Jürgen Trittin, der 23. Februar 2012, der Schweinejournalismus & der Kandidat der ganzdeutschen Viererbande

Eine Kurzkritik von Richard Albrecht

03/12

trend
onlinezeitung

„Das Vernünftigste aber, was die Kinder mit ihrem Spielzeug machen können, ist, daß sie dasselbe zerbrechen.“
(G.W.F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse [1830]).

I.

Weder Herrn Jürgen Trittin noch Herrn Joachim Gauck kenne ich persönlich. Das ist gut so. Und so soll´s auch bleiben.

II.

Eine „ordentliche“, historisch-materialistische Analyse dessen, was der „Rhetor Trittin“ fernsehöffentlich am 23. Februar 2012 vortrug, wär´ (mir) durchaus als wissenschaftliche Studie einer öffentlichen Rede[1] möglich. Freilich nicht mehr in diesem Leben und nicht in Form „gratiser Privatarbeit“ (Karl Marx). Und cheap´ n dirty, also schnell und luschig innert weniger Wochen hingehuddelt, ging und geht nicht. Das bedeutet: als „Sozialwissenschaftsjournalist“ (Lars Clausen) versuche ich, in Form eines wissenschaftlich-politischen Kurzkommentars Ekel und Abscheu zu sublimieren und in wohlgesetzten Worten und nachvollziehbaren Sinnzusammenhängen auszusprechen, was meiner Meinung nach zu einer bewußt strategisch angelegten Redepassage eines ehemaligen Bundes(umwelt/naturschutz/reaktorsicherheits)ministers zu sagen ist. (Aus Gründen bleiben alle weitergehenden kaffeesatzlesenden Mutmaßungen draußen vor.)

III.

Trittin sagte (in der ZDF-Umschreibung) unter anderem[2]: „Der Fraktionschef der Grünen im Bundestag, Jürgen Trittin, warf im Verlauf der Sendung der in Berlin erscheinenden Tageszeitung "taz" im Zusammenhang mit der Berichterstattung über Joachim Gauck "Schweinejournalismus" vor. In der ZDF-Sendung "maybrit illner" bezog sich Trittin am Donnerstag auf einen von dem Blatt tags zuvor veröffentlichten Kommentar mit dem Titel "Gauck und der Holocaust". Darin wird dem Kandidaten für das Bundespräsidentenamt unter anderem vorgeworfen, dieser postuliere, der Holocaust sei die Ersatzreligion der Gottlosen. Es sei "ein reaktionärer Stinkstiefel, der demnächst Bundespräsident dieses Landes" werde, schreibt Autor Deniz Yücel. Trittin forderte "taz"-Chefredakteurin Ines Pohl auf, sich bei Gauck für den Beitrag zu entschuldigen. Der frühere DDR-Bürgerrechtler sei Vorsitzender des Vereins Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V. Ihm eine Verharmlosung des Holocausts vorzuwerfen sei "Schweinejournalismus", wie ihn die "BILD"-Zeitung" mache, kritisierte Trittin.“

IV.

Was hier fernsehöffentlich maskenhaft-lächelnd von dem ganzdeutschen Berufspolitiker, der in den letzten Jahren die meisten Fernseh“talkshow“-Auftritte hatte[3], strategisch-gezielt vorgebracht wurde, ist erstens Ausdruck einer Sicht von oben nach unten, also kataskopisch[4], entspricht zweitens der Lebensweise derer, die nicht nur Politik als Beruf betreiben, sondern auch seit Jahrzehnten von der Politik leben (und nicht für sie). Drittens zeigt der Redner mit seinem öffentlichen Schimpf gegen Schweinejournalismus und Schweinejournalisten, daß er seit 23. Februar 2012 auch auf dem, bisher vor allem prominenten rechten Spitzensozis und Machtideologien wie Wolfgang Clement (Ex-NRW-Ministerpräsident) vorbehaltenen, Niveau der untersten Schublade angekommen ist, was verallgemeinert heißt: Wer oder was Anfang der 1980 Jahre im deutschen Westen als grün-alternativ und basisdemokratisch-gewaltfrei antrat, ist inzwischen funktionell-funktionierender Teil des, früher verniedlichend establishment genannten, zentralen politischen Machtapparats. Aber um dieses „alte Spiel“[5] geht´s hier nicht. Oder anders: das mögen politische Klasse und ihre Medienkaste unter sich ausmachen und dabei das, was sie exzellent beherrschen - die 3-d-Methode (diskreditieren, diffamieren, denunzieren) - anwenden oder auch nicht oder wie auch immer …

V.

Abschließend geht es hier auch um Wissenschaft als Beruf und damit viertens um den Kernpunkt der Trittin-Einlassung für Dr. h.c. Joachim Gauck, dessen Kandidatur Trittin am 20. Februar 2012 taz-öffentlich als „Erfolg der Grünen“ feierte[6] und den Trittin drei Tage später ZDF-öffentlich zum Strukturfreiheitskämpfer sui generis stilisierte, weil er geschäftsführender Vorstandsvorsitzender der Millionen-Stiftung gegen das Vergessen e.V.[7], aus deren Selbstdarstellung Trittin zur Kennzeichnung des Vereinszwecks ausgiebig zitierte, ist:  „Joachim Gauck ist Vorsitzender des Vereins Gegen das Vergessen […] Dem Vorsitzenden dieses Vereins Verharmlosung des Holocaust vorzuwerfen, das ist wirklich, auf Deutsch gesagt, Schweinejournalismus, das kenn´ ich sonst von der Bildzeitung, aber nicht von der taz.“

Nicht weil er dieses oder jenes (nicht) getan oder (nicht) geduldet oder (nicht) unterlassen hätte: Sondern weil er Vorständler ist, also einen Führungsposten besetzt, kann Gauck „den Holocaust“ nicht verharmlosen. Nach dieser Palmström-Logik[8] wäre zum einen die rechtsextremistische NPD staatstragend, weil sie durch Ämter für „Verfassungsschutz“ staatsknetisch alimentiert wird. Zum anderen fühle ich mich als unabhängige wissenschaftliche und Forscherpersönlichkeit durch solche Weißwäsche/r eines Wendejockel[9] deshalb besonders verhöhnt, weil meine Forschungen zum deutsch(sprachig)en Widerstand[10] und Exil[11] ohne jede staatsknetische Alimentation[12] entstanden (und, dialektisch aus der Rückschau gesehn, möglicherweise gerade deshalb schon 1990 als kompetent und erhaltenswert angesehen wurden[13]). An diesen Maßstäben öffentlicher Wissenschaft gemessen, sind alle mir bisher bekanntgewordenen öffentlichen Einlassung des Herrn Gauck (selbst in wohlwollender Bewertung) noch nicht einmal als intellektuell erbärmliche „eklektische Bettelsuppe“[14]anzusehen.

VI.

Daß ich weder Herrn Joachim Gauck noch Herrn Jürgen Trittin persönlich kenne ist gut so. Und so soll´s auch bleiben.


Anmerkungen

[1] Richard Albrecht, Der Rhetor Carlo Mierendorff; in: Diskussion Deutsch, 18 (1987) 96: 331-350; zuletzt Ders., „Zerstörte Sprache – Zerstörte Kultur“: Ernst Blochs Exil-Vortrag vor siebzig Jahren: Geschichtliches und Aktuelles; in: Bloch-Jahrbuch 13 (2009): 223-240 [und] „Zerstörte Sprache“ - Zum 125. von Ernst Bloch: soziologie heute, 3 (2010) 11: 24-26
[2] http://www.zdf.de/ZDFmediathek/ Dort auch das Bild-Ton-Dokument wie hier http://www.perlentaucher.de
[3] http://www.haz.de/
[4] Theodor Geiger, Der soziologische Doppelaspekt; in: Ders., Arbeiten zur Soziologie. Hg. Paul Trappe. Neuwied [und] Berlin-Spandau: Luchterhand [= ST 7], 1962: 147-150
[5] http://duckhome.de/tb/archives/8749-DIESELBEN-ARSCHLOECHER.html
[6] http://taz.de/Juergen-Trittin-ueber-Gauck/!88105/http://taz.de/Juergen-Trittin-ueber-Gauck/!88105
[7] http://www.gegen-vergessen.de/
[8] „Und er kommt zu dem Ergebnis: / Nur ein Traum war das Erlebnis. / Weil, so schließt er messerscharf, / nicht sein kann, was nicht sein darf." Christian Morgenstern: Die unmögliche Tatsache [1909]
[9] Peter-Michael Diestel, Wendiger Pastor: „Auf Wiedersehen, Herr Gauck“ der Freitag: 24. April 2000 zuletzt Ders., „Uns erwartet eine weitere kalte Dusche“ (junge Welt: 25. Februar 2012) http://www.jungewelt.de/2012/02-25/053.php
[10] Anstatt weiter Richard Albrecht; Willy Brandt; Ralph Giordano u.a., Widerstand und Exil 1933-1945. Frankfurt/Main: Campus, 1986, 302 p.; zuletzt Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, Schriftenreihe Bd. 223, ³1989, 302 p.
[11] Anstatt weiterer Richard Albrecht, Exil-Forschung. Studien zur deutschsprachigen Emigration nach 1933, Frankfurt/Main: Peter Lang [= Europäische Hochschulschriften/Deutsche Sprache und Literatur 1092], 1988, 376 p.
[12] Richard Albrecht, Closed Access. Expropriation (Enteignung) und Exploitation (Ausbeutung) sind immer konkret http://ricalb.files.wordpress.com/2010/02/closed-access1.pdf Ders., „ANSPRUCHSVOLLE WISSENSCHAFTLICHE FACHLITERATUR“. Auch Expropriation (Enteignung) und Exploitation (Ausbeutung) im Netz sind immer konkret. Und das Gegenteil von Open Access genannter Freier Wissenschaft
[13] Hubertus Buchstein, EXIL; in: Politische Vierteljahresschrift (Literatur), 31 (1990) 4: 717-718: „Die Studie, die in jahrelanger Kleinarbeit zusammengetragenen Details und Puzzlestücke enthält, belegt auf eindrucksvolle Weise den Nutzen, den die Exilforschung […] weiterhin aus der Arbeit von leidenschaftlichen ´Einzelkämpfern´ ziehen kann […] Es ist zu hoffen, daß die in jahrlanger Forschungs- und Lektürearbeit erlangte Kompetenz des Autors gerade in einer Zeit, wo sich die Topoi des politischen Diskurses auf ´Normalisierung´ der deutschen Geschichte reimen, dem Stachel der so schmerzhaften wie notwendigen Erinnerung namens Exilforschung weiterhin erhalten bleibt.“
[14] Friedrich Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie [1888]; in: Marx-Engels-Werke Band 21. Berlin: Dietz [ = MEW 21], 1962: 259-307, Zitat 264

Editorische Hinweise

Wir erhielten den  Artikel vom Autor.

Richard Albrecht (Ph.D.; Dr.rer.pol.habil.) lebt als reflexionshistorisch arbeitender Sozialforscher & Freier Autor in Bad Münstereifel; Forschungsansatz THE UTOPIAN PARADIGM (in: Communications, 16 (1991) 3: 283-318; http://www.grin.com/en/e-book/109171/tertium-ernst-bloch-s-foundation-of-the-utopian-paradigm-as-a-key-concept  [Einleitung]); Bio-Bibliographie http://wissenschaftsakademie.net Netzarchiv http://eingreifendes-denken.net  e-Postdresse eingreifendes.denken@gmx.net
(23) Ekundayo, Kayode: ‘Nigeria: China, 2010 Budget and Oil Blocks’, Daily Trust, 12. Juli 2010, Abuja.