe. Wenn ich immer wieder auf Marx zurückkomme, so suche ich nicht so sehr nach Anleitungen, sondern nach möglichen theoretischen Einsichten bezüglich der Veränderungen der Geografie, der Geschichte und der Menschen."(24)

2012 erschien im VSA Verlag David Harveys Buch "Kapitalismuskritik - die urbanen Wurzeln der Finanzkrise, den antikapitalistischen Übergang organisieren". Dieses Buch beantwortet die Frage, wie das Ziel des „ antikapitalistischen Übergangs“ aussehen könnte, recht vage:

"Wenn die Bewegung für eine alternative Globalisierung Ende der 1990er Jahre erklärte, »Eine andere Welt ist möglich«, können wir dann nicht auch sagen, »Ein anderer Kommunismus ist möglich« ? Wenn wir unter den heutigen Bedingungen der kapitalistischen Entwicklung zu einer grundlegenden Veränderung kommen wollen, dann werden wir etwas in der Art brauchen." (Kap.Kritik,94)

Anders in dem ein Jahr später erschienenen Buch „Rebellische Städte“. Dort heißt es am Ende des Buches:

"Stellen Sie sich einen Bund sozialistischer Städte vor, so wie die Hanse einst zum Netzwerk wurde, das die Macht des Handelskapitalismus nährte, intern uneinig und umkämpft, doch solidarisch gegen die kapitalistische Klassenmacht - und, vor allen Dingen, zutiefst verpflichtet dem Kampf zur Schwächung und letztlich zum Sturz der Macht der kapitalistischen Wertgesetze auf dem Weltmarkt, die gesellschaftlichen Beziehungen zu diktieren, in denen wir arbeiten und leben. Eine solche Bewegung muss den Weg bereiten für menschliches Gedeihen jenseits der Zwänge der Klassenherrschaft und der kommodifizierten Marktbestimmungen. (264)

Ein Bund sozialistischer Städte? Warum ein Bund? Was ist eine sozialistische Stadt? Was meint Harvey mit kapitalistischen Wertgesetzen, die durch diesen Zusammenschluss gestürzt werden sollen? Wie muss der Sturz ihrer Macht angegangen werden?

Um diese Fragen zu beantworten werde ich durch systematische Blicke in einzelne Teile des Buches das Buch als Ganzes vorstellen, um so zu zeigen, wie Harvey seine Argumentation aufbaut.

Doch zunächst möchte ich die Gliederung des Buches (283 Seiten incl. Anmerkungen) vorstellen.

Vorwort: Henri Lefebvres Vision (9)

Erster Teil: Das Recht auf Stadt 2/3 „Stadttheorie“

1. Das Recht auf Stadt (27)
2. Die urbanen Wurzeln kapitalistischer Krisen (65)
3. Die Erschaffung der urbanen Allmende (127)
4. Die Kunst der Rente (163)

Zweiter Teil: Rebellische Städte 1/3 „Stadtpolitik“

5. Die Stadt für den antikapitalistischen Kampf zurückerobern (203)

Bildnachweise (267)
Anmerkungen (269)

2.0 Die sozialistische Stadt als Ziel der antikapitalistischen Kampfes

Beginnen wir mit der sozialistischen Stadt, die die organisatorische Basis des antikapitalistischen Städtebunds bilden soll.

ALLERDINGS:
Wer nun eine griffige Definition "der sozialistischen Stadt" erwartet hat, der wird enttäuscht sein.

2.1 Fundstellen

Für Harvey ist die moderne Stadt ein notwendiges Produkt(-ionsmittel) im Prozess der kapitalistischen Produktion und Reproduktion.

Dazu Harvey im 2. Kapitel "Die urbanen Wurzeln kapitalistischer Krisen" in Teil I:

"Die Reproduktion des Kapitals durchläuft auf verschiedensten Wegen Prozesse der Urbanisierung. Doch die Urbanisierung des Kapitals setzt voraus, dass kapitalistische Klassenmächte in der Lage sind, den urbanen Prozess zu bestimmen. Dies wiederum impliziert nicht nur die Herrschaft der kapitalistischen Klasse über den Staatsapparat (insbesondere über die Aspekte staatlicher Macht, die die sozialen Bedingungen und die Infrastruktur innerhalb territorialer Strukturen verwalten und lenken), sondern auch über die gesamte Bevölkerung — über ihren Lebensstil und ihre Arbeitskraft, ihre kulturellen und politischen Werte sowie ihre Vorstellungen von der Welt. Ein solches Ausmaß an Kontrolle ist, wenn überhaupt, nicht leicht zu erreichen. Die Stadt und der urbane Prozess, der sie produziert, sind daher wichtige Schauplätze politischer, sozialer und klassenbedingter Kämpfe."(126)

Die sozialistische Stadt ist also kein fertiges Gegenmodell, sondern existiert nur als Begriff.

Ein Begriff – dessen inhaltliche Ausgestaltung durch die praktisch-politische Negation der kapitalistischen Stadt hervorgehen wird. Sie kann auch als eine eine Art „konkrete Utopie“ gelesen werden.

Zu dieser Utopie finden sich entsprechende Hinweise über das ganze Buch verstreut.

Einen ersten Hinweis lesen wir im Teil I im 1.Kapitel "Das Recht auf Stadt".

Nachdem Harvey die Stadtkämpfe von Paris 1848, 1868, 1871, den USA 1942, während der 2. Hälfte des 20. Jahrhundert bis zum Krise 2008 inklusive China ab 1998 sowie Mumbai, Seoul, Nandigram (Westbengalen), Rio de Janeiro und Kairo vorgestellt hat, stellt er fest:

"Sollten diese verschiedenen oppositionellen Bewegungen dennoch irgendwie zueinanderfinden - wenn sie zum Beispiel das Recht auf Stadt zu einem gemeinsamen Anliegen machten -, wie müssten dann ihre Forderungen lauten? Die Antwort auf diese letzte Frage ist recht einfach: größere demokratische Kontrolle über die Produktion und Nutzung des Kapitalüberschusses. Da der Kapitalüberschuss zu einem großen Teil für den urbanen Prozess verwendet wird, gründet das Recht auf Stadt darauf, dass die Verteilung der durch die Urbanisierung entstandenen Überschüsse einer demokratischen Kontrolle unterworfen wird." (59)

Da in der modernen Stadt „demokratische Kontrolle“ und Staatsfunktionen zusammenhängen, konkretisiert Harvey seine Antwort:

"Den Anteil des staatlich kontrollierten Überschusses zu erhöhen, bringt also nur etwas, wenn der Staat selber reformiert und wieder der demokratischen Kontrolle des Volkes unterstellt wird."(60)

Ein interessanter Hinweis, wie Harvey sich so eine veränderte Staatsfunktion denkt, zeigt sich in seinem Unterkapitel über die Stadtentwicklung in der VR China im 2. Kapitel "Die urbanen Wurzeln kapitalistischer Krisen":

Die rasante Entwicklung seit Beginn der Liberalisierung 1979 beruhte auf dem Gedanken, dass Dezentralisierung einer der besten Wege sei, um zentralisierte Kontrolle auszuüben. Regionalen und städtischen Regierungen, sogar Dörfern und Gemeinden, sollte es freistehen, innerhalb der Richtlinien einer zentralisierten Kontrolle und Marktkoordinierung für ihr eigenes Vorankommen zu sorgen. Erfolgreiche Lösungen, die auf lokaler Ebene erarbeitet wurden, bildeten sodann den Ausgangspunkt für die Neuformulierung der Politik der Zentralregierung." (122f)

Das „commoning“ (Herstellung und der Erhalt von Gemeingütern ) von Harvey im 3. Kapitel „Die Erschaffung der urbanen Allmende“ behandelt, könnte ein Weg sein, die Verteilung demokratisch zu organisieren:

"Wie commoning auf lokaler Nachbarschaftsebene funktionieren könnte, ist relativ klar. Zum einen braucht es dafür eine Mischung aus individuellen und privaten Initiativen, um mit externen Effekten umzugehen und sie zu bekämpfen. Zum anderen müssen bestimmte Aspekte der Umgebung aus dem Markt herausgehalten werden. Die Lokalregierung beteiligt sich mit Regelungen, Gesetzen, Normen und öffentlichen Investitionen, in Zusammenarbeit mit informellen und formellen Nachbarschaftsorganisationen"

UND

"In vielen Fällen können territoriale Strategien und Einhegungen innerhalb des urbanen Milieus zu einem Instrument werden, mit dem die politische Linke ihre Anliegen befördert." (147)

ABER es gibt die gegenläufige Tendenz zu beachten:

"Die kapitalistische Urbanisierung neigt fortwährend dazu, die Stadt als soziales, politisches und lebenswertes Gemeinschaftsgut zu zerstören."(148)

Befassen wir daher mit der „kapitalistische Urbanisierung“, deren Negation nach Harvey die „sozialistische Stadt“ ist.

3.0 Kapitalistische Urbanisierung

Harvey nimmt zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen die Parole „Recht auf Stadt“. Die Parole stammt von Henri Lefebvre, die 1968 der Titel seines Buches war, in dem er die sozialen Verwerfungen in den modernen Großstädten mit der Kapitalentwicklung zusammenbrachte und somit eine Art Rechtsanspruch auf eine urbane soziale Revolte legitimierte.

Von daher sieht sich Harvey veranlasst, bereits schon im Vorwort der „Rebellischen Städte“ ausdrücklich davor zu warnen, dass eine inhaltliche Verkürzung dieser Losung auf eine Politik im Hier und Jetzt zu einer „urbanen Sozialromantik“(22f) verkommt.

Vor allem ist das „Recht auf Stadt“ ein "kollektives Recht". Es ist nicht "individualistisch" und nicht "eigentumsbezogen" (S.27). Es ist auch nicht verkürzt auf einen gemeinschaftlichen Ressourcenzugriff zu verstehen, sondern meint die Stadt als Ganzes "nach eigenen Wünschen zu verändern und neu zu erfinden." (S.28)

Daraus resultiert für den Weg und das Ziel der sozialistischen Stadt: "grundsätzlich und radikal die Macht einzufordern, Urbanisierungsprozesse zu gestalten und mitzuentscheiden."(29)

Was ist also gemäß dieser Aufhebungsperspektive unter dem kapitalistischen Urbanisierungsprozess zu verstehen?

Nach Harvey ist die Stadt aus "geografischer und gesellschaftlicher Konzentration von Mehrprodukt entstanden".(29f) und der Kapitalismus benötige nun die "Urbanisierung, um das Mehrprodukt zu absorbieren".(29)

Diesen Zusammenhang verdeutlicht Harvey mit einen kurzen Einblick in die kapitalistische Produktionsweise:

"Sehen wir uns ein wenig genauer an, was Kapitalisten tun. Am Anfang des Tages besitzen sie eine bestimmte Geldsumme und am Ende des Tages besitzen sie eine höhere (ihren Profit). Am nächsten Tag müssen sie entscheiden, was sie mit dem überschüssigen Geld tun sollen, das sie am Tag zuvor eingenommen haben. Sie stehen vor einem faustischen Dilemma: Sollen sie das Geld reinvestieren, um noch mehr davon zu bekommen, oder sollen sie ihren Überschuss für Vergnügungen ausgeben? Die Gesetze der Konkurrenz zwingen sie zur Reinvestition, denn wenn sie nicht reinvestieren, werden andere es ganz sicher tun. Damit ein Kapitalist ein Kapitalist bleibt, muss er einen Teil seines Überschusses reinvestieren, um noch mehr Überschuss zu erwirtschaften. Erfolgreiche Kapitalisten erwirtschaften normalerweise mehr als genug, um sowohl in Wachstum zu investieren als auch ihren Wunsch nach Vergnügung zu stillen. Das Ergebnis der beständigen Reinvestition ist jedoch die Ausweitung der Überschussproduktion. Wichtiger noch, sie zieht eine exponentielle Ausweitung nach sich - daher all die logistischen Wachstumskurven (zu Geld, Kapital, Produktion und Bevölkerung), die mit der Geschichte der Kapitalakkumulation verbunden sind.

Die Politik des Kapitalismus wird beeinflusst von dem ständigen Bedürfnis, profitable Terrains für die Produktion und Absorption von Kapitalüberschüssen zu finden. Auf dem Weg zu einer kontinuierlichen und reibungslosen Expansion begegnet dem Kapitalisten jedoch eine Reihe von Hindernissen. Herrscht ein Mangel an Arbeitskräften und sind die Löhne zu hoch, müssen entweder die vorhandenen Arbeitskräfte diszipliniert ... oder neue Arbeitskräfte gefunden werden ....

Es gilt, neue Produktionsmittel und vor allem neue natürliche Ressourcen ausfindig zu machen. Dadurch wird die Umwelt einem immer größeren Druck ausgesetzt, die nötigen Rohstoffe zu liefern und die unvermeidlichen Abfälle zu absorbieren. Die Gesetze der Konkurrenz bringen außerdem ständig neue Technologien und Organisationsformen hervor, da Kapitalisten mit höherer Produktivität diejenigen überholen, die unterlegene Methoden anwenden. Innovationen bringen neue Wünsche und Bedürfnisse hervor, sie reduzieren die Umschlagszeit des Kapitals und die Reibungsverluste, die mit räumlichen Distanzen einhergehen. ....

Gibt es in einem bestehenden Markt nicht genügend Kaufkraft, müssen neue Märkte gefunden werden, indem man den Außenhandel forciert, neue Produkte und Lebensstile bewirbt, neue Kreditinstrumente entwickelt und schuldenfinanzierte Staatsausgaben steigert. Ist die Profitrate schließlich zu niedrig, gibt es immer noch Auswege: die staatliche Regulierung des »ruinösen Wettbewerbs«, Monopolbildung (Fusionen und Übernahmen) und der Export von Kapital in Regionen, die größere Renditen versprechen.

Wenn sich auch nur eine der obengenannten Hürden für die kontinuierliche Zirkulation und Expansion des Kapitals nicht überwinden lässt, wird die Kapitalakkumulation blockiert, und die Kapitalisten geraten in eine Krise. ... (30-32)

Sein Resümee lautet: (33):

"Die These, die ich hier vertreten möchte, lautet, dass sie – die Stadt - (zusammen mit anderen Faktoren wie etwa den Rüstungsausgaben) bei der Absorption des Mehrprodukts, das Kapitalisten in ihrem Streben nach Mehrwert permanent produzieren, eine besonders wichtige Rolle spielt."

Absorption = naturw.: aufsaugen/-nehmen (z.B. Schallwellen); volkswirtschaftl.: inländisches Aufzehren von Konsum, Investitionen, Import

Als soziale Folgen hebt Harvey hervor:

  • "städtische Lebensqualität, wie auch die Stadt selbst, sind zu einer Konsumware für Menschen mit Geld geworden" (45)

  • "Immer mehr Menschen leben in gespaltenen, fragmentierten und konfliktanfälligen Städten" (46)

  • "Verdrängung und Enteignung sind das Spiegelbild der Kapitalabsorption durch städtische Neugestaltung" (51)

  • "Dies führt regelmäßig zu Aufständen, um die Stadt zurückzufordern."(58)

  • "Um die neue städtische Welt auf den Trümmern der alten zu errichten, muss Gewalt angewendet werden."(48)

Diese Erscheinungsformen kapitalistischer Urbanisierung sind ihrerseits Ausdruck der diesem Prozess innewohnenden ökonomischen Krisenmöglichkeit bzw. der Krise selber.

Dieser Frage widmet Harvey das komplette 2. Kapitel „Die urbanen Wurzeln kapitalistischer Krisen“.

4.0 Krisentheorie

Harvey beginnt mit der Darstellung, wie unzulänglich die bürgerliche Volkswirtschaft mit dieser Problematik umgeht. Dann kritisiert er die traditionelle „marxistische Sichtweise“. Sie habe nie den ernsthaften Versuch unternommen, die "Urbanisierungsprozesse" in die "allgemeine Theorie der Bewegungsgesetze des Kapitals zu integrieren".(77f)

Er gründet seine Krisentheorie darauf, dass die Kapitalakkumulation in der Stadt wegen der "langen Arbeitsperioden und Umschlagzeiten" eine besondere "Dynamik" hat. Damit diese Dynamik funktionieren kann, "ist eine Kombination aus Finanzkapital und staatlichem Engagement wesentlich" (88). Ohne Berücksichtigung dieses Zusammenhangs könnte der "katastrophale Zusammenbruch des Immobilienmarkts und der Urbanisierung" 2008 in den USA, Spanien, Irland und UK nicht verstanden werden.

Denn kennzeichnend für die kapitalistische Urbanisierung ist, "wie sich bei den Aktivitäten am Immobilienmarkt die Zirkulationen von produktiven und fiktiven Kapital innerhalb des Kreditsystems vereinigen." (92)

Fiktives Kapital ist für Harvey in Anlehnung an Marx (MEW 25, 25.Kapitel):

"Geld wird an Käufer verliehen, die mutmaßlich die Fähigkeit haben, es aus ihren Einnahmen (Löhne oder Profite) zurückzuzahlen, die wiederum als Zinsstrom auf das verliehene Kapital kapitalisiert werden....

Im Fall des Wohnungsbaus etwa in Südkalifornien oder Florida kann dasselbe Finanzunternehmen sowohl den Bau als auch den Kauf des Gebauten finanzieren. In manchen Fällen organisieren die Finanzinstitute Vorverkäufe von Eigentumswohnungen in Gebäuden, die noch gar nicht erbaut worden sind. Das Kapital manipuliert und kontrolliert insofern in gewissem Maße sowohl das Angebot als auch die Nachfrage für neue Reihenhäuser und Eigentumswohnungen sowie für Gewerbeimmobilien."(93)

Dies führt direkt in die Krise:

"Ich erwerbe eine Immobilie, die Immobilienpreise steigen, und der Markt mit den anziehenden Kursen ermuntert andere zum Kauf. Wenn keine kreditwürdigen Käufer mehr übrig sind, weshalb sollte man sich dann nicht an risikofreudige Konsumenten in den unteren Einkommensschichten wenden, bis man schließlich bei Käufern ohne Einkommen und ohne Vermögen landet, die dabei noch Gewinn machen können, wenn sie eine Immobilie erwerben und dann zu einem höheren Preis weiterverkaufen? Und so geht es weiter, bis die Blase platzt." (96f)

Der gesamte kapitalistische Verwertungsprozess wird begleitet von „räuberischen urbanen Methoden“, als da wären:

1) Die Subprime-Kredite, die 2008 zur Immobilienkrise in den USA führten (106f und 110f)
2) Gentrifizierung in Großstädten der 1970er Jahre in den USA (107f)
3) Betrügerische Mietkaufmodelle in 1970er Jahren in den USA (108f)

Er kommentiert diese Befunde folgendermaßen:

Ich erwähne all diese verschiedenen Formen der Ausbeutung und Enteignung, um darauf hinzuweisen, dass schutzlose Bevölkerungsgruppen in vielen Metropolregionen systematisch mithilfe dieser und ähnlicher Methoden ausgenutzt werden. Es ist wichtig zu erkennen, wie leicht die kapitalistische Klasse als Ganze Zugeständnisse an die Arbeiter bei den Reallöhnen durch räuberische und ausbeuterische Aktivitäten im Bereich der Konsumtion ausgleichen kann. Für einen großen Teil der einkommensschwachen Bevölkerung in den Städten stellen die exzessive Ausbeutung ihrer Arbeitskraft sowie der Verlust ihrer mageren Vermögenswerte eine beständige Verringerung ihrer Fähigkeit dar, minimal angemessene Bedingungen für die soziale Reproduktion aufrechtzuerhalten. Dieser Zustand verlangt nach einer stadtweiten Organisation sowie einer stadtweiten politischen Antwort. "(111f)

Hier stoßen wir erneut auf die Verwendung der Begriffe „kapitalistische Klasse“, sowie Arbeiter und einkommensschwache Schichten, auch war im Buch bereits zuvor von Klassenkämpfen in der Stadt die Rede.

Insofern schließt sich im Kontext der „kapitalistischen Urbanisierung“ die Frage nach den ökonomischen Figuren, den sozialen Akteuren und der Klassenstruktur des urbanen Raums an.

Oder anders: Welche Klassen bilden die Stadtgesellschaft?

5.0 Klassentheorie

Im Hinblick auf die „kapitalistische Klasse, „die Arbeiter“ und „die einkommenschwachen Schichten“ macht Harvey folgende klassensoziologische Ausführungen:

  • Stadtproduzenten

Im 5. Kapitel „Die Stadt für den antikapitalistischen Kampf zurückerobern“ führt Harvey aus, wer seiner Meinung zur Klasse derer gehört, die die Stadt produzieren, aus (227-229):

  • Bauarbeiter

  • Arbeiter, die die Baustoffe herstellen

  • Arbeiter, die Wartung, Reparaturen und Erneuerungen durchführen

  • Transportarbeiter der städtischen Waren- und Personenketten

  • Arbeiter in der Energieversorgung

Danach erweitert Harvey seine Aufzählung bis hin zu Straßenverkäufern und Hausangestellten, die ihrerseits ebenfalls zur "Produktion und Reproduktion" der Stadt beitragen.

Anhand dieser klassensoziologische Betrachtung vermittelt sich, dass noch weitere Widersprüche im urbanen Raum virulent sind: Geschlecht, Hautfarbe, Ethnizität, Religion und Kultur. (232)

Sie können "jedoch genauso oft verbinden wie trennen und Formen sozialer sowie politischer Solidarität ermöglichen, die sich gänzlich von denen unterscheiden, die für gewöhnlich in den Arbeitsstätten entstehen."(233)

5.1 Die städtische Kapitalistenklasse

Sie wird von Harvey nicht empirisch beschreibend bestimmt, sondern aus der Verwertung von Wert und Mehrwert begrifflich-analytisch abgeleitet. Dazu müssen wir wieder zurück zu unserem Zitat aus dem 1. Kapitel „Das Recht auf Stadt“, wo Harvey die kapitalistische Produktionsweise erläutert. Allgemein heißt es dort:

Damit ein Kapitalist ein Kapitalist bleibt, muss er einen Teil seines Überschusses reinvestieren, um noch mehr Überschuss zu erwirtschaften.“(31)

Im 2. Kapitel treffen wir dann auf die Unterscheidung zwischen produktiven und fiktiven Kapital, mit dem jeweils Überschüsse erwirtschaftet werden(92). Als Repräsentanten nennt Harvey hierfür am Ende seines Buches – im 5. Kapitel: den Bauunternehmer und den Finanzier (260).

Im 4. Kapitel „Die Kunst der Rente“ definiert Harvey schließlich das moderne städtische Unternehmertum als ein "Verhaltensmuster", die Staatsmacht mit breiten Organisationsformen der Zivilgesellschaft und privaten Interessen zu vermischen, "die städtische oder regionale Entwicklung der einen oder anderen Art unterstützen oder verwalten sollen"(181)

5.2. Die Monopolrente

Für das Erwirtschaften von Überschüssen in der Stadt ist nach Harvey besonders die Monopolrente das Objekt kapitalistischer Begierde und bildet damit die ökonomische Basis der städtischen Kapitalistenklasse. Deshalb widmet er ihr ein ganzes Unterkapitel „Monopolrente und Wettbewerb“ (165-175).

Zur Erläuterung liefert Harvey zunächst folgende Definition von Rente: Die Basis von Rente ist die Verfügungsgewalt über Eigentum und Vermögenswerte(165). Da für ihn die Stadt ein Ort ist, wo Monopolrenten erzielt werden, wendet er sich ausschließlich dieser Form zu:

"Monopolrenten entstehen, wenn soziale Akteure aufgrund ihrer alleinigen Kontrolle über ein bestimmtes, direkt oder indirekt handelbares Gut, das in entscheidenden Hinsichten einzigartig und nicht replizierbar ist, über einen ausgedehnten Zeitraum einen erhöhten Ertragsstrom erzielen können. In zwei Situationen rückt die Kategorie der Monopolrente in den Vordergrund. Die erste liegt vor, wenn soziale Akteure eine Ressource, eine Ware oder einen Ort von besonderer Qualität kontrollieren, die andere zu einer bestimmten Aktivität nutzen wollen und die ihnen dadurch Monopolrenten bescheren..... Dies sind indirekte Formen der Monopolrente. Nicht der Boden, die Ressource oder der Standort mit seinen einzigartigen Qualitäten selbst wird gehandelt, sondern die Ware oder Dienstleistung, die durch deren Verwendung produziert wird. Im zweiten Fall wird der Boden, die Ressource oder der Vermögenswert selbst gehandelt (etwa wenn Weingüter oder erstklassige Immobilienstandorte zu spekulativen Zwecken an multinationale Kapitalisten und Geldgeber verkauft werden)." (165f)

Laut Harvey sind mit der Monopolrente zwei Widersprüche verknüpft (167).

1. Ein Monopol existiert nur in der Konkurrenz des Marktgeschehen durch seine Einzigartigkeit, die aber genau dort verloren gehen kann z.B. durch Produktion/Reproduktion eines vergleichbaren Produkts und/oder veränderter Nachfrage.(167-169)

2. Dieser Widerspruch ist das Spiegelbild des ersten, will heißen: Je unregulierter der Markt desto stärker die Konkurrenz, des größer die Gefahr der Monopolbildung durch Zentralisation des Kapitals. (169-171)

Der zweite Widerspruch begünstigt allerdings den Irrtum, dass nur große Unternehmen Monopolisten sein können. Diesen Irrtum will Harvey am Beispiel des (lokalen) Brauereiwesens widerlegen.(172/173)

Da der Kapitalismus nicht ohne die Bildung von Monopolen auskommt, entwickelt er auch Methoden zur Regulation der Märkte:

"Die naheliegende Antwort darauf ist die Zentralisation des Kapitals in Megakonzernen oder die Einrichtung loser Allianzen (wie in der Luftfahrt- und Automobilindustrie), die den Markt beherrschen. .... Eine zweite Möglichkeit ist die noch entschiedenere Sicherung der Monopolrechte des Privatbesitzes durch ein internationales Handelsrecht, das den gesamten Welthandel reguliert." (174)

UND

"Doch das Streben nach Monopolrenten beschränkt sich nicht auf die Methoden von Immobilienentwicklung, Wirtschaftsinitiativen und öffentlicher Finanzierung. Wir können es ebenfalls bei einer ganzen Reihe weiterer Aktivitäten beobachten."(185)

Eine besondere Methode zur Erzeugung von Alleinstellungsmerkmalen zur Erlangung von Monopolrenten ist die "diskursive Konstruktion".

5.3. Monopol durch diskursive Konstruktion

Ein treffliches Beispiel ist für Harvey der Tourismus. Hier zeigt sich, wie durch "diskursive Konstruktion" kollektives symbolisches Kapital und besondere Distinktionsmerkmale entstehen, indem sie mit einem Ort verknüpft werden.(186) Anhand von Barcelona(187-190), Liverpool (190) und Berlin (190-193) illustriert Harvey seine These von der Bedeutung der "diskursiven Konstruktion".

Für Berlin zeigt er auf, dass das Denkmal für die ermordeten Juden, der innerstädtische Umbau Berlins (Reichstag, Potsdamer Platz, Stadtschloss) zu widersprüchlichen Diskursen führt. Daher bestünde die Gefahr, dass Berlin - obgleich es eine strategische Funktion als Mittler zwischen Ost und West innehat - nur zu einer Ansammlung verschiedener Distinktionsmerkmale wird oder dass diese sogar verlorengehen und die Monopolrenten dadurch gefährdet wären.

Doch für den antikapitalistischen Kampf geht es nicht nur darum zu begreifen, durch welche ökonomischen Prozesse die kapitalistische Urbanisierung bestimmt ist, sondern auch welche Formen urbaner Vergesellschaftung daraus hervorgehen.

6.0 Formen urbaner Vergesellschaftung und antikapitalistischer Kampf

Dieser Fragestellung widmet Harvey ein eigenes Kapitel – nämlich das 3. Kapitel „Die Erschaffung der urbanen Allmende“.

Nachdem Harvey sich mit den Untersuchungen von Elinor Ostrom ("Allmende-Forscherin") zur Nutzung von "Allgemeinbesitz" (Allmende) in "kleinen solidarischen Ökonomien" (127-131+134+150ff) befasst hat, kommt er zu dem Ergebnis, dass sich Ostroms Erkenntnisse nicht "in globale Lösungen übersetzen lassen", sondern dass dann auf "hierarchische Organisationsformen zurückzugreifen"(131) wäre.

Elinor Ostrom (* 7. August 1933 in Los Angeles; † 12. Juni 2012[1] in Bloomington, Indiana) war eine US-amerikanische Professorin für Politikwissenschaft an der Indiana University in Bloomington. Sie setzte sich mit der Frage auseinander, wie Menschen in und mit Ökosystemen interagieren und untersuchte dazu weltweit Allmenderessourcen in Selbstorganisation u. a. in der Fischereiwirtschaft, in Bewässerungssystemen und in der Wald- und Weidewirtschaft.

Durch den Vergleich der unterschiedlichen Nutzung von Allgemeinbesitz durch „Einhegungen“ will Harvey das Problem verdeutlichen. Dazu stellt er den städtischen "Reichen" die "radikalen Gruppierungen" gegenüber.

Erstere schotten sich zum Beispiel in geschlossenen Wohnanlagen ab, um ein "ausgrenzendes Gemeingut zu definieren"(133), während die anderen, ihre erkämpften Räume einhegen, um von dort aus "eine Politik des gemeinsamen Handelns voranzutreiben"(134).

Von dort gelangt Harvey zu den städtischen "Gemeingütern" als besonders signifikanter Ausdruck von urbaner Vergesellschaftung.

6.1. Öffentliche Räume/Güter und Gemeingüter

Grundsätzlich gilt für Gemeingüter in der kapitalistischen Stadt: Sie sind von "Knappheit oder ausschließlicher Nutzung" bestimmt sind.(135). Dennoch ist es für Harvey wichtig, im Hinblick auf den Prozess der urbanen Vergesellschaftung zwischen "öffentlichen Räumen und öffentlichen Gütern sowie Gemeingütern“ zu unterscheiden:

"In der gesamten Geschichte der Urbanisierung war die Bereitstellung von öffentlichen Räumen und Gütern (wie etwa sanitären Einrichtungen, einem Gesundheitswesen, Bildung und Ähnlichem) mit öffentlichen oder privaten Mitteln entscheidend für die kapitalistische Entwicklung. Und zwar bis zu dem Maße, dass Städte zu Schauplätzen heftiger Klassenkonflikte und -kämpfe wurden, was Stadtverwaltungen häufig dazu zwang, einer urbanisierten Arbeiterklasse öffentliche Güter (beispielsweise bezahlbare Sozialwohnungen, Gesundheitsversorgung, Bildung, asphaltierte Straßen, sanitäre Einrichtungen und Wasser) zur Verfügung zu stellen. Diese öffentlichen Räume und Güter tragen zwar wesentlich zur Qualität der Gemeingüter bei, doch die Bürger und Menschen müssen politisch aktiv werden, um sie sich anzueignen oder erst zu solchen zu machen." (136)

Dagegen sollten Gemeingüter

"nicht als bestimmte Gegenstände, Vermögenswerte oder gesellschaftliche Prozesse verstanden werden. Vielmehr sollten wir sie als instabile und formbare soziale Beziehung zwischen einer bestimmten selbstdefinierten gesellschaftlichen Gruppe und den Aspekten ihrer existierenden oder noch zu erschaffenden sozialen und/oder physischen Umgebung begreifen, die für ihr Leben und ihr Auskommen als essenziell angesehen werden." (136f)

Daran schließt sich folgendes Resümee an:

"Die zentrale Einsicht lautet, dass die kollektive Arbeit, die heute Wert produziert, kollektive anstelle von individuellen Eigentumsrechten begründen muss. Wert - die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit - ist das kapitalistische Gemeingut. Es wird repräsentiert durch Geld, das universelle Äquivalent, mit dem der allgemeine Wohlstand gemessen wird. Gemeingüter sind also nichts, das es früher einmal gegeben hat und nun verschwunden ist, sondern etwas, das fortlaufend produziert wird, wie etwa die urbanen Gemeingüter. Das Problem ist, dass sie beständig eingehegt und in ihrer kommodifizierten und monetisierten Form vom Kapital beschlagnahmt werden, während die kollektive Arbeitskraft sie kontinuierlich weiter produziert." (144f)

Daher:

"Wir werden hier noch einmal daran erinnert, dass das eigentliche Problem der individuelle Charakter von Eigentumsrechten ist, sowie die Macht, die diese Rechte verleihen, um sich nicht nur die Arbeitskraft, sondern auch die gemeinsamen Erzeugnisse anderer anzueignen. Mit anderen Worten, das Gemeingut selbst ist nicht das Problem. Das Problem sind die Beziehungen zwischen denen, die es produzieren oder in unterschiedlichem Ausmaß für sich erkämpfen, und denen, die es für ihren persönlichen Gewinn an sich reißen."(146f)

Um die Prinzipien des Gegenmodells „Sozialistische Stadt“ überhaupt formulieren zu können, muss es Antworten auf folgende zentrale Frage geben:

Wie werden also urbane Gemeingüter innerhalb einer Metropolregion produziert, organisiert, genutzt und verteilt? (147)

6.2. Über Dezentralisierung und polyzentrische Steuerung

Dazu geht Harvey erst einmal auf die Vorschläge ein, die aus dem linken Spektrum kommen. In diesem Zusammenhang bezieht sich Harvey auf Murray Bookchin, der ein „polyzentristisches Steuerungssystem“, (150) favorisiert.

Murray Bookchin (* 14. Januar 1921 in New York City; † 30. Juli 2006 in Burlington, Vermont) gilt als Begründer des Öko-Anarchismus. Er war Direktor und Mitbegründer des Institute for Social Ecology (ISE) in Plainfield, Vermont sowie Professor am Ramapo College von New Jersey in Mahwah. In seiner Zivilisationskritik stellt der Öko-Anarchismus fest, dass Menschen heute die Umwelt nur noch nach Profitinteressen und Machtstreben gestalten und sich dabei nicht mehr als Teil des großen Ganzen wahrnehmen. Konzepte des proletarische Klassenkampf werden abgelehnt, stattdessen stehen strategisch Selbstverwaltung und Selbstorganisation und direkte Demokratie im Mittelpunkt.

Vom Konzept des „polyzentristischen Steuerungssystem“ grenzt sich Harvey deutlich ab, da es darauf hinausläuft, die Stadt nach den ökonomischen Ressourcen ihrer Bewohner zu fragmentieren.

UND:

"Die daraus resultierende Reproduktion von Klassenprivilegien und Klassenmacht durch polyzentrische Steuerung passt perfekt in die neoliberalen Klassenstrategien sozialer Reproduktion." (152f)

UND:

"Wie kann radikale Dezentralisierung - sicherlich ein erstrebenswertes Ziel - ohne eine übergeordnete hierarchische Autorität funktionieren? Es ist schlicht naiv zu glauben, Polyzentrismus oder irgendeine andere Form der Dezentralisierung sei ohne strenge Beschränkungen durch eine hierarchische Ordnung und deren aktive Durchsetzung möglich. Viele radikale Linke - besonders Anarchisten und Autonome - haben keine Antwort auf dieses Problem. Staatliche Interventionen (von staatlichem Zwang und staatlicher Überwachung ganz zu schweigen) halten sie für inakzeptabel, die Legitimität bürgerlicher Rechtsstaatlichkeit weisen sie generell zurück. Stattdessen besteht eine vage und naive Hoffnung darauf, dass gesellschaftliche Gruppen, die ihre Beziehungen zu ihren örtlichen Gemeingütern zufriedenstellend organisiert haben, schon das Richtige tun oder durch Verhandeln und Interagieren zu gemeinsamen Praktiken zwischen den einzelnen Gruppen finden werden, mit denen alle einverstanden sind. Damit dies geschehen kann, müssten die lokalen Gruppen externe Effekte, die ihre Handlungen auf den Rest der Welt haben könnten, völlig ausblenden und entstandene, innerhalb der gesellschaftlichen Gruppe demokratisch verteilte Vorteile aufgeben, um das Wohlergehen nahestehender (oder gar entfernter) Menschen zu retten oder zu verbessern, die als Resultat von schlechten Entscheidungen oder Missgeschicken hungern müssen oder Not leidend sind." (155)

Wegen des seit 2007 laufenden umfassenden Angriffs des Kapitals „auf die ökologischen Gemeingüter sowie auf die Gemeingüter der sozialen Reproduktion" muss die Linke diese Frage ins Zentrum ihrer Politik stellen (158f).

"Die Rückkehr der Gemeingüter als politisches Thema muss vollständig und auf bestimmte Weise in den antikapitalistischen Kampf integriert werden. Leider eignet sich die existierende politische Macht die Idee der Gemeingüter (wie das Recht auf Stadt) ebenso leicht an wie Immobilieninteressen den Wert, der aus einem tatsächlichen urbanen Gemeingut gezogen werden kann. Es geht also darum, all dies zu ändern und kreative Wege zu finden, die Macht der kollektiven Arbeitskraft für das Allgemeinwohl einzusetzen und den produzierten Wert unter der Kontrolle der Arbeiter zu belassen, die ihn produziert haben.

Dafür ist ein zweigleisiger politischer Angriff erforderlich: Der Staat muss gezwungen werden, mehr und mehr öffentliche Güter für öffentliche Zwecke zur Verfügung zu stellen, und Bevölkerungsgruppen müssen sich selbst organisieren, um diese Güter auf eine Art und Weise in Besitz zu nehmen, zu nutzen und zu ergänzen, die die Qualität der nichtkommodifizierten und ökologischen Gemeingüter sowie die Gemeingüter der sozialen Reproduktion erweitert und verbessert. Die Produktion, der Schutz und die Verwendung öffentlicher Güter und urbaner Gemeingüter in Städten wie Mumbai, Sao Paulo, Johannesburg, Los Angeles, Schanghai und Tokio wird zu einem zentralen Thema, dem sich demokratische soziale Bewegungen widmen müssen. Und dafür wird wesentlich mehr Vorstellungskraft und analytische Differenzierung nötig sein, als in den derzeit vorherrschenden radikalen Theorien der Gemeingüter zu erkennen ist, ganz besonders, da diese Gemeingüter durch die kapitalistische Form der Urbanisierung kontinuierlich erschaffen und in Beschlag genommen werden." (161)

7.0 Die Stadt für den antikapitalistischen Kampf zurückerobern

Der zweite Teil, der dem Buch den Titel (Rebellische Städte) gab, besteht aus dem 5. Kapitel „Die Stadt für den antikapitalistischen Kampf zurückzuerobern“ . Er ist der Frage gewidmet, wie aufgrund der historischen und aktuellen Erfahrungen der Stadtkämpfe der Weg aussehen könnte, den antikapitalistischen Widerstand zu organisieren und die „sozialistische Stadt“ zu erkämpfen.

7.1. Strategische Fragen

Nach einem "kurzen Abriss der stadtbasierten politischen Bewegungen" von der französischen Revolution bis heute (203-205), schlussfolgert Harvey:

"Das Urbane wirkt also als wichtiger Schauplatz für politisches Handeln und Rebellionen."(207)

Und stellt fest, dass solche Stadtbewegungen in den letzten Jahrzehnten von "Geschwindigkeit und Flüchtigkeit" geprägt. " waren und das Verstehen des "revolutionären Potenzial solcher Bewegungen eine ernsthafte Herausforderung" bedeutet. (209)

Für Harvey handelt es sich eher um eine "Bewegung der Bewegungen als (um) eine zielgerichtete Organisation"(209). Auch sind die Themen dieser Bewegungen sind "beliebig" und reichen vom Klimawandel über Rassismus bis zur Gleichstellung der Geschlechter. In diesem „Ozean aus diffusen Oppositionsbewegungen“ schwimmen die "traditionellen Formen linker Organisation" einfach mit (210) und unterschätzen bzw. ignorieren sogar "die Fähigkeit urbaner Bewegungen, einen nicht nur radikalen, sondern auch revolutionären Wandel herbeizuführen". (211)

Hieraus ergeben sich für Harvey folgende strategische Fragen:

"Sind die urbanen Manifestationen all dieser unterschiedlichen Bewegungen irgendetwas anderes als bloße Begleiterscheinungen globaler, kosmopolitischer oder gar universeller menschlicher Bestrebungen, die nicht ausdrücklich etwas mit den Eigentümlichkeiten des urbanen Lebens zu tun haben? Oder wohnt dem urbanen Prozess und der urbanen Erfahrung - den Eigenschaften des täglichen urbanen Lebens - im Kapitalismus etwas inne, das an sich das Potenzial zur Begründung antikapitalistischer Kämpfe hat? Wenn ja, was konstituiert diese Begründung und wie kann sie mobilisiert und eingesetzt werden, um die herrschende politische und ökonomische Macht des Kapitals herauszufordern, gemeinsam mit ihren hegemonialen ideologischen Praktiken und ihrem machtvollen Aufgreifen politischer Subjektivitäten (der letzte Punkt ist meiner Ansicht nach entscheidend)? Anders ausgedrückt, sollten Kämpfe innerhalb der und um die Stadt sowie um die Qualitäten und Perspektiven des urbanen Lebens als grundlegend für eine antikapitalistische Politik angesehen werden? Ich behaupte nicht, dass die Antwort auf diese Frage »offensichtlich ja« lautet. Allerdings behaupte ich, dass diese Frage grundsätzlich gestellt werden sollte."(210f)

Für die Beantwortung solcher Fragen sind polit-ökonomische Kenntnisse fundamental wichtig:

"Um die Wirksamkeit des kapitalistischen Wertgesetzes auf der Weltbühne zu bekämpfen, sind hingegen ein theoretisches Verständnis der makroökonomischen Wechselbeziehungen sowie eine neue Form der Einsicht in die technischen und organisatorischen Vorgänge nötig. Die Schwierigkeit liegt darin, die politische und organisatorische Fähigkeit zu entwickeln, die Organisation der internationalen Arbeitsteilung, der Tauschverfahren und der Beziehungen am Weltmarkt zu gestalten und sie zu kontrollieren." (216)

UND:

"Die ziemlich düsteren Erfahrungen des zentral organisierten Stalinismus und des Kommunismus, wie er tatsächlich praktiziert wurde, sowie das letztendliche Scheitern des sozialdemokratischen Reformismus und Protektionismus als Widerstand gegen den wachsenden Einfluss des Kapitals auf den Staat und seine Politik führte bei einem Großteil der heutigen Linken zu folgender Schlussfolgerung: Entweder muss der Staat »zerschlagen« werden, um einer revolutionären Transformation den Weg zu bereiten, oder die einzig realisierbare Möglichkeit, einen revolutionären Wandel herbeizuführen, besteht darin, die Produktion innerhalb des Staates autonom zu organisieren." (218)

Das Konzept der autonomen Organisierung bezeichnet Harvey als "Thermiten-Theorie", weil „an der institutionellen und materiellen Unterstützung des Kapitals wird so lange genagt (wird), bis sie zusammenbricht."(218) Allerdings ließe die Antwort des Kapitals nicht lange auf sich warten. Sie hieße:

Staatliche Gewalt incl. Militärdiktatur auszuüben, um solche politischen Praktiken unschädlich zu machen.(218f)

Über solche strategischen Fragen sind die Linken heillos zerstritten und es fehlt an allgemein akzeptierten konkreten Vorschlägen fehlt, "wie Arbeitsteilung und (monetisierte?) wirtschaftliche Transaktionen auf der ganzen Welt umgestaltet werden sollen, um einen angemessenen Lebensstandard für alle zu gewährleisten." (219)

Diesem Zustand liegt ein „strukturelles Dilemma“ zugrunde, das Harvey in folgender Frage ausdrückt:

"Wie kann die Linke die Notwendigkeit, sich aktiv in die kapitalistischen Gesetzmäßigkeiten der Wertbestimmung auf dem Weltmarkt einzubringen, mit dem Entwurf einer Alternative zu eben diesen Gesetzen verbinden, während sie die vereinigten Arbeiter dabei unterstützt, sich selbst zu verwalten und demokratisch und kollektiv darüber zu entscheiden, was sie auf welche Weise produzieren werden? Dies ist die zentrale dialektische Spannung, die den ehrgeizigen Bestrebungen der antikapitalistischen alternativen Bewegungen bislang entgangen ist."(221)

Deshalb muss nach Harvey eine "überlebensfähige antikapitalistische Bewegung" bisherige Strategien neu bewerten.

Dazu ruft er drei "unabdingbare" Fragestellungen auf:

1) Der globalen Armut kann man nicht entgegentreten, wenn man nicht die "obszöne globale Akkumulation von Reichtum" angreift.(222)
2) Die Naturzerstörung muss aufhören. Dies ist auch eine "geistige und moralische Frage" und die Suburbanisierung muss rückgängig gemacht werden. (223)
3) "Jede antikapitalistische Alternative muss die Macht des kapitalistischen Wertgesetzes beseitigen, die die Regel des Weltmarkts bestimmen. Dafür muss das herrschende Klassenverhältnis abgeschafft werden, das die fortwährende Ausweitung von Mehrwertproduktion und -realisierung unterstützt und fordert." (222f)

Diesen fügt Harvey vier "unabdingbare" Aufgaben zu:

1) Das "Wesen der Klasse" muss "fundamental anders konzeptionalisiert" und das Terrain des Klassenkampfes neu definiert" werden. (224)
2) Dazu muss anerkannt werden, dass sich die Dynamik der Klassenausbeutung nicht auf den Arbeitsplatz beschränkt ist. Es gehören nämlich folgende "Methoden der Akkumulation" dazu: Enteignung, Mietpreise, Geldwucher und Profitgier. (225)
3) Da "Urbanisierung selbst produziert" wird, stellt sich für Harvey die Frage: "Warum sollte man sich daher nicht auf die Stadt anstelle der Fabrik als wichtigsten Ort der Mehrwertproduktion konzentrieren?" (226)
4) Im "fortgeschrittenen Kapitalismus" gibt es kaum noch ein "klassisches Fabrikproletariat". Wenn wir an der Revolution festhalten, dann müssen wir "unser Verständnis des Proletariats" so verändern, dass es "die Horden der unorganisierten Urbanisierungsproduzenten einschließt".(227)

Erst in diesem Kontext erweist sich die Parole vom „Recht auf Stadt“ als politische Klassenforderung.

Denn „das Recht auf Stadt“ ist für sich genommen ein "leerer Signifikant". "Alles hängt davon ab, wer den Signifikanten mit einer revolutionären statt einer reformistischen immanenten Bedeutung zu füllen vermag."(237)

"Aus diesem Grund darf das Recht auf Stadt nicht als Recht auf das bereits Existierende ausgelegt werden, sondern als Recht darauf, die Stadt als sozialistisches Gemeinwesen nach einem völlig anderen Bild umzubauen und neu zu erschaffen - einem, das Armut und soziale Ungleichheit beseitigt und die Wunden einer verheerenden Umweltzerstörung heilt. Damit dies geschehen kann, muss die Produktion der destruktiven Formen der Urbanisierung, die eine andauernde Kapitalakkumulation ermöglichen, aufgehalten werden." (239f)

UND DAHER:

1) Damit Fabrikkämpfe erfolgreich geführt werden können, bedarf es starker Verbindungen zwischen "Arbeitern und lokaler Bevölkerung" (240).
2) Schließlich muss sich der Begriff der Arbeit verändern. Auch (private) soziale Reproduktionsarbeit ist Arbeit. (241)
Diese Veränderungen des Begriffsinhalts „Arbeit“ führen zu einer "revitalisierten Konzeption des Proletariats" und erkennen an, dass zum Proletariat gewaltige informelle Teile der Wirtschaft gehören, "in denen Menschen durch befristete und ungesicherte Arbeitsverhältnisse sowie eine unorganisierte Arbeiterschaft gekennzeichnet sind".(242)
3) Der Kampf der Arbeiter um ihren
Wohnraum, der "der Rückgewinnung und Realisierung von Mehrwert dient, muss den selben Stellenwert einnehmen wie die Kämpfe an den verschiedenen Ort der Produktion der Stadt."(243)

7.2. El Alto – ein Versuch der „Rückeroberung der Stadt“

Nachdem sich Harvey mit strategischen Fragen begrifflich theoretisch auseinandergesetzt hat, wendet er sich der Empirie aktueller Stadtkämpfe zu. Sein Material stammt aus den Klassenkämpfen in El Alto (Bolivien) 1988-2010, wie sie von Bill Fletcher und Fernando Gapasin sowie von Lesley Gill und Sian Lazar untersucht wurden. (244 – 259)

Bill Fletcher, geb. 1954 in New York City, war bzw. ist in den USA Funktionär in diversen linken Bewegungen, z.B. als Bildungsbeauftragter des Gewerkschaftsverbandes AFL-CIO. Er arbeitete auch als Unterstützer im Wahlkampf für B. Obama. 2010 war er bei der RLS eingeladen.
Fernando Gapasin
ist ein Gewerkschaftsaktivist und Co-Autor von Bill Fletcher („Solidarity Divided“ 2008)
Lesley Gill ist eine US-amerikanische Professorin für Anthropologie, sie forscht über
politische Gewalt, Geschlecht, marktwirtschaftliche Reformen und Menschenrechte in Lateinamerika,
Sian Lazar ist eine US-amerikanische Hochschulehrerin, sie untersucht die Beziehungen zwischen Lohnabhängigen, Gewerkschaften und Staat. Autorin von El Alto – Rebel City, 2008

"El Alto ist kein gewöhnlicher Ort, und es ist wichtig, seine Besonderheiten zu erläutern. Es ist eine relativ junge Einwandererstadt (erst 1988 wurde sie zu einer eigenständigen Stadt) auf dem unwirtlichen Altiplano hoch über La Paz. Die Bevölkerung besteht hauptsächlich aus Bauern, die von der sukzessiven Kommerzialisierung der landwirtschaftlichen Produktion von ihrem Land vertrieben wurden; aus Fabrikarbeitern ohne Heim und Arbeit (besonders jenen aus den Zinnminen, die ab Mitte der achtziger Jahre rationalisiert, privatisiert und in einigen Fällen geschlossen worden waren); und aus einkommensschwachen Flüchtlingen aus La Paz, wo hohe Grundstücks- und Wohnkosten ärmere Menschen seit einigen Jahren dazu drängten, sich an anderen Orten nach Wohnraum umzusehen. Daher gab es in El Alto kein fest verwurzeltes Bürgertum wie etwa in La Paz und Santa Cruz.

.... Der stetige Rückzug des Staates aus Verwaltung und Versorgung mit Dienstleistungen infolge der neoliberalen Privatisierung seit Mitte der achtziger Jahre bedeutete, dass lokale staatliche Kontrollen relativ schwach waren. Um zu überleben, musste sich die Bevölkerung aufraffen und selbst organisieren oder auf die fragwürdige Hilfe der NGOs bauen, die durch Spenden und Gefälligkeiten ergänzt wurde, die die politischen Parteien im Gegenzug für die Unterstützung bei Wahlen gewährten.

.Doch drei der vier Hauptversorgungswege nach La Paz führen durch El Alto, und die Macht, sie abschneiden zu können, wurde ein wichtiger Bestandteil der aufkommenden Kämpfe.

...El Alto vermittelte zwischen dem urbanen Raum von La Paz und dem ländlichen Raum der Region, sowohl in geografischer Hinsicht als auch in ethnisch-kultureller. Menschen- und Warenströme durch die gesamte Region zirkulierten um und durch die Stadt. Gleichzeitig war La Paz auf Arbeitskräfte im Niedriglohnbereich aus El Alto angewiesen, die täglich zwischen den Städten pendelten

....Viele der entlassenen Bergarbeiter landeten nach 1985 in El Alto und hatten große Schwierigkeiten, sich an ihre neue Situation anzupassen. Später sollte sich allerdings zeigen, dass ihr politisches Klassenbewusstsein, angetrieben von Trotzkismus und Anarchosyndikalismus, nicht vollkommen verschwunden war.

....Da ihnen keine andere Wahl blieb, als »schlecht bezahlte und nicht abgesicherte Arbeit anzunehmen, wie die große Mehrheit der Einwohner El Altos auch«, veränderte sich ihre Situation. Ihre eigene Solidarität stand früher außer Frage und es war eindeutig geklärt, wer der Klassenfeind ist. Nun mussten die Bergarbeiter eine andere und viel schwierigere strategische Frage beantworten: Wie können sie in El Alto eine Form der Solidarität innerhalb einer ethnisch breitgefächerten sozialen Anhängerschaft gestalten, die durch weitgehend unterschiedliche individuelle Geschichten, ein Mosaik aus Arbeitsbeziehungen und erbittertes internes Konkurrenzdenken gekennzeichnet ist?

.....Obwohl die sozialen Bewegungen häufig bitteren internen Streitigkeiten und Machtkämpfen zum Opfer fallen, haben sie begonnen, eine kohärentere Ideologie aus den besonderen Forderungen der verschiedenen Sektoren zu bilden. Das verbliebene kollektive Klassenbewusstsein und die organisatorische Erfahrung der entlassenen Bergarbeiter wurden damit zu einer entscheidenden Ressource. Wo sie verbunden wurden mit Praktiken lokaler Demokratie, die auf indigenen Traditionen basieren, bei denen Versammlungen für eine lokale und vom Volk ausgehende Entscheidungsfindung (ayllus) einberufen werden, wurden die subjektiven Bedingungen für die Erzeugung alternativer politischer Vereinigungen partiell verwirklicht. Im Ergebnis bildet sich die Arbeiterklasse in Bolivien als politisches Subjekt neu, allerdings nicht in ihrer traditionellen Form." (249-253)

7.3. Schlußfolgerungen

"Aus Lazars Darstellung lässt sich die Lehre ziehen, dass es tatsächlich möglich ist, aus den lähmenden Prozessen der neoliberalen Urbanisierung heraus eine politische Stadt zu errichten und damit die Stadt für den antikapitalistischen Kampf zurückzuerobern. Die Ereignisse vom Oktober 2003 sollten zwar verstanden werden als »ein äußerst zufälliges Aufeinandertreffen verschiedener sektoraler Interessen, das sich rasch zu etwas weit Größerem auswuchs, als die Regierung dem Militär befahl, die Demonstranten zu töten«. Doch die Organisation dieser sektoralen Interessen und das Erzeugen eines Verständnisses der Stadt als »ein Zentrum des Radikalismus und der Indigenität« in den vorhergehenden Jahren dürfen nicht ignoriert werden. Die Organisation informeller Beschäftigter nach dem Muster der traditionellen Gewerkschaften, das Zusammenwirken der Föderation der Nachbarschaftsverbände, die Politisierung der Beziehungen zwischen Stadt und Land, das Einrichten verschachtelter Hierarchien und Führungsstrukturen neben Versammlungen von Gleichen, die Mobilisierung der Kräfte von Kultur und kollektivem Gedächtnis - all dies liefert Denkmodelle für bewusste Handlungsmöglichkeiten zur Rückeroberung der Städte für den antikapitalistischen Kampf. Die Organisationsformen, die in El Alto zusammenkamen, erinnern tatsächlich stark an manche der Formen, die sich in der Pariser Kommune bündelten (die Arrondissements, die Gewerkschaften, die politischen Lager, starker Bürgerschaftssinn und Loyalität gegenüber der Stadt)." (259)

Damit solche „urbanen Rebellionen" strategische Allgemeingültigkeit bekommen und nicht in einen „parlamentarischen und verfassungsmäßigen Reformismus" zurückfallen, werden nicht nur Fragen „zum Staat und den staatlichen institutionellen Arrangements von Recht, Überwachung und Verwaltung, sondern auch zum staatlichen System, in das alle Staaten eingebettet sind“ von den Linken beantwortet werden müssen.(261)

Hier wiederholt Harvey, dass eine Organisation der gesamten Gesellschaft nach dem Muster einer „Konföderation eigenständiger Kommunen“ vorgefundene Ungleichheit und Ungerechtigkeit unter den Gemeinden nicht aufheben kann, sondern eher noch befördert. (262)

DAHER:

Die Frage nach dem Staat und insbesondere nach der Art des Staates (oder des nichtkapitalistischen Äquivalents dazu) kann trotz des gegenwärtigen Skeptizismus sowohl auf der linken als auch auf der rechten Seite des politischen Spektrums in Bezug darauf, ob eine solche Form der Institutionalisierung funktionsfähig oder wünschenswert ist, nicht umgangen werden. Staatsbürgerschaft und Rechte innerhalb eines Gemeinwesens höherer Ordnung stehen nicht unbedingt im Gegensatz zu Klasse und Kampf. Staatsbürger und Genosse können im antikapitalistischen Kampf gemeinsam marschieren, wenn sie auch häufig in verschiedenen Maßstäben wirken.“(263)

Nun schließt sich argumentativ der Kreis aus theoretischen Ableitungen und praktischen Erfahrungen, den Harvey in seinem Buch konstruiert hat, um sein Ziel des urbanen antikapitalistischen Kampfes – die sozialistische Stadt als Teil eines sozialistischen Städtebündnisses - plausibel zu machen. Und er lässt sein Buch ausklingen mit den Worten:

Wie Marx betonte, beginnt die Welt der wahren Freiheit erst, wenn solche materiellen Zwänge überwunden sind. Die Städte für die antikapitalistischen Kämpfe zurückzuerobern und zu organisieren ist ein großartiger Ansatzpunkt."(264)

FAZIT

"Sein Buch »Rebellische Städte« ist nicht weniger als eine systematische Untersuchung der ökonomischen und sozialen Beziehungen, die den Organismus Stadt ausmachen sowie der Widersprüche und Konflikte, die in ihm ausgetragen werden."
(Thomas Eipeldauer, Junge Welt vom 9.9.2013)

"Das Buch ist ein Hybrid verschiedener Aufsätze, die Harvey seit seinem 1973 erschienenem Buch „Social Justice and the City“ verfasst hat." (Sebastian Dörfler, taz vom 24.9.2013)

1) Das Recht auf Stadt ist ein kollektives Recht aller StadtproduzentInnen und damit Klassenrecht – Es grenzt sich gegen das individualrechtliche kapitalistische Aneignungsprinzip ab.

2) Das Recht auf Stadt ist mehr als ein Leitfaden für eine politische Praxis im Hier und Jetzt.

3) Der Kampf um sie Durchsetzung dieses kollektiven Rechts bedeutet, den urbanen Kampf zu führen für die Aufhebung des Kapitalismus mit Ziel: Sozialistische Stadt im Bündnis mit anderen Städten.

4) Das Recht und das Ziel leiten sich aus den objektiven Lebens- und Arbeitsbedingungen in der heutigen – kapitalistischen - Stadt ab. Nämlich so wie sie kollektiv produziert und subjektiv erlebt wird

5) Deshalb braucht eine moderne antikapitalistische Aufhebungsbewegung ein Verständnis der ökonomischen, politischen und kulturellen Bedingungen der kapitalistischen Urbanisierung.

Themenvorschläge zur Diskussion, die sich im Anschluss an Harvey ergeben:

  • Wohnungskampf und öffentlicher Raum

  • Stadtteilkämpfe und Betriebskämpfe

  • Bewegung und organisatorische Kontinuität

  • Basis, Räte, Netze, Hierarchien

  • Städtische Klassenstrukturen und Kapitalverwertung

  • Bedeutung der Theorie für die Praxis / Programmatische Fragen

  • Aneignung und Verteilung kollektiver Produkte und das sozialistische Ziel