Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

„Modell BRD“?
Einige der negativsten sozial- und wirtschaftspolitischen Weichenstellungen in Frankreich werden mit dem „Vorbildcharakter“ der deutschen Ökonomie legitimiert

03/12

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„Modell Deutschland“ – unter Helmut Schmidt dereinst ein politischer Werbeslogan in der BRD, der durch Linke heftig kritisiert wurde – lautet für einen Teil der politischen Elite Frankreichs offenkundig die Devise. Eingekeilt zwischen der vermeintlich krisenfesten Ökonomie des deutschen Exportweltmeisters einerseits und den südeuropäischen „Krisenländern“ und „Schuldenstaaten“ andererseits, orientiert die aktuelle Regierung voll auf die Annäherung an das vermeintliche „Modell“ östlich des Rheins. Allerdings unter gesamtwirtschaftlichen Voraussetzungen, die höchst ungleich ausfallen.

Dies ist inzwischen vielerorts Anlass für Satire. Ungefähr so wie bei der beliebten Polit-Puppensendung Les Guignols de l’info des Privatfernsehsenders Canal +, die für ihren sarkastischen Charakter bekannt ist. Am 06. März 12 ging die wichtigste Pointe der Sendung so: Kommt ein Mann zum Paradiestor und stellt sich bei „Petrus“, dem legendären Türwächter, vor. Petrus fragt ihn, ob der Deutsch spreche. Dies wird von dem Mann bejaht. Daraufhin wird er ins Paradies eingelassen – und dieses stellt sich als eine Abwandlung des Oktoberfests mit Bier und Würstel sowie tanzenden Menschen in Lederhosen bei deutschsprachiger Schunkelmusik heraus. Eine Stimme kommentiert dazu, im Anblick deutscher Wachstumsraten und Wirtschaftsdaten habe man sich „aus Rationalitätsgründen dafür entschieden, das Paradies gleich hierher zu verlagern.“ Noch ein anderer Mann kommt ans Tor. Auf die Frage, ob er Deutsch spreche, antwortet er: „Nein, ich hatte Spanisch als erste Fremdsprache.“ Daraufhin wird er in die benachbarte Hölle eingewiesen.

Die bittere Wirklichkeit ist weniger amüsant als die Satire. Vor allem von den negativsten Seiten des „Modells BRD“ lässt sich die aktuelle politische Führung Frankreichs inspirieren. Etwa betreffend die Sanktionen für Erwerbslose, die es in ihrer Vorstellung wagen, so genannte „zumutbare Arbeitsangebote“ auszuschlagen. Bislang existierte diese Möglichkeit zwar auch im französischen Sozialrecht, doch blieb sie im Gesetz vage formuliert und fand in der Praxis in den letzten Jahren so gut wie keine Anwendung. Theoretisch ist es seit einigen Jahren möglich, eine/e Arbeitslose/n für eine Dauer von i.d.R. zwei Monaten aus der Statistik zu entfern – und ihm oder ihr die Bezüge zu streichen -, wenn diese Person „dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung steht“. Dies soll sich an mangelndem Eifer bei der Jobsuche oder an der Ablehnung entsprechender „vernünftiger Angebote“ (une offre raisonnable d’emploi) ablesen lassen. Seit dem Kriseneinbruch 2007/08 haben die französischen Arbeitsvermittler jedoch ohnehin kaum Jobangebote zu unterbreiten, die Regel blieb deswegen in der Praxis weitgehend unbeachtet.

Dies soll sich laut Präsident Nicolas Sarkozy, Kandidat für seine eigene Nachfolge, jedoch ändern. Am 11. Februar 12 kündigte er seine erneute Präsidentschaftsbewerbung erstmals an, durch ein Interview mit dem konservativ-reaktionären Wochenmagazin Le Figaro Magazine. Darin spricht er sich für das vermehrte Durchführen von Volksabstimmungen in der Amtszeit des nächsten Staatsoberhaupts aus. Sollte er dieser neu-alte Präsident sein, so schlägt er auch gleich zwei Themen für Referenden vor: einmal soll über verschärfte Sanktionen für Erwerbslose, die „Angebote“ von den Arbeitsvermittlern ablehnen, abgestimmt werden. Und da es aber auch dann voraussichtlich wenig Jobvorschläge geben könnte, will Sarkozy die Arbeitslosen in dem Fall einfach mit „Fortbildungsangeboten“ belästigen. Lehnen die damit behelligten Erwerbslosen solche „Weiterbildungsmaßnahmen“ ab, dann sollen sie ebenfalls reif für allfällige Sanktionen sein. Und das zweite Abstimmungsthema soll vermehrte Abschiebungen von „illegalen“ Einwanderern zum Gegenstand haben. Neu ist, dass in einer „traditionsreichen“ bürgerlichen Demokratie ernsthaft vorgeschlagen wird, demographische Mehrheiten über mehr oder minder existenzielle Rechtspositionen von – ihnen sozusagen ausgelieferte – Minderheiten abstimmen zu lassen und diese einer einfachen Abstimmungsmehrheit zur Disposition zu stellen.

Ansonsten hat Sarkozy noch weitere „tolle“ Vorschläge auf Lager. Einer davon wurde in der Nacht vom 28. und 29. Februar 12 bereits im Schnelldurchlauf durch die französische Nationalversammlung angenommen, kurz bevor das bisherige Parlament am 06. März 12 zu seiner letzten Sitzung zusammentrat – danach wurde es aufgelöst und wird im Juni neu gewählt werden. Gegenstand des Beschlusses ist eine Erhöhung der allgemeinen Mehrwertsteuer (von bislang 19,6 % auf 21,2 %), welche angeblich das inländische Wachstum ankurbeln soll. Dahinter steht der Plan, einen Teil der Sozialabgaben der so genannten Arbeitgeber alias „Lohnnebenkosten“ auf die Verbrauchsbesteuerung – und damit die ungerechteste Besteuerung überhaupt, da die Konsumsteuern in keinerlei proportionalem Verhältnis zum Einkommen stehen – umzuwälzen. Dies soll in Frankreich „Arbeit verbilligen“ und zugleich Importprodukte verteuern. Dadurch, so die Behauptung, würden angeblich inländische Unternehmen zusätzliche Markanteile zu Lasten von ausländischen gewinnen können. (Sollte allerdings François Hollande zum künftigen französischen Präsidenten gewählt werden, dann möchte er die Entscheidung zugunsten der so genannten „sozialen Mehrwertsteuer“ oder ,TVA sociale‘ rückgängig machen.)

Den Beschluss dazu hatte Präsident Sarkozy erst einen Monat zuvor, am 29. Januar 12, im Parlament angekündigt. Eine zweite Weichenstellung kündigte er am selben Tag an, sie könnte aber erst nach den anstehenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen spruchreif werden. Dann möchte Sarkozy, sofern er seine Androhung wahrmacht, so genannte „Abkommen für Wettbewerbsfähigkeit“ (accords de compétivité) in den Unternehmen gesetzlich ermöglichen. Hinter dem Begriff steht nichts anders als die Vorstellung, Betriebsvereinbarungen – wie man es in Deutschland nennen würde – zwischen Arbeitgebern und einzelnen Gewerkschaften sollten in Krisenzeiten auch Lohnsenkungen beinhalten können. Oder aber zeitweilige Erhöhungen der Arbeitszeit gegenüber der gesetzlichen Norm (35 Stunden im wöchentlichen Durchschnitt, wobei Schwankungen zwischen kürzen und längeren Arbeitswochen über das Jahr hinweg ohnehin bereits zulässig sind), ohne Lohnausgleich. Zu diesem Zweck soll das betriebliche Abkommen auch den individuellen Arbeitsvertrag, den Lohn betreffend, oder das Gesetz (bezüglich der Arbeitszeit) abändern respektive sich über diese bislang als „zwingend“ geltenden Normen hinwegsetzen können. Bis heute wäre dies strikt gesetzeswidrig. Die Mehrzahl der französischen Gewerkschaften möchte davon erklärtermaßen nichts wissen. Allerdings schlug ein Spitzenvertreter der CFDT – des rechtssozialdemokratisch beeinflussten, zweitstärksten Dachverbands französischer Gewerkschaften (hinter der „postkommunistischen“ CGT) – da in Libération vom 31. Januar 12 bereits andere Töne an.

Dort erklärte er sich zwar empört über die kurze Frist, die Sarkozy den so genannten Sozialpartnern gegeben habe – er ließ ihnen am 29. Januar d.J. zwei Monate Zeit, um sich auf zentraler Ebene über die Modalitäten solcher Produktivitätspakte in den Unternehmen zu verständigen, ansonsten werde der Gesetzgeber eingreifen -, und wandte sich dagegen, dass den Gewerkschaften solcherart die Pistole auf die Brust gesetzt werde. Doch in der Sache erklärte Marcel Grignard im Namen der CFDT, dass man durchaus gesprächsbereit sei, um über betriebliche Vereinbarungen zur Krisenbewältigung mit sich reden zu lassen.

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