Die Aufgaben der Marxisten in der arabischen „Revolution“

von Anton Holberg

03/12

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„Marx21“, ein Netzwerk innerhalb der PDL, das Nachfolgerin der SAG und dann der JUSO-Gruppe „Linkswende“ ist und das zur heterodox trotzkistischen „International Socialism Tendency“ um die britische  „Socialist Workers Party“ gehört, fasst ihre Position zu den aktuellen Revolten in der arabischen Welt wie folgt zusammen, eine Position  wohlbemerkt, die im Kern auch von konkurrierenden Kräften links von den Stalinisten geteilt wird (s. “Liga für die 5. Internationale“): „Die Massenbewegung, die vergangenes Jahr in Tunesien und vor allem in Ägypten pro-westliche Diktatoren stürzte, hat das Potential zu einer tatsächlich demokratischen Umgestaltung der gesamten Region.“

Richtig daran ist, dass die notwendige demokratische oder gar – was  letztlich wohl kaum wirklich voneinander zu trennen ist – sozialistische Umgestaltung der arabischen Welt ohne militante Bewegungen der  Volksmassen unmöglich ist. Das aber bedeutet nicht, dass sich nicht die Frage stellt, wie wahrscheinlich es denn ist, dass das erwähnte Potential im Interesse einer demokratischen Umgestaltung wirksam wird.

Insbesondere eingedenk der schon empirisch zu ermittelnden Tatsache, dass Revolutionen – speziell solche im marxistischen Sinn, d.h. Umwälzungen der Herrschaftsstruktur einer Gesellschaft und ihrer Produktionsweise – überaus selten vorkommen, jedenfalls unvergleichlich seltener als alle Arten von Revolten, sollten Marxisten unabhängig von ihren berechtigten Wünschen, der Tatsache in die Augen sehen, dass auch in der heutigen arabischen Welt mehr darauf hindeutet, dass die Volksmassen durch ihre Aktivitäten unabhängig von ihren latenten Wünschen bestenfalls neue über sie herrschende Schichten an die Regierung bringen werden als dass sie im o.a. Sinn eine Revolution auf  eigene Rechnung zustande bekommen. Das sollte insbesondere Marxisten naheliegend erscheinen, die sich an das bewährte Diktum Lenins erinnern, dass es keine revolutionäre Praxis geben kann ohne revolutionäre Theorie.

Was bedeutet das für die praktische Politik proletarischer Revolutionäre  innerhalb und außerhalb der arabischen Welt? Es ist ganz sicher nicht die Aufgabe von Marxisten, die Massen dabei unterstützen, von der Pfanne ins Feuer zu springen. Es ist nicht ihre Aufgabe, hinter diffusen Volksbewegungen hinterherzulaufen, sondern es ist ihre Aufgabe, dazu beizutragen, innerhalb dieser Volksbewegungen die Rolle der Arbeiterklasse zu stärken, indem sie dieser ein Verständnis ihrer klassenspezifischen Interessen und Wege ihrer Durchsetzung vermitteln. Das kann selbstredend nicht durch gutes Zureden von außen geschehen. Ihre Beteiligung an einer auch die Arbeiterklasse einbeziehenden Volksbewegung gegen bürgerliche oder gar vorbürgerlich geprägte  Diktaturen wie sie in der Region allenthalben herrschen, ist dafür Voraussetzung. Was aber ist, wenn die Arbeiterklasse innerhalb einer solchen Volksbewegung als eigenständige Kraft nur in unbedeutendem Maße (wie offenbar in Syrien) oder überhaupt nicht (wie in Libyen) auftritt, wenn vielmehr proimperialistische und/oder sozialreaktionäre Kräfte die  Volksbewegung majorisieren? Praktisch gesprochen: welche Politik müsste eine linke Kraft durchführen, wenn es offensichtlich geworden ist, dass  es in überschaubarem Zeitraum nur die Alternative gibt zwischen einer bürgerlichen Diktatur, die weitgehende Religionsfreiheit und damit z.B. auch den Frauen das Recht, unverschleiert über die Straße zu gehen, oder  die den Konsum oder auch Nicht-Konsum von Alkohol ermöglicht, wenngleich sie jede ernsthafte Kritik am herrschenden Regime gegebenenfalls blutig unterdrückt (hier z.B. Syrien), und einer Diktatur, die ebenso jede  Kritik an ihr und ebenso jeden Versuch zur Beendigung ökonomischer Ausbeutung unterbindet und außerdem auch noch alles „Gotteslästerliche“ und folglich jeden Schritt zur Gleichheit der verschiedenen Konfessionen  und insbesondere auch der Geschlechter, ein „Problem“, das immerhin die Hälfte der Bevölkerung (die weibliche) unmittelbar und die gesamte
Bevölkerung zumindest mittelbar betrifft (z.B. die wichtigsten arabischen Unterstützer der syrischen Revolte: Saudi Arabien und Qatar). Verbessern sich für die fortschrittlichen Kräfte die Kampfbedingungen, wenn eine korrupte laizistische bürgerliche Herrschaft durch eine erfahrungsgemäß in Bälde nicht minder korrupte und nicht minder blutige Diktatur der schwarzen Reaktion – d.h. politisch-religiöser Kräfte , gleich ob  christlicher, buddhistischer oder islamischer Provinienz - oder auch nur offen proimperialistischer Kräfte ersetzt wird?

Ein historisches Beispiel ist die iranische Revolution von 1979. Der Iran war sozial und kulturell das fortgeschrittendste Land der Region. Die linken Kräfte im Iran, deren Spektrum von Volkstümlern über  Stalinisten verschiedenster Prägung bis hin zu Trotzkisten reichte, mussten und haben den Aufstand gegen die proimperialistische  Schahdiktatur vorbereitet und aktiv unterstützt. Das Schahregime hatte in Gestalt der „Weißen Revolution“ schon in den 50er Jahren im Iran praktisch die bürgerliche Revolution gegen die Reste des „Feudalismus“  realisiert. Die Linkskräfte fanden hier eine Arbeiterklasse (insbesondere im Erdölsektor) vor, die kämpferische Traditionen  aufzuweisen hatte und in der sie (wenngleich großenteils in Gestalt der rechtsstalinistischen Tudeh-Partei) präsent waren. Die Frage, ob die  Aneignung der Antischahrevolution durch den schiitischen Klerus in erster Linie das Ergebnis von teils rechtsopportunistischen und teils linkssektiererischen Fehlern der iranischen Linken war oder doch  letztlich dem durch die Sozialstruktur objektiv gegebenen  Kräfteverhältnis geschuldet war, kann und braucht hier nicht beantwortet  zu werden. Ausschlaggebend ist, dass es ausreichende Gründe dafür gab, das schließliche Ergebnis der Revolte nach Sturz des Schahregimes nicht als weitgehend vorgegeben anzunehmen. Das andere Beispiel ist  Afghanistan. Hier gab es keine andere Alternative zur Diktatur der PDPA unter Hafizullah Amin als die reaktionären Kräfte der Mojahedin und  später der Taleban. Es kann nicht die Aufgabe von Marxisten gewesen sein, sich in dieser Situation für den Sturz des PDPA-Regimes eingesetzt  zu haben, indem sie in irgendeiner Form die reaktionären Feinde der PDPA  unterstützten.

In Europa war für die Durchsetzung bürgerlich-demokratischer Verhältnisse die Entwicklung des Kapitalismus und die Anhäufung von kolonialen Extraprofiten durch imperialistische Expansion, mit der auch  die Arbeiterklasse pazifiziert werden konnte, Voraussetzung. Gibt es irgendeinen Hinweis darauf, dass eines der Regime, die man sich  realistischerweise als Nachfolgeregime zum Qadhafi- Regime in Libyen  oder zum Assad-Regime in Syrien vorstellen kann, weiter in diese Richtung vordringen könnte als die Regime Qadhafis oder Assads? Was für  Lehren können wir aus dem Sturz Saddam Husseins ziehen? Der Irak war immerhin ein Land, in dem es einmal eine starke – wenngleich stalinistische – KP (wie auch in Syrien) und starke linksnationalistische Kräfte in Kurdistan gab. Wenn das denn noch notwendig gewesen wäre, hätte die imperialistische Besatzungsmacht alles  dafür getan, dass diese Kräfte keinen Nutzen aus dem Sturz Saddams ziehen. Da die von ihr direkt abhängigen aus dem Exil mitgebrachten  laizistischen Kräfte im Land keine wirkliche Basis hatten, musste die Besatzungsmacht sich auf solche Kräfte stützen, die – entgegen dem Willen der Imperialisten - den Irak zu einem Verbündeten des iranischen  Regimes gemacht haben. Wie auch immer: selbst im Irak hat sich der Sturz des blutigen Saddam-Regimes für die Arbeiterklasse und die Linkskräfte
nicht oder nur in unbedeutendem Maße ausgezahlt, zumindest wenn man das  vorläufige Sprechendürfen nicht mit Waszusagenhaben verwechselt.

Nun ist die Lage in Syrien nicht so, dass dort nach dem Sturz des  Assad-Regimes afghanische oder auch nur iranische Zustände denkbar wären. Die Frage, wie weit fundamentalistisch-religiöse Kräfte ihr  eigentliches Programm durchsetzen können, das stets antidemokratisch ist, hängt vom gesamtgesellschaftichen Kräfteverhältnis ab. In Syrien gibt es seit langem starke laizistische Kräfte (das bedeutet im  Allgemeinen in der Region keineswegs atheistische Kräfte!), im Regierungslager ebenso wie in der Opposition. Auch verfügt der  sunnitische Islam nicht über eine klerikale Struktur wie der schiitische Islam im Iran. Andererseits jedoch arbeiten die externen Unterstützer  der unterschiedlichen Kräfte der syrischen Opposition, die alleine über die notwendigen materiellen und ideologischen Ressourcen verfügen, um Aussicht auf Erfolg zu haben, daran, das proimperialistische und/oder  islamistische Lager nicht nur gegenüber dem Regime, sondern vor allem auch gegenüber den potentiell fortschrittlichen Kräften der Opposition  zu stärken oder gegebenenfalls das Land in einen ausweglosen Bürgerkrieg zu stürzen, der nicht nur kurz- sondern auch mittelfristig die  Gesellschaft derart zu traumatisieren droht, dass kein gesellschaftlicher Fortschritt denkbar wäre.

Unter diesen Umständen kann es m.E. nur die Aufgabe von Marxisten sein,  beide Lager zu kritisieren, insbesondere in Hinblick auf ihre negative Politik gegenüber einer politischen Emanzipation der Arbeiterklasse.  Sowohl im Interesse der Volksmassen ganz allgemein und der Arbeiterklasse im Besonderen aber auch wegen der vorrangigen Bedeutung der Schwächung des Imperialismus für die Möglichkeit proletarischer  Emanzipation überall auf der Welt, ist es aber ihre erste Aufgabe, sich jeder imperialistischen Intervention entgegenzustellen, selbst wenn diese von revoltierenden Massen gewünscht werden sollte. Es ist nicht die Aufgabe von Marxisten, die Massen und insbesondere eine ihrer spezifischen Interessen noch unbewusste Arbeiterklasse beim Schaufeln  ihrer eigenen Gräber solidarisch unterstützen. Stattdessen ist es ihre Aufgabe, den Betroffenen in aller Offenheit zu erklären, weshalb sie sich genau daran nicht beteiligen.

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Artikel für diese Ausgabe.