Die Crux der Behandlung psychischer Erkrankungen
Eine Annäherung an ein kompliziertes Thema

von Erica Mühsal

03-2013

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Plötzlich sind Linke in der Thematik drin. Ganz unverhofft. Das Berliner Landgericht hat die Zwangsräumung einer schwerbehinderten 67-jährigen Rentnerin in Reinickendorf in letzter Minute gestoppt.  weitere Infos: http://zwangsraeumungverhindern.blogsport.de/

In der Linken wird Rosemarie F. als schwerbehinderte Rentnerin gesehen, die zwangsgeräumt werden soll. Die Zwangsräumung wird zum Symbol, die unbedingt verhindert werden soll.

In der bürgerlichen Presse wird Rosemarie F. als psychisch kranke Täterin dargestellt, die ihre Nachbarn tyrannisiert. Eine Annäherung an das Problem.

Hier eine ausführliche „Problem“darstellung- Ausschnitte aus der bürgerlichen Presse

An ihre Tür hat sie Briefe der Hausverwaltung und von deren Anwalt gehängt. Die Vorwürfe darin: F. soll einem Nachbarn Prügel angedroht, zudem Fuß-Abtreter mit Fischsud und „körperlichen Sekreten“ beschmutzt haben.“ Ein Mieter: „Hier soll offenbar jemand zum Opfer gemacht werden, der gar keines ist.“ (Berliner Kurier 24.2.2013)

Rosemarie F. hätte die Wohnung vollkommen verwahrlosen lassen. „Schon seit längerem gibt es im Haus zwischen Rosemarie F. und anderen Anwohnern massive Probleme. "Sie klingelt nachts an unserer Tür und hat Fischfond über unsere Fußmatte gegossen", sagt ein Anwohner. Ein anderer berichtet, die Rentnerin uriniere häufiger ins Treppenhaus. Wegen zahlreicher Beschwerden der Anwohner hatte die Vermieterin vor einem halben Jahr Kontakt mit dem sozialpsychiatrischen Dienst aufgenommen, aber die Mitarbeiter seien nicht an Rosemarie F. herangekommen.“ (Tagesspiegel 27.2.2013)

Wegen der "angespannten Lage sei man (Anm. die Gerichtsvollzieherin) durch einen Hintereingang ins Haus gekommen." Das Bild, das sich ihr dort bot, werde sie so schnell nicht vergessen: "Ich war entsetzt. Überall haben sich Berge von leeren Flaschen, Papier, Plastiktüten und anderem Müll gestapelt. Wir kamen nur mühsam von Raum zu Raum", berichtete sie.

"Die Entwicklung ist sehr bedauernswert. Frau F. hat es uns nicht einfach gemacht. Die Mitarbeiter des sozialpsychiatrischen Dienstes haben mehrfach versucht, mit ihr Kontakt aufzunehmen und sogar Nachrichten an ihre Wohnungstür geklebt", sagte Gesundheitsstadtrat Brockhausen. Es habe verschiedene Bemühungen gegeben, auch über eine Zwangsmaßnahme sei nachgedacht worden. Doch die nötigen Voraussetzungen wie eine Gefährdung ihrer Person oder anderer lägen nicht vor. Außerdem sei diese Maßnahme nur erfolgreich, wenn jemand bereit sei, Hilfe in Anspruch zu nehmen.“ (Tagesspiegel 27.2.2013)

Ebenfalls Kerstin Hense vom Tagesspiegel:

Die Geschichte von Rosemarie F. allerdings wirft ein Schlaglicht auf die Frage, wo die Grenzen des legitimen zivilgesellschaftlichen Protests liegen – und wann sie überschritten werden. „Frau F. tyrannisiert uns seit vielen Jahren. Sie klingelt nachts an unserer Wohnungstür und hat Nachbarn heißen Fischfond über die Fußmatte gekippt. Der Pflegedienst und Handwerker trauen sich nicht mehr in ihre Wohnung, weil sie so aggressiv ist“, erzählt ein Mieter des Wohnhauses.

Ein anderer berichtet, dass Rosemarie F. täglich am Gesundbrunnencenter Pfandflaschen sammele und ihre Wohnung total vermüllt sei. „Es stinkt bestialisch und sie macht niemandem mehr die Tür auf“, sagt er. Auch dem Tagesspiegel hat sie bei mehrmaligen Versuchen nicht die Tür geöffnet, obwohl in ihrer Wohnung Licht brannte. „Frau F. kann nicht mehr allein leben, sie benötigt dringend psychologische Betreuung“, sagt ein Nachbar.

Ihr Vermieter, der die Wohnung vor einem halben Jahr erworben hat, hat nach eigenen Angaben mehrfach vergeblich mit dem sozialpsychiatrischen Dienst Kontakt aufgenommen. „Sie lässt niemanden herein, noch nicht mal den Schornsteinfeger.“ An der Wohnungstür hängen zahlreiche Schreiben ihres Vermieters, auf einem hat jemand, womöglich Rosemarie F., mit schwarzem Filzstift „Mörder“ geschrieben. Den Kontakt zum Sozialamt, das die Miete zahlen würde, soll die Frau auch abgebrochen haben.

Der Vermieter sagt: „Wir haben noch nicht ein einziges Mal unsere Miete bekommen.“ Eigentlich solle das Bezirksamt die Miete zahlen, doch dort fühle man sich nicht mehr zuständig, weil F. alle Kontaktversuche abblocke. Strom und Gas seien bereits abgestellt worden, weil F. nicht gezahlt habe.

Wir wollen niemanden rausekeln, aber wir wollen, dass unser Eigentum geschützt wird“, sagt der Vermieter. Die Aktivisten des Bündnisses aber haben einen ganz anderen Blickwinkel. Natürlich unterstütze man nicht jeden, sagt die Sprecherin, aber Frau F. sei sicher in ihrem Auftreten und selbstreflektiert. Sie reagiere ein wenig über, weil ihre schwierige wirtschaftliche Lage sie psychisch krank gemacht habe und sie versuche sich zu wehren.“ (Tagesspiegel 25.2.2013)

Soweit die Situationsbeschreibung zur Lebenslage von Rosemarie F. Hauptsächlich aus der Perspektive der anderen MieterInnen des Hauses. Natürlich gibt es Häuser, in denen MieterInnen, die nicht der Norm entsprechen, leicht auffällig werden können. Meistens werden diese dann drangsaliert. Diese Beschreibung malt ein anderes Bild. Es fehlt die Perspektive von Rosemarie F. Oftmals läßt sich vieles an der Biographie von Menschen erklären. Bei Menschen mit psychischen Problemen ist es häufig so, dass sie nicht mehr in der Lage sind, diese zu erklären. Die Biographie ist wie ein Knäuel, das schwer zu entwirren ist.

Wie mit diesem Bild von Rosemarie F. umgehen?

Wir kennen es, es prägt sich ein. Daraus werden Vorurteile gemacht. Es ist eine Momentaufnahme von Verwahrlosung. Jede/r hat andere Vorstellungen von Ordnung und Sauberkeit. Aber diese Bilder brennen sich ein, wer sie einmal gesehen hat. Ein Wunder, dass ihre Wohnung von der Presse nicht fotographiert wurde. Ein gefundenes Fressen für die Bild-Zeitung. Ergötzend sich am Elend laben. Aber es reichen Zitate.

Wie im Fall der „geistig verwirrten Andrea H.“, die in Reinickendorf von einem Polizisten erschossen wurde, wissen wir auch fast nichts von Rosemarie F. , die ebenfalls in Reinickendorf (übrigens mit enormem Fluglärm) lebt. Es sind die Namenlosen, die sterben oder verelenden, ohne dass die Öffentlichkeit davon Notiz nimmt.

Wie Rosemarie F., die bereits in der DDR politisch und konfessionell verfolgt wurde, in diesen Zustand kommen konnte, erfahren wir nichts. Nichts über die gesellschaftlichen Ursachen, die Menschen in solch ein Leben treiben und sie psychisch krank machen. Und was ist das Lösungsangebot im Kapitalismus: Zwangsräumung. Auch Menschen mit psychischen und Suchtproblemen brauchen ein Recht auf eine Wohnung. Und sie brauchen soziale Hilfsangebote. Oftmals liegt es aber auch in der Erkrankung begründet, dass sie sich nicht helfen lassen bzw. Hilfsangebote als entmündigend wahrgenommen werden, wobei diese auch häufig tatsächlich entmündigend sind.

Die Linke kann keine Sozialarbeit leisten. Das müssen professionelle Dienste tun. Die Linke kämpft aber gegen die gesellschaftlichen Ursachen, die zu diesem Elend führen. Deshalb ist es auch wichtig, Menschen wie Rosemarie F. in ihrem Anliegen zu unterstützen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Allerdings sind Menschen mit psychischen und Suchtproblemen, ältere Menschen mit Demenz etc. häufig nicht mehr in der Lage, selbständig in Würde zu leben. Es gibt Grenzen, nämlich der Selbst- und Fremdgefährdung. Ich persönlich kann daher auch die Sorgen der Mieter im Haus nachvollziehen. Jede/r kann sich selbst einmal hinterfragen, welche MieterInnen man im eigenen Haus haben möchte. Eine existentielle Frage des Selbstschutzes.

Ich bin auch gegen die strikte Ablehnung von Medikamenten der Antipsychiatriebewegung. Sie fordert schwer Psychosekranke auf, keine Medikamente zu nehmen und bietet ihnen zugleich keine Strukturen, die das auffangen können. Natürlich verursachen Neuroleptika Nebenwirkungen, aber was ist die Alternative? Zurück zu Narrenschiffen, Gummizellen, Arbeitshäusern, zum Elend der Verwahrpsychiatrie?

Viele psychisch Erkrankte, die sich nicht behandeln lassen wollen, aber auch Menschen mit Suchtproblemen, landen auf der Straße. Viele Zwangsgeräumte haben diese Probleme. Auch damit müssen sich politisch Aktive, die gegen Zwangsräumungen kämpfen, auseinandersetzen.

Die Zunahme psychischer Erkrankungen

Aufgrund der Armut bzw. des Streß in der Arbeitswelt erkranken immer mehr Menschen psychisch.

Die Frage ist, ob das wirklich so ist oder ob einfach häufiger diagnostiziert wird. Einerseits gibt es Interessen, z.B. der Pharmaindustrie etc. Andererseits bedeutet eine Diagnose für Menschen eine Entlastung, wenn sie in der Gesellschaft nicht funktionieren.

Jeder 10. Deutsche würde unter einer psychischen Störung leiden; häufig kommt die Erkrankung schleichend. So vergehen oft Jahre vom Auftreten der ersten Symptome bis zum Behandlungsbeginn der Schizophrenie. Am häufigsten treten Angsterkrankungen oder Alkoholstörungen auf, gefolgt von Depressionen.

Eine Ursache für die Zunahme von psychischen Erkrankungen ist die Arbeitswelt. Wer im Job ständig mobil und flexibel ist, läuft Gefahr, psychisch zu erkranken. Probleme sind die ständige Erreichbarkeit (Anrufe und Mails außerhalb der Arbeitszeit), Überstunden, Arbeiten an Sonn- und Feiertagen, Arbeit mit nach Hause nehmen, Vereinbarkeit von Arbeit und Freizeit. 20,8% klagten über Erschöpfung. 20,1% können in der Freizeit nicht abschalten. 15,3% haben Schlafstörungen, 13,5% Kopfschmerzen und 11% sind niedergeschlagen.

Seit 2004 ist die Anzahl der Versicherten, die aufgrund einer psychischen Erkrankung in Behandlung sind, um 40 Prozent gestiegen, so die AOK.

Pendler, die mehr als 50 km zum Arbeitsplatz fahren müssen, haben ein 20 Prozent höheres Risiko, psychisch zu erkranken, als Nichtpendler.

Migranten sind im Vergleich zu Deutschen doppelt so häufig psychisch krank. Ursachen sind Arbeitslosigkeit, Heimweh, Sprachprobleme, Vereinsamung, schlechte Bildung, schlechte Wohnverhältnisse. Oftmals nehmen sie aus Scham oder Unwissenheit zu spät ärztliche Hilfe in Anspruch. Wenn sie zum Arzt gehen, kommt es durch Sprachprobleme häufig dazu, dass Fehldiagnosen gestellt werden, Medikamente falsch eingenommen werden oder bestimmte Therapien den Patienten vorenthalten werden.

Frauen sind insgesamt belasteter, so nehmen sich junge Türkinnen rund doppelt so häufig das Leben wie der Durchschnitt ihrer Altersgenossinnen. Ältere Türkinnen leiden häufig unter Bauch- und Kopfschmerzen, die psychosomatisch bedingt sind.

Junge Männer aus Osteuropa hätten vor allem Suchtprobleme.

Während Burnout eine gesellschaftlich immer mehr akzeptierte Modeerkrankung ist, da Leistungssubjekte daran erkranken, sind Krankheitsbilder wie z.B. Schizophrenie mit Wahnvorstellungen weiterhin geächtet und tabuisiert. Und das hat Gründe, viele Menschen haben Angst vor dieser Erkrankung.

Das Beispiel Schizophrenie und die öffentliche Wahrnehmung

Krasse Vorfälle bestätigen viele in ihren Vorurteilen.

Berlin- Kreuzberg in der Nacht zum 4. Juni 2012: Orkan S, 32 Jahre. Er dachte, er sei Jesus. In dieser Nacht tötete er seine Frau, weil er glaubte, sie sei der Teufel. Danach schnitt er ihr den Kopf und die rechte Brust ab und schmiß das in den Hof. Er litt schon lange unter Psychosen.

Colorado (USA) James Holmes. Bei der Premiere des Batman- Films in Aurora in der Nacht zum 20. Juli erschoss er zwölf Menschen und verletzte 58. Er war wegen Schizophrenie in psychiatrischer Behandlung.

Norwegen. Anders Behring Breivik. Er machte einen Bombenanschlag in Oslo und schoss auf Jugendliche auf der Insel Utoya. Dabei gab es 77 Todesopfer und 40 Verletzte. Ein erstes Gutachten bescheinigte ihm paranoide Schizophrenie. Ein zweites Gutachten eine Persönlichkeitsstörung, damit sei er zum Tatzeitpunkt nicht psychisch gestört gewesen und schuldunfähig.

Weitere Auffälligkeiten in den Medien, zum Beispiel:

Lappersdorf: 16.8.2012. Psychisch Kranker rastet aus, drei Verletzte bei Festnahme
Düsseldorf: 20.8.2012. Psychisch kranke Frau blockiert Bahnverkehr.
Weinstadt/Endersdorf: 24.8.2012. Psychisch Kranker geht auf Frauen los.
Kaufbeuren: 28.8.2012. Psychisch Kranker bedroht vier Pfleger mit Schusswaffe.
Steyr: 31.8.2012. Amokschütze psychisch krank.
Erfurt: 7.9.2012. Psychisch Kranker stach in Erfurt auf Kind ein.
Passau: 10.9.2012. Psychisch kranker Australier läuft mit Pistole durch die Stadt.
Lüdenscheid: 15.9.2012. Psychisch kranker Sohn tötet 84jährigen Vater im Wahn.
Villingen-Schwenningen: 26.9.2012. Psychisch kranker Mann drangsaliert Nachbarn jahrelang.
Wien: 28.9.2012. Psychisch Kranke erstach in Wien- Lanstraße Obdachlosen.
Göppingen: 29.9.2012. Psychisch kranker Mann schießt auf Polizisten.
Bremen: 30.9.2012. Psychisch Kranker fackelt Häuser ab, über 30 Verletzte.
Olsberg/Arnsberg: 1.10.2012. Psychisch kranke Schülerin versucht Nachbarn zu töten.
Steinfeld: 11.10.2012. Offenbar psychisch kranker Mann geht mit Beil auf Polizist los.
Bruchsal: 12.10.2012. Psychisch kranker Mann saß nackt am Steuer. Eine Anwohnerin hatte beobachtet, wie ein splitternackter Mann aus einem geparkten Kleinwagen stieg und einen Socken über das Kennzeichen stülpte.
Trier: 12.10.2012. Ein 54jähriger, der in Trier mehrfach Autofahrer angegriffen und ihre Wagen beschädigt hat, wird dauerhaft in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht.
Regen: 17.10.2012. Psychisch Kranker rammt Fußgänger Messer in den Rücken.
Augsburg: 19.10.2012. Psychisch kranker Mann randaliert auf der Straße und entkleidet sich.

Angst haben die Bürger vor allem vor der Forensik. Hier in einem Artikel.

In Nordrhein-Westfalen fehlen 750 Therapieplätze für psychisch kranke Straftäter. Wo immer eine forensische Klinik entstehen soll, schlägt die Wut der Anwohner hoch.(...) Die Wut ist groß, und als sie mit fast tausend Menschen in den Hansesaal in Lünen hineindrängt, verdichtet sie sich. Es entsteht ein gewaltiger Überdruck. Hier drinnen ballt sich der Lärm zu einem ohrenbetäubenden akustischen Shitstorm. Die Menschen pusten in Trillerpfeifen, eine Reihe türkischer Frauen mit Kopftüchern ist besonders eifrig dabei. Sie haben auch ihre Kinder mitgebracht. Eine Personengruppe in der Mitte schreit "Widerstand, Widerstand"; einer brüllt dazwischen "Wir sind das Volk!" (…) Dirk Hartmann, der große bullige Vorsitzende der neu gegründeten Bürgerinitiative gegen den Forensik-Standort in Lünen offenbart, warum die Wut hier womöglich besonders gärt. Er beschreibt Lünen als eine Stadt der Schwachen, Benachteiligten und Zukurzgekommenen. "Wir haben eine Kaufkraft, die einem Mittelzentrum in Mecklenburg-Vorpommern entspricht. Uns geht es, kurz gesagt, richtig dreckig" sagt Hartmann.

Wenn die Landesregierung mit "goldenen Löffeln" durchs Land laufe, laufe sie "regelmäßig an Lünen vorbei, aber für eine Forensik sind wir gut." Hartmann betont den Schulterschluss zwischen Bürgern, Verbänden, Vereinen und Kommunalpolitik und kündigt an: "Wir werden wirklich alles tun, was uns juristisch und sonst irgendwie zur Verfügung steht, um diesen Standort zu verhindern. Sie werden Lünen noch kennen lernen."

http://www.welt.de/politik/deutschland/article110453539/Fuer-eine-Forensik-sind-wir-gut-genug.html

Der Chefarzt der Klinik für Psychiatrie im Johanniter Krankenhaus sagt: „Psychisch krank ist nicht gleich gewalttätig.“ Zwei Diagnosegruppen von Patienten weisen eine höhere Gewaltbereitschaft auf.

- wahnhaft schizophrene Patienten: Wahnsymptome kommen bei Psychosen vor. So kann sich jemand vom Geheimdienst verfolgt fühlen. Bei schizophrenen Psychosen hören die Patienten häufig Stimmen. Wenn jemand glaubt, dass der andere Mensch vom Teufel besessen ist und die Stimmen ihm befehlen, etwas dagegen zu tun, kann es zu einem Tötungsdelikt kommen.

- Menschen mit schwerer Persönlichkeitsstörung und einer Suchterkrankung: Zu Gewalt neigen auch diese Menschen, wenn eine schwere Suchterkrankung ebenfalls auftritt. Sie weichen deutlich von der Norm ab, in vielen Bereichen des Lebens. Einige bringen alle gegen sich auf. Andere fühlen sich immer schlecht und geben anderen Menschen die Schuld.

Es sind bei weitem nicht alle Patienten mit Psychosen und Persönlichkeitsstörung gewalttätig.“

Depressive, Menschen mit Ängsten, Ess-Störungen oder Suchterkrankungen hätten ein eher geringeres Risiko, „kriminell“ zu werden, so der Psychiater.

Ein BGH-Urteil sorgte für Aufruhr

Seit Juli 2012 durften Psychiatriebetroffene in geschlossenen Anstalten nicht mehr gegen ihren Willen behandelt werden. Daher mußten Hunderte Psychiatriebetroffene mit Wahnvorstellungen entlassen werden, auch wenn eine Behandlung medizinisch erforderlich war. Das Karlsruher Gericht, der Bundesgerichtshof hatte entschieden, dass psychisch Kranke in geschlossenen Anstalten, die unter rechtlicher Betreuung stehen, nicht mehr gegen ihren Willen behandelt werden durften.

Zukünftig soll nun ein Richter entscheiden, ob ein betreuter Patient in einer psychiatrischen Anstalt gegen seinen Willen therapiert werden darf. Die richterliche Genehmigung soll auf jeweils sechs Wochen begrenzt sein. Zuvor reichte es, wenn der Betreuer der Therapie zustimmte. Lediglich für die Einweisung in eine psychiatrische Klinik brauchte es einen richterlichen Beschluss.

Jährlich werden ca. 45 000 Menschen, die unter Vormundschaft eines gerichtlich bestellten Betreuers stehen, gegen ihren Willen in der Psychiatrie untergebracht. Die meisten lehnen eine Zwangsmedikation ab. Nach dem BGH-Urteil durften weder die Magersüchtige, die nur noch 31 Kilo wog, wie auch ein Mann, der an Verfolgungswahn leidet, behandelt werden.

Gerade bei Psychiatern und Angehörigen von Psychiatriebetroffenen löste das BGH- Urteil große Unruhe aus.

So bei folgendem Chefarzt der Abteilung Psychiatrie der Schlosspark- Klinik in Berlin. Acht Prozent der Patienten seiner Abteilung werden gegen ihren Willen aufgenommen.

Tom Bschor schreibt: „Das BGH-Urteil: ein Sieg für die Freiheit und das Recht, anders oder verrückt zu sein? Nina Hagen würde dies vermutlich bejahen. In meiner Arbeit sehe ich dagegen die Schwierigkeiten, die die neue Rechtsprechung für die Patientengesundheit mit sich bringt. So kenne ich viele Menschen, die erst zu spät eine psychiatrische Behandlung gesucht haben, etwa einen Vater mit schwerer Depression, der erst therapiert wurde, nachdem er sich durch einen Fenstersprung selbst töten wollte. Nun ist er querschnittsgelähmt. Eine Besonderheit psychischer Erkrankungen ist, dass der Betroffene sie mitunter als solche nicht mehr erkennen kann. So wurde ein 52-Jähriger zu uns gebracht, weil sich die Hausbewohner zunehmend vor ihm ängstigten. Er hatte sich mit einem Stock bewaffnet und nächtelang extrem laut das Radio aufgedreht. In einem Verfolgungswahn glaubte er, die Nachbarn wollten ihn töten. Mit dem Radio kämpfte er gegen innere Stimmen. Der Richter sah wegen der Bewaffnung eine akute Gefährdung und ordnete den Aufenthalt im Krankenhaus an.

Unter Bezug auf das BGH-Urteil untersagte er aber zugleich eine Behandlung ohne Zustimmung des Patienten. Ein Behandlungsversuch mit einem antipsychotischen Medikament hätte eine Chance geboten, dass unser Patient sich von seinem Wahn distanziert. Trotz intensiver Gespräche gelang es uns nicht, ihn für eine freiwillige Medikation zu gewinnen. Ungeachtet des Unterbringungsbeschlusses haben wir uns entschieden, den Patienten zu entlassen. Bloßes Einsperren ist inhuman, kommt einer Gefängnisstrafe gleich und ist mit einer ärztlichen Grundhaltung nicht vereinbar – ein Rückfall in die Verwahr-Psychiatrie.

In einem anderen Fall haben wir einen Patienten mit Demenz trotz Unterbringungsbeschluss entlassen, da es uns nicht gelang, ihn von der Notwendigkeit zu überzeugen, einen Darmtumor operieren zu lassen. Auch hier hatte das Gericht mit Verweis auf den BGH eine Behandlung untersagt. Ein letztes Beispiel: Eine Studentin Mitte zwanzig hatte erstmals eine Psychose entwickelt und sich mit einer Kreissäge selbst die Hand abgesägt. Geisteskrank – Ihre eigene Entscheidung?

Welche Freiheit verteidigt Nina Hagen? Es liegt im neoliberalen Trend der Zeit, der individuellen Freiheit zulasten übergeordneter Interessen ein immer größeres Gewicht beizumessen. Freiheit und Selbstbestimmung haben aber innere Voraussetzungen. Philosophie und Rechtswissenschaft unterscheiden den „freien Willen“ vom „natürlichen Willen“. Der unmittelbar geäußerte „natürliche Wille“ ist nicht immer kongruent mit dem freien Willen, der den eigentlichen und konstanten Zielen des Menschen folgt. Bei den meisten zielt er unter anderem auf Wohlbefinden und ein Leben in Sicherheit. Freie Willensbildung erfordert ein hohes Maß an Intelligibilität (Rationalität), Authentizität und der Fähigkeit, zwischen verschiedenen Alternativen auswählen zu können.

Psychische Krankheiten wie Verfolgungswahn können dies beeinträchtigen. Es ist häufig primär die Krankheit, die unfrei macht, nicht die Behandlung. Bei einem fiebernden Kind, das nicht in die Klinik will, entscheiden wir mit geringerem Zweifel gemäß dem freien und nicht dem natürlichen Willen des Kindes.

Freiheit und Verantwortung gehören zusammen. Psychisch Kranke sich selbst zu überlassen kann auch Ausdruck gesellschaftlicher Ignoranz sein. Wir überfordern Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen, wenn wir ihnen allein die Verantwortung für sich selbst zuschreiben. Die Kliniken laufen Gefahr, einen kranken, aber ablehnenden Patienten zu leichtfertig wegzuschicken. Die Mitarbeiter ersparen sich undankbare Auseinandersetzungen, juristischen und bürokratischen Aufwand und ein ungutes Gefühl. Ein Zwang zur Normalität ist abzulehnen. Der „glückliche Verrückte“ muss sein unkonventionelles Leben führen dürfen. Leider ist dies jedoch mehr Romantik als Realität. Psychische Erkrankung geht meist mit innerer Qual und manchmal auch Gefährdung Dritter einher.“ http://www.taz.de/!103406/

Erinnert sei nochmal an Rosemarie F: „Psychisch Kranke sich selbst zu überlassen, kann auch Ausdruck gesellschaftlicher Ignoranz sein.“ Rosemarie F. braucht Hilfe. Allein die Verhinderung der Zwangsräumung kann es wohl nicht sein. Sie braucht wahrscheinlich auch eine Behandlung ihrer psychischen Erkrankung. Viele Betroffene erkennen selbst nicht, dass sie psychisch krank sind. Wenn Selbst- oder Fremdgefährdung vorliegt, kommt es zur Zwangsbehandlung. Das scheint bei Rosemarie F. noch nicht der Fall zu sein und so versinkt sie weiter in ihrem Elend. In Berlin gibt es massenhaft Menschen, die langsam untergehen, ohne dass die Gesellschaft etwas dagegen tut. Freiheit zum Untergang?

Meistens verweigern Psychiatriebetroffene, Medikamente einzunehmen. Kehrseite dieser Behandlung, d.h. Medikation sind natürlich Nebenwirkungen der Medikamente.

Hier ein Beipack-Zettel von Risperdal

Sehr häufige Nebenwirkungen:
Parkinson-ähnliches Zittern, Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit.

Häufige Nebenwirkungen:
Blut- Prolaktin-Werterhöhung, Gewichtszunahme, Herzrasen, Unruhe, Schwindel, Zittern, Verstimmung, Schläfrigkeit, Dämmerschlaf, Antriebslosigkeit, unwillkürliche Bewegungen, Verschwommensehen, Atembeschwerden, Nasenbluten, Husten, verstopfte Nase, Rachen- und Kehlkopfschmerz, Erbrechen, Durchfall, Verstopfung, Übelkeit, Bauchschmerz, Verdauungsstörung, trockener Mund, Magenbeschwerden, Einnässen, Hautausschlag, Hautrötung, Gelenkschmerzen, Rückenschmerzen, Gliederschmerz, Appetitverstärkung, Appetitverminderung, Lungenentzündung, Grippe, Bronchitis, Infektion der oberen Atemwege, Harnwegsinfektion, Fieberanfall, Ermüdung, Wassereinlagerungen in Armen und Beinen, Schwäche, Brustschmerz, Angst, Aufregung, Schlafstörungen

Das geht dann mit einer langen Liste gelegentlicher Nebenwirkungen weiter....
und zum Schluß: die Sterblichkeitsrate ist erhöht.

Die Freiheit zum Untergang?

Ein Beispiel aus dem Jahresbericht 2011 der Beschwerde- und Informationsstelle Psychiatrie. Es zeigt das Dilemma auf.

Ein Beschwerdeführer trägt vor, sein Bekannter sei körperlich behindert und konsumiere regelmäßig Alkohol. Dessen Wohnung sei in hohem Maße verschmutzt, die Toilette voller Exkremente, die Badewanne voller benutztem Toilettenpapier, die Küche voller Ungeziefer. Die Person selbst möchte laut Beschwerdeführer keine Hilfe annehmen und sei sehr misstrauisch.“ Er hat sich an den Sozialpsychiatrischen Dienst gewandt, der war vor Ort, hätte aber nichts unternommen. Es liege keine Selbst- und Fremdgefährdung vor. Der Sozialpsychiatrische Dienst wollte nur einen Pflegedienst einschalten, der die Wohnung auf Kosten des Behinderten reinigt. Das lehnte der Betroffene ab. Inzwischen ging es dem Bekannten immer schlechter, er sei stark abgemagert und zittere. Im Bericht schreiben sie: „Eine nachhaltige Klärung der Situation konnte noch nicht herbeigeführt werden. Die Beschwerde ist weiterhin in Bearbeitung.“

Nein keine Zwangsbehandlung, würde jetzt die Antipsychiatriebewegung aufschreien. „Es gibt keine psychische Erkrankung. Keine Medikamente. Keine Zwangspsychiatrie.“

Geisteskrank? Ihre eigene Entscheidung?

Die eigene Entscheidung, sich tot zu hungern? Die eigene Entscheidung, sich die Hand abzusägen? Die eigene Entscheidung, die Ehefrau zu töten? Die eigene Entscheidung, aus dem Fenster zu springen? Die eigene Entscheidung, zu verwahrlosen? Die eigene Entscheidung, auf der Straße zu landen?

Diese Ideologie hilft vielen Betroffenen kein Stück weiter. Auch Rosemarie F. ist damit nicht geholfen. Es gibt psychische Erkrankungen und diese müssen behandelt werden. Im Interesse der Betroffenen.

Wieder das Beispiel der Schizophrenie:

Sie betrifft weltweit etwa 1% der Bevölkerung. Bei 20-25% heilt diese nach einer psychotischen Episode aus. Der häufigste Typus ist die paranoid-halluzinatorische Schizophrenie (F20.0). Bei 2/3 der Erkrankten tritt die Krankheit vor dem 30. Lebensjahr auf. Dem geht bei ¾ der Erkrankten eine etwa 5 Jahre dauernde Phase voraus, in der unspezifische psychische Veränderungen vorkommen. Symptome sind Wahn, Gedankenlautwerden, -eingebung; Halluzinationen (Stimmen), Beziehungswahn (d.h. der Betroffene bezieht Ereignisse in seiner Umgebung auf sich, z.B. die Fernsehnachrichten), Positivsymptome sind häufig Verfolgungswahn, Negativsymptome sind Apathie. Einschränkungen gibt es häufig beim kommunikativen Verhalten und der sozialen Kompetenz.

Dadurch, dass oftmals keine Ausbildung vorhanden ist, reduzieren sich die Chancen der Erwerbstätigkeit auf dem ersten Arbeitsmarkt. Nur 30% der schizophren Erkrankten sind stabil über die Jahre voll erwerbstätig und auf dem 1. Arbeitsmarkt integriert. Schizophrene sind oftmals deutlich beeinträchtigt, so dass eine Erwerbstätigkeit für 70% der Betroffenen eingeschränkt oder unmöglich ist. Laut Weltgesundheitsorganisation zählt Schizophrenie weltweit zu den 10 Erkrankungen mit der größten Anzahl durch „Behinderung beeinträchtigter Lebensjahre“. Das bedeute auch erhebliche Kosten für die Volkswirtschaft. Schätzungsweise werden ca. 2-4% der Gesamtkosten für Gesundheitsleistungen in Deutschland für schizophren Erkrankte aufgewendet. Kosten pro Patient im Jahr: 2959 Euro für Psychiater; 40 901 Euro für berufliche Reha, 33 000 für stationäre Aufenthalte; 22 000 für Betreutes Wohnen.

Die Betroffenen sind durch fehlendes oder falsches Wissen über Schizophrenie in der Bevölkerung und eine undifferenzierte Medienberichterstattung mit massiven Vorurteilen, Stigmatisierung und Diskriminierung konfrontiert. Das fördert soziale Ausgrenzung und Vereinsamung. 10% der Erkrankten begehen Suizid.

Andererseits halten sich Vorurteile über Gefährlichkeit und Unberechenbarkeit hartnäckig und werden durch die Medien geschürt. Die überwiegende Mehrheit der schizophren Erkrankten ist jedoch nicht gewalttätig. (häufig sind sie eher Opfer) Es gibt jedoch eine geringfügig erhöhte Gewaltbereitschaft z.B. bei Sucht und Nichtbehandlung der Erkrankung.

Der inflationäre Gebrauch des Wortes schizophren/ Schizophrenie

Während die Erkrankung häufig tabuisiert wird, trifft man in Medien und Öffentlichkeit auf einen inflationären Gebrauch des Wortes. Einige Beispiele:

Aus der Wirtschaft: „Das grenzt an Schizophrenie.“ (Dass die Leute fliegen wollen, aber nichts von der Kehrseite der Medaille wissen wollen.) Oder: „Die schizophrene Situation an den Finanzmärkten hält an.“ Oder Zigarettenwerbung: „Kippen-Schizophrenie“

Aus der Politik: „Merkel verhält sich bei Griechenland schizophren.“, „Die Anmutung des Handouts kann für die Schizophrenie des Umweltministers stehen...“, Die Linken sind „weltfremd, unausgegoren, schizophren“, „Die SPD ist schizophren.“

Aus dem Sport: „Paranormale Schizophrenie“ (Das denkwürdige 4:4 gegen Schweden war das beste und schlechteste Spiel der deutschen Elf zugleich.)

Aus der Kultur: Der Film „Das große Schunkeln“ ist Ausdruck einer gewissen Schizophrenie.

Entmündigung durch das psychiatrische System

Aber zurück zu Rosemarie F. Dass sich Menschen nicht helfen und behandeln lassen, liegt nicht nur daran, dass sie ihre Erkrankung nicht erkennen, sondern auch daran, dass die Angebote zum Beispiel des psychiatrischen System als entmündigend wahrgenommen werden. Die Psychiatrie hat eine längere Geschichte und darin ist auch ihr schlechter Ruf begründet. Auch Misstrauen ist nachvollziehbar, schließlich gab es im Nationalsozialismus eine Euthanasie und auch die heutige Datensammelwut über Psychiatriebetroffene, die quasi gläserne Menschen sind, flößt Misstrauen ein. Psychiatriebetroffene sind also gut beraten, sich möglichst fern von diesem psychiatrischen System zu halten.

M.E. geht es deshalb darum, stabil zu bleiben und nicht dem Drehtüreffekt zu verfallen und womöglich noch in einer gesetzlichen Betreuung zu landen. Das kann bei einer schweren psychischen Erkrankung (wie Psychose) m.E. mit einer geringen Dosierung von Medikamenten (also wenigstens Kontakt zu einem guten Psychiater), einem regelmäßigen Tagesrhythmus (genug Schlaf) und sinnvoller Aktivität, die Sinn im Leben stiftet, geben. Wer durch seine Psychosen ohne Medikamente gehen will, braucht viel Zeit und ein Unterstützungsnetzwerk, dass das auffängt. Dabei lauert aber die Gefahr der Selbst- und Fremdgefährdung.

Menschen, wie Regina Bellion, die so durch ihre Psychosen geht, können hier viele Tipps geben: http://www.podcast.de/episode/2918917/

Allerdings muß jede/r Betroffene das selbst entscheiden. Jede Psychose ist anders. Was die Antipsychiatriebewegung dagegen betreibt, ist Dogmatismus und wiederum Entmündigung.

Entmündigend ist allerdings auch das psychiatrische System. Im Jahresbericht 2011 der Beschwerde- und Informationsstelle Psychiatrie in Berlin gab es die meisten Beschwerden, nämlich 138, zu psychiatrischen Kliniken und Stationen. Es wurde eine gesprächslose Psychiatrie beklagt, die die Patienten nicht ernst nimmt. Das Personal steht unter hohem Zeitdruck. In einer Psychiatrie gab es sogar eine Videoüberwachung.

73 Beschwerden gab es zum Sozialpsychiatrischen Dienst. Während Angehörige die Untätigkeit des SPD beklagten, beschwerten sich Psychiatriebetroffene über den Zwang. 66 Beschwerden wurden gegen rechtliche Betreuer vorgetragen, dabei vor allem die unzureichende und fehlende Qualifizierung kritisiert. 42 Beschwerden zu Psychiatern richteten sich gegen die Medikamentierung, die Nebenwirkungen von Medikamenten, die langen Wartezeiten und Arztbriefe. 22 Beschwerden gab es zur Psychiatrisierung, da die Betroffenen gegen ihren Willen in die psychiatrische Versorgung integriert wurden. Nur 11 Beschwerden zum Jobcenter und nur eine Beschwerde zu Zuverdienst/ Werkstatt wurden vorgetragen.

Insgesamt gab es im Jahre 2011 468 Beschwerden in Berlin, damit war schon die Belastungsgrenze dieser Einrichtung erreicht. Oftmals war eine unterschiedliche Einschätzung der Selbst- und Fremdgefährdung von Angehörigen und Betroffenen gegeben.

Bei Zwangseinweisungen wurden Beschwerden über das Vorgehen der Polizei vorgetragen. (Der Fall Andrea H., die in Reinickendorf 2011 von einem Polizisten erschossen wurde, findet sich in dem Bericht allerdings nicht.) Beschwerden gab es auch über fehlerhafte Entlassungsberichte (Kur, Reha etc.) und den Umgang mit dem Datenschutz.

Bei gemeindepsychiatrischen Angeboten (KBS, Tagesstätten etc.) wurde der Normierungsdruck kritisiert. Bei den Beschwerden ging es um das Recht auf individuelle Lebensführung und den Wunsch, in der eigenen Andersartigkeit anerkannt zu werden. Auch der Ton und die Angebotsstruktur in den Einrichtungen- „den ambulanten Ghettos“- wurde kritisiert.

Seit dem 1.7. 2010 wird die Beschwerde- und Informationsstelle Psychiatrie gefördert. Seit Februar 2011 gäbe es ein „sehr hohes Beschwerdeaufkommen“.

Hier der Bericht: http://www.psychiatrie-beschwerde.de/
 

Der Kampf geht weiter...

Es ist gut, dass durch die Initiative „Zwangsräumung verhindern“ das Thema an die Öffentlichkeit gezerrt wird. Der Fall Rosemarie F. ist komplizierter als der der Familie Gübol. Es wird viele solch komplizierter Fälle geben, die schwerer vermittelbar sind. Das Mittel der Zwangsräumung ist abzulehnen, aber in vielen Fällen werden die Menschen aufgrund ihrer psychischen, Suchtprobleme oder aufgrund des Alters (z.B. Demenz) nicht in der Lage sein, selbständig in einer Wohnung zu leben. Sie brauchen Betreuung, Pflege, Behandlung, Therapie und andere Hilfsangebote. Solidarität kann sich also nicht nur auf die Verhinderung einer Zwangsräumung erschöpfen. Soll Rosemarie F. so weiterleben, Hauptsache selbstbestimmt? Die Freiheit des Unterganges?

Und so wichtig und erfolgreich die Gentrifizierungsbewegung auch ist, das Thema in den Stadtteilgruppen kann nicht nur Wohnen und Mieten sein. Es geht auch um die eigene Existenzsicherung (Prekarität in der Arbeitswelt und/oder Erwerbslosigkeit), Gesundheit (Burnout, Zunahme psychischer Erkrankungen u.a.), Armut/ Essen (immer mehr nutzen Lebensmittelausgaben), Situation an den Schulen etc.

Solange viele Linke nur in der Freizeit Politik betreiben, im Alltag (auf der Arbeit, in der Schule, an der Universität, im Krankenhaus, im Jobcenter, im Wohnhaus, im Stadtteil etc.) nicht als Linke präsent sind, wird sich sowieso nichts ändern. Wir müssen im Alltag der Menschen präsent sein.

Die Senioren in der Stillen Straße, die Flüchtlinge und ihre Proteste, Kotti &co, Frau Cengiz, Familie Gübol, Rosemarie F.. Es gibt Beispiele, dass sich zunehmend mehr Menschen wehren gegen die kapitalistischen Zumutungen. Menschen, die nicht der linken Szene entstammen, die einfach die Schnauze voll haben. Es gibt Hoffnung.

Auch Rosemarie F. wünsche ich ein besseres Leben. Einen ersten Schritt hat sie getan, sie hat sich an das Bündnis gewandt. Aber wegschauen hilft nicht. Es ist anscheinend mit dem Erhalt der Wohnung nicht getan. Die Probleme von Rosemarie F. sind riesig.

Die Verelendung im Kapitalismus nimmt zu, tagtäglich sind wir in Berlin damit konfrontiert. Die scheinbare Normalität, die uns wegschauen läßt. Obdachlose, die in den Banken liegen. Flaschensammler, die in Papierkörben herumwühlen. Bettler, die durch die U-Bahn ziehen. Straßenmusiker, die für Almosen spielen. Verrückte, die verwahrlost herumziehen. Menschen, die an Lebensmittelausgaben Schlange stehen. Menschen, die Fahrkarten verkaufen.

Wird Berlin weiter durchgentrifiziert, wird es viele arme Menschen nur noch an den Rändern der Stadt bzw. als Obdachlose, die vertrieben werden, geben. Der Normierungsdruck wird weiter steigen. Nur wer sich der Norm der Leistungsgesellschaft unterwirft, wird vielleicht verschont. Allerdings nimmt die Armut trotz Arbeit zu und auch viele Erwerbstätige sind in ihrer Existenz bedroht. Gleichzeitig steigt der private Reichtum. Billionen Euro werden vererbt. Ein großer Teil z.B. der neuen kulturellen Infrastruktur in Berlin lebt von der ererbten Masse. Die Gegensätze nehmen zu. Wer nicht über diesen finanziellen Hintergrund verfügt, ist bedroht. Sozial verunsichert. Die Beschäftigungsquote nimmt zu, auch die Überflußproduktion. Die Absurdität des Systems offenbart sich immer deutlicher. Die Unzufriedenheit wächst. Mittels Extremismustheorie wird weiterhin versucht, die Linke zu isolieren.

Aber die Linke kämpft nicht mehr nur für ihre Freiräume, das bringt ihr Sympathien ein. Gegen Zwangsräumungen, aber auch für ein menschenwürdiges Leben. Der Kampf geht also weiter...

Editorische Hinweise

Den Artikel bekamen wir von der Autorin für diese Ausgabe.