Die gesellschaftlichen Tugenden des Nonkonformismus
Zu einem Text des Soziologen Lewis Coser

von Richard Albrecht

03/12

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I.

In seinem sozialwissenschaftlichen Kurzesssay „Über die Tugenden des Nonkonformismus in der Soziologie“[1] kritisiert/e Lewis A. Coser (1913-2003) theoretische Denkformen und praktische Arbeitsweisen akademisch-westlicher Soziologie der zweiten Hälfte des vergangenen „kurzen“ Jahrhunderts. Dabei geht es Coser vor allem um den Verfall kritischen und utopischen Denkens in dieser Soziologie einerseits und andererseits um die vor allem in der US-Soziologie unverkennbare Rückentwicklung dystopischer und antihumaner Grundrichtungen in Theorie, Empirie und Forschungspraxis:

„Nur ein hinreichend entwickeltes kritisches Potential garantiert, daß sich die Soziologie neben den manifesten sozialen Problemen auch den latenten Problemen zuwendet und so der Gefahr gesellschaftlicher Folgenlosigkeit ihrer Ergebnisse entgeht.“[2]

II.

Was gelegentlich und auch heute noch in stärkerem Englisch als theoretischer „bullshit“ und in der empirischen Forschungspraxis als „cheap ´n dirty“ gekennzeichnet wird, wird von Coser moderat/er als soziologisches „Denken“ bezeichnet, das keine „kritischen Impulse“ mehr enthält bzw. sich vor allem durchs „Fehlen der kritischen Dimension im aktuellen soziologischen Denken“ auszeichnet. Diesem intellektuellen Verfall entsprechen (angeblich akademisch) „hoch qualifizierte Computerspezialisten.“[3]

Der von Coser kritisierte Utopie- und Kritikverlust geht einher mit Desinteresse und fehlendem Rückbezug auf diesen Namen verdienende soziale Bewegungen, die gegen gesellschaftliche Ungerechtigkeiten kämpfen. Dabei schließt Coser an den Wissenschaftssoziologen Robert King Merton (1910-2003)[4] und dessen Unterscheidung von offenen und verdeckten sozialen Funktionen hinsichtlich „manifester und latenter sozialer Probleme“ an und betont abschließend:

„Ohne den Stachel des kritischen Denkens wird [Soziologie] wie auch das gesamte soziale Gewebe in Konformität erstarren.“[5]

III.

Zehn Jahre nach meiner Promotion (1976) hatte ich als engagierter Jungwissenschaftler Gelegenheit, im Sommermester 1986 am Exil-Seminar Cosers als Gast teilzunehmen und dort zu referieren[6] (Coser lehrte ein Semester lang an der RCU Heidelberg als Max-Weber-Gastprofessor[7]). Fünf Jahre später, 1991, veröffentlichte ich meinen eigenen wissenschaftlichen Essay THE UTOPIAN PARADIGM[8] mit dem selbständigen, über Merton hinausgehenden, Forschungsansatz. In den letzten Jahren habe ich nach Abschluß meiner „Armenozid“-Forschungen, Veröffentlichung meiner drei Bände zur "Genozidpolitik im 20. Jahrhundert"[9] und der Bearbeitung meiner Quellenstudien zur Zeitschriftenveröffentlichung über die zweite Hitlergeheimrede am 22. August 1939 zum „Vernichtungskrieg“ gegen Polen vor seinen Oberkommandierenden auf dem Obersalzberg[10] am Beispiel eines prominenten ganzdeutschen Zeitgeschichtlers und dessen Proklamierung faschistischer Dystopie als NS-"Utopie“[11] die Kritik wieder auf genommen und sie auch auf die dominante Konformideologie gegenwärtiger ganzdeutscher Zeitgeschichtsschreiber verallgemeinernd rückbezogen.[12]

Anmerkungen

[1] Lewis A. Coser, Über die Tugenden des Nonkonformismus in der Soziologie. In: Berliner Journal für Soziologie. Sonderheft 1991: 9-14

[2] Ebenda

[3] Ebenda 9 f.

[4] Kritisch zu Mertons Grundansatz Richard Albrecht, Der Matthäus-Effekt. In: soziologie heute, 4 (2011) 17: 28-31

[5] Coser, Nonkonformismus: 14

[6] Richard Albrecht, Carl Zuckmayers amerikanische Jahre: Aspekte der Erfolglosigkeit eines deutschen Erfolgsdramatikers in der Emigration; in: Communications, 20 (1995) 1: 112-128

[7] http://ricalb.files.wordpress.com/2009/07/erinnerungssplitter.pdf

[8] Richard Albrecht, The Utopian Paradigm, in: Communications, 16 (1991) 3: 283-318; die Einleitung steht zum kostenlosen Herunterladen im Netz http://www.grin.com/en/e-book/109171/tertium-ernst-bloch-s-foundation-of-the-utopian-paradigm-as-a-key-concept
[9] Richard Albrecht, Genozidpolitik im 20. Jahrhundert. Aachen: Shaker [ = Allgemeine Rechtswissenschaft], drei Bände; Bd. 1: Völkermord(en) 2006, 182 p.; ISBN 978-3-8322-5055-3; Bd. 2: Armenozid 2007, 114 p.; ISBN 978-3-8322-5738-5; Bd. 3: Hitlergeheimrede 2008, 104 p., ISBN 978-3-8322-6695-0
[10] Richard Albrecht, "Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?" Adolf Hitlers Geheimrede am 22. August 1939: Das historische L-3-Dokument; in: Zeitschrift für Genozidforschung, 9 (2008) 1: 93-131; ders., “Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?”- Kommentierte Wiederveröffentlichung der Erstpublikation von Adolf Hitlers Geheimrede am 22. August 1939; in: Zeitschrift für Weltgeschichte, 9 (2008) 2: 115-132. - Englische Zusammenfassung http://www.h-net.org/announce/show.cgi?ID=160809
[11] Richard Albrecht, “Realizing Utopia“ – Really Not. On the false world of a prominent German tenure-historian, in: Kultursoziologie, 17 (2008) I: 127-143
[12] http://www.kritiknetz.de/images/stories/texte/Die_WahrheitsLuege.pdf ; erweiterte Netzfassung http://duckhome.de/tb/archives/8826-DIE-WAHRHEITSLUEGE.html; gedruckt udT. Die WahrheitsLüge oder ganzdeutsche Talmihistoriker; in: FLASCHEN POST. Beiträge zur reflexivhistorischen Sozialforschung (Hg. Richard Albrecht). VerKaaT 2011: 26-34 http://gegen-den-strom.org/  

Editorische Hinweise

Wir erhielten den  Artikel vom Autor.

Richard Albrecht ist unabhängiger Sozialforscher & freier Autor in Bad Münstereifel. Er publizierte in den letzten Jahren vor allem in wissenschaftlichen Zeitschriften wie soziologie heute (sh), Zeitschrift für Politik (ZfP), Zeitschrift für Weltgeschichte (ZWG), FORUM WISSENSCHAFT (FW) und Aufklärung und Kritik (A&K). - Letzterschienene Bücher: SUCH LINGE (2008, wiss.); HELDENTOD (2011, lit.); FLASCHEN POST (Editor, 2011, publ.). Netzarchiv -> http://eingreifendes-denken.net  Kontakt  -> eingreifendes.denken@gmx.net