Tunesien
Aktuelle politische und soziale Situation in dem Land, wo vom 26. bis 30. März das Weltsozialforum stattfindet

von Bernard Schmid

03-2013

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onlinezeitung

Neue Regierung eingesetzt. Gleich drei Selbstverbrennungsversuche an einem Tag. Unterdessen geraten die berüchtigten „Milizen zum Schutz der Revolution“ (LPR) erstmals mit der Regierungspartei En-Nahdha aneinander – Theaterdonner oder Scheidungskrise?

Junger Arbeitsloser verbrennt sich selbst: ein trauriges Déja-Vu?

Es wirkt wie ein bitteres Déjà-vu: Am Dienstag, den 12. Februar 13 verbrannte sich ein 27jähriger junger Arbeitsloser bzw. Prekärer, der mangels anderer Verdienstmöglichkeit auf der Straße Zigaretten verkaufte, selbst. ‘Adel Khadri (auch Khazri geschrieben; beides entspricht einer ungefähren Transkription aus dem Arabischen) zündete sich am Dienstag Vormittag im Stadtzentrum von Tunis selbst an und rief dabei aus: „Seht her, hier ist die Jugend, die Zigaretten verkauft, hier ist die Arbeitslosigkeit!“ Bis dahin hatte er Zigaretten auf der Avenue Bourguiba verkauft, um sich selbst über Wasser zu halten, aber auch seine Mutter und seine drei Brüder (nach dem Tod seines Vaters) zu Hause zu versorgen. Am folgenden Tag starb er gegen 05.30 Uhr früh an den Folgen der erlittenen Brandverletzungen. (Vgl. u.a. http://www.assawra.info/spip.php?article2764 und http://www.kapitalis.com )

Der bittere Zwischenfall erinnert in einigen Punkten an die Selbstverbrennung des 26jährigen, prekär seinen Lebensunterhalt verdienenden Mohamed Bou’azizi am 17. Dezember 2010. Sie bildete den Auslöser für die erste Phase der tunesischen Revolution vom Dezember 10/Januar 11; vgl. http://labournet.de/internationales/tn/sidibouzid1.html

Er erinnert – sofern nötig - daran, dass die inzwischen abgeschlossenen Phasen der tunesischen Revolution zwar einen politischen sowie Medien-Pluralismus durchsetzten, aber die drängendsten sozialen Fragen bislang mitnichten lösen konnten. Auch der seit dem 05. März 13 andauernde Hungerstreik von Lohnabhängigen bei Téléperformance, einem weltweiten führenden Unternehmen in der Callcenter-Branche mit Hauptsitz in Paris, ist ein dringlicher Hinweis darauf. (Ausführlicheres dazu in Bälde. Vgl. dazu einstweilen: http://www.lemonde.fr)

Entsprechend stark ist der Erwartungsdruck auf die derzeit und künftig Regierenden. Ohne dass absehbar wäre, dass diese Regierenden auf dieser Ebene irgendetwas lösen könnten – zumal sie keinerlei Anstalten machen, den durch den IWF oder auch die Europäische Union vorgegebenen Rahmen eines eng abgesteckten wirtschaftlichen „Modells“ zu verlassen oder mit ihm zu brechen… (Vgl. dazu https://www.facebook.com)

Neues Kabinett: erinnert an das alte…

Am Dienstag, den 13. März 13 lief auch die Vertrauensabstimmung im provisorischen Parlament in Tunis, der „Verfassungsgebenden nationalen Versammlung“ (ANC, Assemblée nationale constituante); vgl. http://www.courrierinternational.com/ Seitdem regiert das neue Kabinett unter dem bisherigen Innenminister ’Ali La’arayedh (die Apostrophen stehen für die Transkription eines eigenen Buchstabend im Arabischen) das nordafrikanische Land.

Zur Zusammensetzung des neuen Kabinetts vgl. hier http://nawaat.org ; zum Koalitionsvertrag vgl. hier: http://nawaat.org/portail/ .

Ali La’arayedh zählt eher zum eher nach bürgerlicher „Normalisierung“ strebenden Flügel der islamistischen Regierungspartei En-Nahdha zählt. Er hatte am 22. Februar die Nachfolge des am 19.02.13 zurückgetretenen Premierministers Hamadi Jebali angetreten. Er hatte daraufhin vierzehn Tage Zeit, um ein neues Kabinett vorzustellen. Kurz vor knapp, wenige Stunden vor Ablauf der Frist, präsentierte er Präsident Moncef Marzouki dann auch ein neues Regierungskabinett.

Dieses ist im Wesentlichen gegenüber dem alten unverändert zusammengesetzt: Es ist nicht gelungen, die „Troika“ genannten bisherige Regierungskoalition (aus En-Nahdha, dem „Kongress für die Republik“/ CPR von Moncef Marzouki und der sozialdemokratischen Partei Ettakatol) um weitere politische Kräfte zu erweitern – wie Spitzenpolitiker der ausscheidenden Regierung dies explizit angestrebt hatten. Im Wesentlichen bleibt die alte Koalition im Amt, wobei jedoch vier Schlüsselministerien – Inneres, Äußeres, Verteidigung, Justiz - künftig mit parteilosen Fachleuten statt mit Vertretern von En-Nahdha besetzt werden. (Vgl. etwa http://www.lefigaro.fr/ )

Dies war eine der wesentlichen Forderungen der bisherigen Koalitionspartner von En-Nahdha, vor allem von Ettakatol, für ihren Verbleib in der „Troika“ gewesen. En-Nahdha wiederum ist aus eigener Sicht auf die Koalition angewiesen, nicht allein aufgrund einer nur relativen Mehrheit im provisorischen Parlament (41 % der Sitze dank rund 37 % der Stimmen), sondern auch, um nicht allein die politische Verantwortung für Erfolge und v.a. Misserfolge der Regierung zu tragen. Denn auch En-Nahdha ahnt zumindest - trotz allen ideologischen Nebels, in dem die Islamisten wandeln mögen - dass sie die drängenden sozialen und ökonomischen Probleme des Landes eben nicht einfach lösen wird…

Eine hohe Achtung genießt im Augenblick zumindest der künftige Innenminister, Lotfi Ben Jeddou. Bislang amtierte er als Untersuchungsminister im westtunesischen Kasserine. Dort arbeitete er, trotz massiver Widerstände seitens der „Sicherheitsorgane“, an gerichtlichen Untersuchungen zur Repression während der ersten Phase der tunesischen Revolution. Die Repression hatte im Januar 2011 in Kasserine sowie El-Kef, beide in der Nähe der algerische Grenze gelegen, die meisten Todesopfer gefordert. (Vgl. zu ihm etwa: http://maghreb.blog.lemonde.fr)

Am Donnerstag, den 14. März „entschuldigte“ sich der neue Premierminister ’Ali La’areyedh öffentlich für die ausgesprochen geringe Frauenpräsenz in seinem Kabinett, welchem nur zwei Frauen angehören... (Vgl. http://www.tunisienumerique.com und http://nawaat.org )

Wutdemonstration und neue Selbstverbrennungsversuche

Wenige Minuten später begann im westtunesischen Dorf Souk Jemaa die Beerdigung des 27jährigen Arbeitslosen ’Adel Khadri (Khazri), der sich zwei Tage zuvor verbrannt hatte. Seine Beerdigung, zu der mehrere Hundert Menschen in dem schwer zugänglichen – und nur sehr schlecht an den Verkehr angebundenen – Dorf kamen, wandelte sich in eine Zornes- und Protestdemonstration um. Vgl. etwa http://www.assawra.info/

Am selben Tag, am Donnerstag (14. März), fanden allein drei Versuche von öffentlicher Selbstverbrennung in Tunesien statt; vgl. http://www.tunisienumerique.com Solche dramatischen Ereignisse geben einen Eindruck davon, wie drängend zugespitzt ihre soziale Lage von sehr vielen Menschen (vor allem jungen Tunesier/inne/n und Einwohner/inne/n der küstenfernen Regionen, oder Menschen mit Familienangehörigen dort) empfunden wird. Der neue Premierminister La’arayedh sprach in seiner Antrittsrede selbst davon, dass „der Terrorismus“ (der Salafisten) sowie „die sozialen Spannungen die Zukunft des Landes bedroh(t)en“, vgl. http://www.assawra.info/spip.php?article2775

Auch die politische Lage bleibt zugespitzt. In der Küstenstadt Sousse versuchten bislang Unbekannte, einen örtlichen Vertreter des linken Bündnisses Front populaire / Djabha Scha’abiya (ungefähr „Volksfront“, oder „Front der Unterklassen“) zu ermorden. Vgl. http://www.tunisienumerique.com/

Nicht unbedeutend ist unterdessen, dass bei den jüngst stattgefundenen Studierendenparlamentswahlen die „klassische“ tunesische Studentengewerkschaft UGET offenbar die Studierendenvereinigung, die der islamistischen Regierungspartei En-Nahdha nahe steht, deutlich schlagen konnte. Vgl. http://thalasolidaire.over-blog.com

Geht es den LPR endlich an den Kragen?

Eine immerhin tröstliche Aussicht besteht darin, dass die finsteren Wichte der so genannten „Ligen für den Schutz der Revolution“ (LPR, Ligues de la protection de la révolution) ihren Aktionsspielraum verlieren könnten. Die LPR stellen Mobilisierungsorgane – Kritiker/innen sprechen auch von „Milizen“, freilich i.d.R. unbewaffneten – der islamistischen Regierungspartei En-Nahdha dar. Sie bestehen aus Aktivisten, die En-Nahdha mindestens nahe stehen, und setzen seit der zweiten Jahreshälfte 2012 verstärkt Oppositionelle und Gewerkschaften mit Mobilisierungen gegen „Korrupte“ und angebliche „Kräfte des alten Regimes“ unter Druck. Am 18. Oktober 2012 begingen diese „Ligen“ in der südtunesischen Stadt Tataouine ihren ersten politischen Mord, und am 04. Dezember 12 zeichneten sie für schwere Tumulte vor dem Gewerkschaftshaus der UGTT in Tunis verantwortlich.

Am Dienstag, den 12. März 13 fror ein Gericht in Tunis die Aktivitäten des nationalen Dachverbands der „Ligen“ sowie ihrer sämtlichen Untergliederungen für die Dauer eines Monats ein; vgl. http://www.businessnews.com - Der Generalsekretär der Regierung hatte zuvor gegen den Verband geklagt, nun muss die Gesetzmäßigkeit seiner Aktivitäten untersucht werden; ihr „Einfrieren“ stellt nur eine vorläufige Maßnahme dar. Am 06. März 13 hatte die Regierung bereits angekündigt, es handele sich nur „um einen ersten Schritt zu ihrer Auflösung“ (vgl. http://www.courrierinternational.com/ ).

Noch können Zweifel daran aufkommen, denn nicht alle Strömungen oder Untergruppen der – politisch zerfaserten – Regierungspartei En-Nahdha dürften es so einfach akzeptieren, dass ihnen solcherart ein Druckmittel aus der Hand genommen wird. Gleichzeitig wuchs der politische Druck auf En-Nahdha in dieser Frage so stark, dass jedenfalls ihre an die Regierung angebundene Fraktion sich gezwungen sieht, die außerinstitutionelle Gewalt (wie sie stark von den LPR ausgeht) erheblich zurückzufahren und eine Art bürgerlich-institutioneller „Normalisierung“ anzustreben. Schließlich wurde erst Ende Februar 13 ein mutmaßliches Mitglied der LPR im Zusammenhang mit dem Mord an dem Anwalt und Oppositionspolitiker Chokri Belaïd festgenommen, vgl. http://www.webdo.tn ; auch wenn inzwischen verlautbarte, „nur“ der Fahrer des Fluchtmotorrads sei dingfest gemacht, der (neue) „Hauptverdächtige“ befinde sich hingegen noch auf der Flucht.

Am 16. Februar 13 hatte unterdessen der bisherige landesweite Chef der LPR, Mohamed Maalej, seinen Rücktritt erklärt und angekündigt, „eine eigene politische Partei zu gründen“ (vgl. http://www.assawra.info). Ein Entlastungsmanöver zugunsten von En-Nahdha?

Bemerkenswert ist unterdessen auch, dass der im Golfstaat Qatar ansässige TV-Sender Al-Jazeera in jüngster Zeit detailliert über einen „Kongress“ der LPR in Al-Kram - einer Banlieue von Tunis – berichtete. Und vor allem, dass die „Ligen“ ankündigten, Filialen im Ausland und zuerst konkret in Qatar zu eröffnen. (Vgl. http://www.businessnews.com.) Zeichnet sich hier die Hand der reaktionären Golfmonarchien im Spiel ab?

Editorische Hinweise

Den Artikel erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.