Der Diskurs der Festung Europa – Ressentiments und Rückständigkeit.
Betrachtet am Beispiel von Friedrichs „Wirtschaftsflüchtlingen“ und weiteren

von Birgit von Criegern

03-2013

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Dieser Innenminister zeigt sich schon ziemlich dauer-beschäftigt mit Grenzprojekten. Eine kurze Übersicht: Im ersten Halbjahr 2012 blieben Hans-Peter Friedrich und sein Ministerium entgegen breiter Kritik beharrlich auf dem Kurs für Flughafen-Schnellverfahren und den neuen Asylgewahrsam am Großflughafen BER Berlin-Schönefeld – der Bau wurde im Sommer 2012 fertiggestellt, während die Flughafenerweiterung selbst noch ins Ungewisse aufgeschoben ist auf einen fernen Tag! Außerdem sorgte sich der CSU-Politiker vor Jahresfrist gemeinsam mit sechs europäischen AmtskollegInnen darum, dass die griechisch-türkische Grenze  abgeschottet und gegen vermeinte „Illegale“ bewacht werden solle, was Pro Asyl zu der Einschätzung brachte: „Bundesinnenminister Friedrich schürt Ressentiments gegen Schutzsuchende“ (Pressemitteilung von Pro Asyl 8.03.12; siehe auch: „Allianz gegen illegale Migration“, Neues Deutschland, 9.03.12) und erzielte hinwiederum diesseits der europäischen Außengrenzen einen Vorstoß zu einer Schengen-Reform mit schärferen Grenzkontrollen ( siehe z. B. „Schärfere Kontrollen an den Grenzen“, Neues Deutschland 21./22.4.12), ebenfalls ging es hier gegen „illegal“ erklärte Einwanderer und Asylsuchende. Was ihm dann im zweiten Halbjahr 2012 unter den Nägeln brannte, waren die „Sozialleistungen“ für hier lebende Menschen im sogenannten Asylverfahren – seit jene per Urteil vom Bundesverfassungsgericht im Juli 2012 um 110 Euro aufgestockt werden sollen, weil sie für viel zu niedrig befunden worden waren, fand es Friedrich für nötig, vor vermeintlichen „Wirtschaftsflüchtlingen“ zu warnen, die jetzt „ermutigt“ seien, ins Land zu reisen, weil ihnen hier Bargeld winke. 

 Friedrich konterte dabei das Verfassungsgerichtsurteil mit der Forderung nach mehr Kontrollen, wobei er den Fokus speziell auf serbische und mazedonische EinwandererInnen lenkte – deren eventuelle Ausweisung bei Leistungsmißbrauch solle durch neue „migrationspolitische Erwägungen“ möglichgemacht werden. Die Berichterstatterin “Twister” im betreffenden Artikel bei “Telepolis” vom 28.12.12 merkte hire an, dass der Minister mit seinem Vorstoß ein gesprochenes Rechtsurteil offen mißachtet. Leider wurde dann tatsächlich auch in diesem Winter wieder die Rückschiebung von BalkaneinwandererInnen durchgeführt. Friedrichs Wort vom „Wirtschaftsflüchtling“ ist umso perfider, als es sich bekanntermaßen bei EinwandererInnen aus Osteuropa auch um Roma handelt, die in den Balkangebieten meist in völlig ungesicherten Verhältnissen ums Überleben kämpften und von Verfolgung bedroht sind, die also buchstäblich zur Flucht genötigt sind. Anstatt in der Sprache endlich neue Termini zu finden, die dem Schutzanspruch von besonders gefährdeten ethnischen Minderheiten wie den Roma gerecht würden, wurde hier wieder ein Stammtischwort aktiviert, das im Gegenteil dazu geneigt ist, gefährliche Tendenzen der Ausgrenzung und Beschuldigung noch anzuheizen.

 Mit dem Wort “Wirtschaftsflüchtling” hält die Politik keinerlei Aufschluss bereit, im Gegenteil, es transportiert Ressentiments gegen Flüchtlinge, deren tiefe Not es versimpelt und deren tiefe und stichhaltige Fluchtgründe es ganz einfach inhaltlich unterschlägt. Und es kann eine gefährliche Dynamik erzeugen, da es sich auch in das hirnverbrannt-irreale und ressentimentgeladene Weltbild wiedererstarkender europäischer FaschistInnen fügt.  Dass hier in der Bezeichnung Verhältnisse geradezu auf den Kopf gestellt werden, werden wir im Folgenden ausführen.

Friedrich bleibt seit Ende letzten Jahres auf dieser Argumentationsschiene und ereifert sich seit einiger Zeit auch noch explizit gegen „Armutsmigranten“ aus Bulgarien und Rumänien. Am 4.3.13 wetterte er im Spiegel , „wer nur komme um Sozialleistungen zu kassieren und das Freizügigkeitsrecht zu missbrauchen“, müsse „wirksam abgehalten werden“ (Siehe „Friedrichs Sündenböcke“, Junge Welt, 6.03.13) –wie die JW-Autorin Ulla Jelpke anmerkt, sei jetzt vermutlich auch der Wahlkampf ein Motiv für diese bedenklichen Töne. Sekundiert wurde Friedrich vom Präsidenten des Ifo-Wirtschaftsinstituts Hans-Werner Sinn, der ebenfalls eine „Erosion des deutschen Sozialstaats“ drohend sah und Zuwanderung  begrenzt sehen wollte. Sorgen bereitet Friedrich der Termin 1. Januar 2014, wenn die letzten Einschränkungen fallen, mit denen die Bundesregierung den deutschen Arbeitsmarkt gegen Arbeitssuchende aus Rumänien und Bulgarien vorbehielt.

 Das Klischee vom „Wirtschaftsflüchtling“, in Kameras und Mikrophone hineingeschwafelt,  kann eine unverantwortliche Wirkung haben. Erinnern wir uns nur an die jüngsten Pogrome gegen Roma im vergangenen Jahr in Ungarn und an die ständigen Gefahren der Übergriffe oder die gesellschaftliche Ausgrenzung in Rumänien, aber auch in Italien, Frankreich und Deutschland, so zeigt die Politik der Grenzkontrollbeflissenen ihre Rückständigkeit oder Ignoranz, da sie keine konsequente Schutzmaßnahme aufstellen oder suchen, sondern vielmehr Vorurteile neu ankurbeln.

Übrigens höre ich aus obigem Klischee außerdem am Rande auch ein hierzulande übliches „verdinglichtes Denken“ (Adorno) heraus, das sich nicht zu blöd ist, „die Leistung“- und die deutsche Leistung- , das quasi-vergötzte Sozial-Geld zum zentralen Ding-Objekt für unser Sein zu erklären, und Geflüchteten zu unterstellen, für dieses Ding ( das nur verzehrt werden , aber nur mit Zauber gewinnhaft gehortet werden könnte) aus hunderten Kilometern Entfernung anzureisen, um sich hier der Untätigkeit hinzugeben. Kurz gesagt, wer das bisschen Stütze so verkultet, muss irgendwie selbst davon besessen sein, so jemand muss nicht ganz richtig ticken. Perfiderweise wird dabei vom Innenminister verschwiegen, dass Flüchtlinge hier jahrzehntelang viel zu wenig Sozialgeld, 240 bis 280 Euro, bekamen, und das Dach überm Kopf normalerweise als kapitalistisches Almosen in Form von Baracken und Abriß-Kasernen zugebilligt erhalten. Die Scham dafür hat das Ministerium noch gar nicht aufgearbeitet, sie sollte ihm als Pflichtpensum auferlegt werden, das wäre schön.

 Gar logisch könnte es aber sein, dass nun auch Hans-Werner Sinn, der zum Beispiel schon vor Jahr und Tag die Liberalisierung des Arbeitsmarktes im Verlauf von Hartz IV mit Niedriglöhnen und Deregulierung verteidigte, sich ebenfall für dieses Gerede ins Zeug legt. Die europäische (Geld)freiheit meint Liberalismus in erster und zweiter Linie, und der Marktliberalismus behauptet sich hier auch zu einem gewissen, vermutlich wachsenden Anteil von ungesicherten BilliglöhnerInnen. Dass Freizügigkeit in Europa nicht nur Arbeitsbereitschaft, sondern auch Rechte und Absicherungen mit sich bringen könnte, wird jetzt mit einemmal als unerhörter Luxus erachtet. Dass auch die EinwandererInnen der Balkanstaaten hier an einem Sozialstaat teilhaben sollten und hier eine letzte Konsequenz aus der Öffnung und europaweiten Liberalisierung ziehen- welche Ungeheuerlichkeit, meinen diese hier!

 Wie aber, wenn erst umgekehrt ein Ganzes draus würde, und wenn die Behauptung vom „Wirtschaftsflüchtling“ von manchen Verhältnissen ablenkte? Sind es nicht gerade eben die BilligarbeiterInnen, die Geflüchteten, auch oft die Papierlosen, die am wenigsten Gesicherten , von deren Arbeit hier die Prestige-Wirtschaft ihren Nutzen samt Gewinn zieht? Zu ihnen zählen besonders maßgeblich auch EinwandererInnen aus Rumänien, Bulgarien, Mazedonien, Serbien. Und solange sie hierzulande unter prekärsten Bedingungen arbeiten, mag ein Friedrich und ein Sinn ihnen das Seinsrecht in Deutschland zubilligen.Was aber, wenn sie nicht einmal bezahlt werden?

Bekannt wurde nur ein solcher Fall am Berliner Großflughafen BER, besonderem Prestige-Projekt am Ort (dessen Prestige noch vor einem Jahr nicht von platzenden Terminen und Planverschiebungen angekratzt war). Damals berichtete ein Film von osteuropäischen Arbeitern, die Anfang 2012 um ihren Lohn geprellt wurden, nachdem sie monatelang geschuftet hatten. „Als sie sich wehrten, wurden sie gekündigt“, heißt es im Bericht „Dumpinglöhne am Airport“ vom Neuen Deutschland 13.04.12. „Die Leute werden in ihren Ländern über Anzeigen oder das Internet angeworben, dann treten Vermittler auf den Plan, von denen sie nur Vornamen und Handynummer kennen“, erklärt im Bericht eine DGB-Sprecherin, die diese Praxis als eine Art „Geschäftsmodell“ einschätzt.  

60 ungarische Arbeiter hätten sich zur Wehr gesetzt, im Film wurde daraufhin auch von einigen Kollegen- bis zu hundert insgesamt- aus Bulgarien, Lettland und Rumänien von Betrug bei den Lohnversprechen erzählt. In welche Anzahl solche Fälle gehen mögen, wer kann das sagen, zumal die Anzeige bei einer Gewerkschaft oder beim Arbeitsgericht sicherlich nicht zum Normalfall zählt?

Werden BilligarbeiterInnen aus Osteuropa hier nun auch noch beanspruchen, sich zwischen den Zeitarbeitsstellen oder den schlecht entlohnten Jobs oder den Aufträgen als Scheinselbständige in einem Werkvertrag- wobei sie sich dann auch noch selbst komplett versichern und Steuern zahlen müssen- bei einer Sozialleistung oder Arbeitslosengeld vorübergehend zu erholen, zu orientieren und arbeitsrechtlich zu organisieren, könnte das dem Konzept von „Europa“ in den Köpfen der Liberalen und der führenden Politik von Christ- bis Sozialdemokratisch  widersprechen.

 Noch in einer weiteren Hinsicht kann das Klischee „Armutsflüchtling“ Verhältnisse upside down drehen und von Tatsachen ablenken.  Die europäische Wirtschaft selbst sichert sich ja  auf Kosten anderer Länder ihre Marktführung, ihre Gewinne auf dem Weltmarkt, ihre Arbeitsplätze auf diesem Weltmarkt, und die Rohstoffe für den Konsum des industriellen Nordens – aus Ländern des Trikonts, in denen Not herrscht: Von den Rohstoffen aus kongolesischen Minen, die bei Menschenrechtsverletzungen der einheimischen Arbeitenden   gefördert werden (“Bei metallischen Rohstoffen führt kaum ein Weg an Menschenrechtsverletzungen vorbei”, Christoph Mann, Telepolis 20.04.12) bestreiten die westlichen Großkonzerne die Produktion für die europäischen technischen Gepflogenheiten, für den europäischen Konsum und die europäischen Arbeitsplätze, sowie für die Konzerngewinne. Vom Uran aus Nigeria wird die Energieversorgung der französischen Atomkraftwerke durch den Konzern Areva zu 40 Prozent gesichert (Bericht der “Graswurzelrevolution”, Februar 2013), wobei die Gewinnbeteiligung der dortigen Bevölkerung lächerlich gering veranschlagt wird im Vergleich zum Konzerngewinn.

Maßgeblich hat der Norden aber die lebenswichtige Nahrungsquelle afrikanischer BewohnerInnen, den Fisch, so weit ausgebeutet, dass sie zu einer ernsten Ernährungs- und Beschäftigungskrise führte. “Europas Raubzüge zur See” führten, so der Bericht in Le Monde Diplomatique im Januar 2013, zu einer Überfischung der afrikanischen Gewässer von dramatischem Ausmaß. “Die Hälfte des tierischen Eiweißes, das die Bewohner von Ländern wie Bangladesch, Gambia, Senegal, Somalia oder Sierra Leone verzehren, stammt von Fischen. Speziell in Afrika boten Fisch und Meerestiere bei Dürreperioden immer wieder eine Nahrungsalternative…Doch seit die Fischereigroßmächte von Europa, Russland, Korea, Japan und neuerdings auch China die tropischen Gewässer entlang der afrikanischen Küste anfahren, machen sie den örtlichen Kleinfischern Konkurrenz und bedrohen die Nahrungsmittelsicherheit ganzer Länder.” Beispielsweise sei die Zackenbarschpopulation vor Westafrika in den letzten zwanzig Jahren um 80 Prozent zurückgegangen.

Die Ausbeutung der Naturvorräte in Ländern des Südens durch den Norden wird jedoch nie ernsthaft als dringliches Problem von der Brüsseler Politik oder den Innenministern den EU-Staaten thematisiert, geschweige in Verbindung mit einer Asylreform gebracht. Hohn ist das Wort vom “Wirtschaftsflüchtling” also auch während einer hegemonialen Marktausübung gegen die Opfer dieser globalen Marktkonkurrenz.

 Vor allem jedoch wird in der Behauptung vom “Wirtschaftsflüchtling” die Tatsache von Krieg, Diskriminierung und Entrechtung aufgrund des Geschlechts oder der ethnischen Zugehörigkeit, und von einer Vielzahl anderer Fluchtmotive unterschlagen und totgeschwiegen. Im Abschottungsdiskurs europäischer politischer (oder andere ) Akteure wird außerdem auch eine Rückständigkeit deutlich, die sich in einem ganz bestimmten  Schweigen äußert – in der Ignoranz gegen soziale und ökologische Entwicklungen als Folgen der Globalisierung, die noch immer keine Motivation führten, die Kriminalisierung von Flüchtlingen zu stoppen und zu einem allgemeinen Asylrecht überzuleiten.

 Das läßt der neue Report vom Januar 2013 „Auf der Flucht vor dem Klima“ ahnen, der zeitgenössische Globalisierungsfolgen und ihre Konsequenz in einem ganzen Komplex von zerstörerischen Effekten auflistet, und der bislang – wie auch frühere Reporte  über dieses Thema –  nicht von Brüssel oder von der deutschen Regierung in Betracht gezogen wird, um von der Abschottung der EU-Außengrenzen abzurücken oder das Vokabular über Fluchtgründe endlich zu ändern.

Der Report der Flüchtlingshilfsorganisationen Medico International, Pro Asyl und weiterer Organisationen fordert u.a., “Europäische Verantwortlichkeiten” wahrzunehmen und u.a. : “Die Illegalisierung und Kriminalisierung von MigrantInnen (zu) verhindern, speziell im Hinblick auf Menschen, die aufgrund von Klimafolgen abwandern” (Report, S. 28). Des weiteren werden “dringend Reformen in den internationalen Handelsbeziehungen und speziell in der Eu-Subventions- und Fischereipolitik”angeraten. (Report, S. 28) Im Report wird die Verflechtung der Gründe für Flucht, von wirtschaftlicher Ungleichheit, Landkonflikten bis hin zu Bürgerkriegen, Hungerkatastrophen und ökologischen Folgen der Umweltzerstörung wie Anstieg des Meeresspiegels und Bodenerosionen (unter anderen) dargelegt ( und in den zahlreichen Fakten und Ausführungen lässt sich die ganze Gegendimension zur Argumentationsqualität und zum Nicht-Wissen-Wollen eines deutschen Innenministers mit seinem „Illegalen“-Termini etc. erfassen. Und auch in diesem Report wird z. B. auf die “Vernichtung von Lebensgrundlagen in den Ländern des Südens” auf dem Gebiet der Fischerei hingewiesen: “Es war in erster Linie die EU, die die Existenz westafrikanischer Fischer mit industriellen Fangmethoden ruiniert hat.” (S. 9)

Die Flucht vor Umweltschäden und Klimawandel ist laut dem Report ein Phänomen, das  immer noch nicht in der EU zu einer verbindlichen Erneuerung bei der Definition des Flüchtlingsstatus geführt hat. Dabei ist aber genau dieses Phänomen überdeutlich und werde noch wachsende Bedeutung bekommen: “Die meisten Schätzungen gehen davon aus, dass heute bereits mehr Menschen vor Umweltkatastrophen fliehen als vor Kriegen. Nach UN-Schätzungen werden in den kommenden Jahren mehr als 50 Millionen Menschen aufgrund von Wüstenbildung , Überschwemmungen oder anderen ökologischen Katastrophen ihre Heimat verlassen.” (S. 11)

Die Ignoranz im Abschottungs-Diskurs ist empörend, weil sie täglich die Opfer von Kriegen, von Gewaltakten und von Verlust der Lebensgrundlage kriminalisiert, fordert also in gewisser Hinsicht die Vernunft der EU-BewohnerInnen, der ZeitzeugInnen, geradezu heraus, um sich mit den Flüchtlingen zu solidarisieren. Die Argumentation der Grenzschließer, wie oben, stemmt sich geradezu gegen die Zeit, denn in der Zeit haben sich die zerstörerischen Folgen der geheiligten Marktwirtschaft mit ewiger Expansionssucht gezeigt. Es scheint mir zumindest, als würde damit der Wahnwitz der Abschottung immer rigider, und die Aufmerksamkeit der Bevölkerung kann jeden Tag entscheiden, ob der Kurs allgemein bejaht wird oder nicht. – 2013

Editorische Hinweise

Wir erhielten diesen Text von der Autorin. Er ist auch auf deren Blog veröffentlicht und kann dort kommentiert werden.