Libyen nach Qadhafi (Gaddafi) und sein Platz in den internationalen Beziehungen

von Bernard Schmid

03/12

trend
onlinezeitung

Kein „Schurkenstaat“ mehr: Seit nunmehr zwei Monaten steht Libyen nicht mehr unter Sanktionen des UN-Sicherheitsrats. Der Rat sowie die Regierung der USA hoben am 17. Dezember 2011 die zuvor gegen das Regime des langjährigen Diktators Mu’ammar al-Qadhafi (eingedeutscht: „Gaddafi“) sowie gegen die libysche Zentralbank und andere Banken des Landes verhängten Strafmaßnahmen auf. Ein Sprecher von US-Präsident Barack Obama, Jay Carney, erklärte dazu, dieser Schritt solle Libyen unter seinen neuen Machthabern, die aus dem „Nationalen Übergangsrat“ (TNC) hervorgingen, beim Wiederaufbau helfen.

Mit dem Votum einher ging das „Auftauen“ von über 30 Milliarden Dollar an libyschen Guthaben, die zuvor allein auf dem Boden der USA eingefroren worden waren. Großbritannien folgte mit der Freigabe von libyschen Guthaben in Höhe von 10,1 Milliarden, die auf seinem Territorium blockiert worden waren. Noch sind damit aber nicht alle wirtschaftlichen Probleme in diesem Zusammenhang gelöst, denn mit der praktischen Verwendung der Gelder sind noch bürokratische Hürden verbunden. Die neuen libyschen Behörden müssen erst genaue Kenntnis von den hier und dort eingelagerten Guthaben erlangen und diese konkret reklamieren.

Auch wenn Libyen also nicht mehr formell als „Schurkenstaat“ eingestuft wird, so hat es doch beispielsweise die NATO nicht eilig, erneut einen Fuß auf das Staatsgebiet des nordafrikanischen Landes zu setzen. NATO-Streitkräfte und die Infrastruktur der Allianz waren an den militärischen Maßnahmen unter französisch-britischer Führung gegen das Qadhafi- (Gaddafi-)Regime ab März 2011 beteiligt. Allerdings waren nicht alle Mitgliedsstaaten gleichermaßen beteiligt; aus unterschiedlichen Gründen verweigerten etwa Norwegen, Deutschland und die Türkei jedenfalls eine direkte Beteiligung an den Operationen. Am 31. Oktober 2011 jedoch, elf Tage nachdem Qadhafi von Aufständischen getötet worden war, zog die NATO vollständig von libyschem Territorium ab. Motiviert war der relativ schnelle Rückzug vor allem dadurch, dass die Entscheidungsträger es vermeiden wollen, durch eine länger anhaltende Präsenz in innere Konflikte Libyens einbezogen zu werden und danach einen neuen „Problemherd“ - wie den Iraq (Irak) zwischen 2003 und 2011 - auf unbestimmte Zeit „am Bein zu haben“.

BERLIN:  4. März 2012 um 18.00 Uhr
Veranstalter: jour fixe initiative berlin

Gilbert Achcar und Bernard Schmid:
Ursprünge und Dynamik des revolutionären Aufstands 2011 in Nahost und Nordafrika

Die Vorträge gehen auf die sozial-ökonomischen und politischen Ursprünge des revolutionären Prozesses in Nahost und Nordafrika ein. Sie gehen davon aus, dass Revolutionen Ausdruck des Widerspruchs sind zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte, der Produktionsweise und der politischen Struktur. Die Referenten tragen der Diversität der Situationen und Prozesse in dieser Region Rechnung und führen sie auf die unterschiedlichen sozialen Strukturen und Staatsformen zurück. Dabei wird die soziale Dynamik des revolutionären Prozesses untersucht, insbesondere die sozialpolitischen Inhalte der beteiligten Kräfte, sowohl derjenigen, die vor dem Aufstand bereits aktiv waren, als auch der neuen Kräfte, die sich während des Aufstands herausbildeten. Schließlich wird über die Perspektiven dieses Prozesses auf regionaler Ebene gesprochen werden.

Wie immer zu Gast bei der NGBK
Neue Gesellschaft für Bildende Kunst [NGBK]
Oranienstraße 25 | D-10999 Berlin-Kreuzberg
U-Kottbusser Tor | Bus M29

Am 26. Januar 2012 erklärte NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen anlässlich einer Pressekonferenz, seine Organisation habe in Libyen „auf der Grundlage eines UN-Mandats interveniert, das nicht länger in Kraft ist“. Und er fügte hinzu: „Wir haben nicht die Absicht, nach Libyen zurückzukehren.“ Mindestens ein gewichtiger Mitgliedsstaat der Allianz wird in absehbarer Zeit durch Uniformierte in dem nordafrikanischen Staat vertreten werden.

Am 15. Januar 12 vereinbarten Verantwortliche Libyens und der Türkei eine intensive Zusammenarbeit bei der Ausbildung neuer libyscher Sicherheitskräfte. 1000 bisherige Rebellen sollen etwa mit türkischer Hilfe in Polizeiberufen ausgebildet werden, während 700 Absolventen der Polizeiakademie der Türkei ihr Studium in Libyen beenden sollen. Einen Tag nach dem Abkommen mit Ankara hielt sich dann, am 16. Januar 12, der ägyptische Marschall Mohammed Tantawi, Chef der Militärregierung des „Obersten Rats der Streitkräfte“ (SCAF) im Nachbarland, in Tripolis auf. Auch er vereinbarte eine engere Kooperation mit dem neuen Libyen, wurde jedoch durch Demonstrationen und Sit-ins empfangen: Die Protestierenden forderten von ihm die Auslieferung der Mitglieder des Gaddafi-Clans, die bislang in Ägypten Zuflucht gefunden haben.

Die europäischen Staaten unterhalten sich bislang zumindest auf politischer Ebene mit den Kontakten zu den neuen Machthabern Libyens eher zurück. Die wirtschaftliche Zusammenarbeit hat zwar erneut begonnen - so hielt sich der französische Transportminister Thierry Mariani am 29. Januar 12 in Tripolis auf. Er wurde von Vertretern der großen Unternehmen des Transportsektors begleitet wie Air France, Aiglazur, Bolloré oder auch des Pariser Flughafenbetreibers ADPI. Diese sind an Investitionen in den libyschen Häfen und Flughäfen sowie an der Aufnahme neuer Flugverbindungen interessiert, aber auch an der Zahlung von Altschulden aus der Zeit des Gaddafi-Regimes. ADPI reklamiert etwa 100 Millionen Euro aus unbeglichenen Rechnungen aus dem Bau eines neuen Flughafens in Tripolis, der insgesamt eine halbe Milliarde kostete.

Auf der Ebene der unmittelbar politischen zwischenstaatlichen Beziehungen herrscht jedoch weit größere Skepsis. Die anhaltende Unsicherheit, Kämpfe zwischen verfeindeten Milizen in Libyen, der Wurf von Granaten auf das Hauptquartier des TNC am dritten Januarwochenende dieses Jahres: All dies trägt nicht unbedingt zur Imageförderung des „neuen Libyen“ bei. Ebenso wenig wie die Nachricht, die sich Anfang Februar dieses Jahres in Frankreich verbreitete und das Schicksal des früheren libyschen Botschafters in Paris betrifft. Omar Brebesch hatte das Gaddafi-Regime in den Jahren von 2004 bis 2008 diplomatisch in Paris vertreten, also auch während des mit einigem Pomp durchgeführten Staatsbesuch des damaligen libyschen Staats- und „Revolutionsführers“ bei Nicolas Sarkozy im Dezember 2007. Danach war Brebesch nach Tripolis zurückgekehrt und juristischer Berater im Außenministerium geworden. Wie die Menschenrechtsgruppe Human Rights Watch (HRW) am 03. Februar dieses Jahres bekannt gab, wurde der 62jährige jedoch im Monat zuvor in der libyschen Stadt Zentan mutmaßlich durch Milizionäre und frühere Rebellen zu Tode gefoltert. Und dies, obwohl Brebesch nach dem Umsturz zunächst auch mit den neuen Machthabern zusammenarbeitete und sich freiwillig nach Zentan begeben haben soll, um bei einer Befragung durch die Miliz Asch-Schohada Aschoura (Die Märtyrer des Rats) Rede und Antwort zu stehen. Am 19. Januar 12 war er durch die fragliche Miliz „vorgeladen“ worden, und hatte dem auch Folge geleistet. Am Tag darauf wurde seine Leiche aufgefunden, welche die Spuren von zahlreichen Verletzungen trug.

Migrationspolitik: Gendarm für die „Festung Europa“

Ein wichtiges Thema für die zukünftige Zusammenarbeit europäischer Staaten mit Libyen wird aber in jedem Falle die Migrationsproblematik bilden. Ende 2009 hatte die Initiative Global Detention Project insgesamt 27 Haft- und Inhaftierungslager für Migranten - oft in Europa unerwünschte und von dort nach Nordafrika „zurückgeschobene“ Menschen - in Libyen identifizieren können. Die neuen Machthaber möchten nunmehr 19 von ihnen renovieren. Mitte Januar ersuchte der libysche Innenminister Fawzi Abdelali offiziell bei der Europäischen Union um Hilfe bei diesem Vorhaben.

Am 19. Januar 12 forderte General Abdelmomem Al-Tunsi, ein hochrangiger Vertreter des libyschen Innenministers, ferner europäische Unterstützung bei der Bekämpfung „illegaler Migration“: „Die illegale Einwanderung hat“, nachdem sie während der Bürgerkriegskämpfe zum Erliegen gekommen war, „wieder zugenommen und die EU muss eingreifen“. Er verwies besonders auf wachsende Fluchtbewegungen aus Syrien. Kurz darauf drohte Minister Abdelali bei einer Pressekonferenz am 24. Januar d.J. den EU-Staaten an, falls Libyen - das nach seinen Worten „erhebliche Mittel benötigt, um die Einwanderung zu kontrollieren“ - nicht ausreichend Unterstützung erhalte, werde es mit seinen Anstrengungen bei der Migrationskontrolle nachlassen. „Libyen wird nicht der Grenzwächter Europas sein“, da es „enorme Probleme habe“, fügte er hinzu. Allerdings wohl weniger, um die Rolle als Gendarm an der Südgrenze des EU-Blocks grundsätzlich zurückzuweisen, sondern weil er von den Europäern mehr Entgegenkommen erwartet.

Vor allem mit Italien wurde in der Vergangenheit eine intensive Kooperation gerade auf diesem Gebiet betrieben. Im Jahr 2008 hatten Silvio Berlusconi und Gaddafi ein allgemeines „Freundschaftsabkommen“ unterzeichnet, das insbesondere auch zur Intensivierung der bereits zuvor auf diesem Feld bestehenden Zusammenarbeit - erste bilaterale Verträge waren bereits 2000 und 2004 geschlossen worden - beitrug. Am 21. Januar 12 nun reiste Italiens neuer Premierminister Mario Monti nach Tripolis, wo er mit seinem dortigen Amtskollegen Aburrahim el-Keib eine gemeinsame „Erklärung von Tripolis“ unterzeichnete. Diese sieht eine „Zusammenarbeit auf vielen Gebieten zum beiderseitigen Nutzen“ vor. Es wurde nicht präzisiert, ob sie das Abkommen von 2008 ersetzt, bekräftigt oder ergänzt. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty international stellte auf diesem Anlass in einem Brief konkrete Forderungen an Monti. Sie forderte besonders, von „Rückschiebungen“ nach Libyen abzusetzen und an diesem Punkt auch die am 17. Juni 2011 von italienischer Seite mit dem TNC geschlossene Vereinbarung zur Fortführung der Migrationskontrolle „auszusetzen“. Doch die Politik der EU-Staaten dürfte sich kaum in die von AI geforderte Richtung entwickeln.

Editorische Hinweise

Wir erhielten den  Artikel vom Autor.