„Bürgerarbeit“ – öffentlich geförderte Beschäftigung oder
Pflichtarbeit? – so lautete der Titel der DGB Broschüre:
arbeitsmarktaktuell Nr.3 vom März 2010. Eine
Studie, in der wir unsere eigene Kritik und unsere
Befürchtungen wieder erkannt haben. Eine eigene Positionierung
war im April 2010 als „Erwerbslose zur Bürgerarbeit“ (1)
publiziert worden. Was kann ein Jahr später gesagt werden,
welche Richtung deutet sich an? Wir sind von einem
„Öffentlichen Beschäftigungssektor“ genauso weit entfernt wie
von einer „allgemeinen Arbeitspflicht“. Weder Roland Koch oder
andere Hardliner noch „die Linken“ bestimmen die diffusen
Debatten. Wir fragen: Weil die Brisanz raus ist und alles
nicht so schlimm gekommen ist, wie gefordert oder befürchtet?
Oder weil Tag für Tag Fakten geschaffen werden, die die einen
zufrieden stellen und die anderen demütigen. Weil immer noch
keine lautstarke, nennenswerte Gegenwehr der Betroffenen zu
vernehmen ist?
1. Fakt
ist: als „öffentlich geförderte Beschäftigung“ betrachtet,
bedeutet Bürgerarbeit (gegenüber ABM, MAE Entgeltvariante,
selbst gegenüber Ein-Euro-Jobs) für die Betroffenen eine
Verschlechterung – in jedweder Hinsicht und von uns zu recht als
Null-Euro-Jobs bezeichnet. Ob ein Übergang in den ersten
Arbeitsmarkt nennenswert sein wird, darf massiv bezweifelt
werden. Manche Betroffene werden Bürgerarbeit trotzdem annehmen
wollen. Auf diese potentielle Akzeptanz zielt die ganze
Propaganda, aktuell begrüßt Wirtschaftsminster Haseloff in S.A.
noch jeden neuen Bürgerarbeiter mit Handschlag und Zeitungsfoto,
nicht nur weil Wahlkampf ist.
2. Fakt
ist: Über die angeblichen „Chancen“ der eigentlichen
Bürgerarbeit soll geredet und berichtet werden, aber die Praxis
bzw. der Skandal der so genannten Aktivierungsphase möge schön
im Dunkeln bleiben. So blendet man einen wesentlichen Aspekt der
„Pflichtarbeit“ aus.
3. Fakt ist
außerdem: die, teilweise verständliche, ambivalente Haltung in
Teilen der Gewerkschaften und des DGB gegenüber der
Bürgerarbeit wurde und wird benutzt Akzeptanz dafür zu erwirken,
nach den Ein-Euro-Jobs die Grauzone prekärer öffentlicher
Beschäftigung ausweiten zu können. Bürgerarbeit soll
perspektivisch alle arbeitsmarktpolitischen Instrumente
ersetzen. Hierbei wird eine gewisse Zustimmung der
Gewerkschaften gebraucht. Das ist Chance und Gefahr
gleichermaßen. Denn: trotz der Tatsache, dass bzgl. der
Ein-Euro-Jobs ein Skandal den anderen jagte, könnte sich der
Eiertanz unserer Gewerkschaften bei der Bürgerarbeit
wiederholen. Was nützen allgemeine Forderungen (Tariflohn,
Mindestlohn, Freiwilligkeit etc.), punktuelle Kritik (z.B. bei
Verletzung der Zusätzlichkeit) und praktische Hilfe (Mitsprache
von Betriebsräten bei Einrichtung der Stellen, Klagen auf
Festanstellung, Rechtsschutz bei „begründbarer Weigerung“
Stellen anzunehmen usw.) wenn das Große Ganze, also
arbeitsmarktpolitisch und unter dem Aspekt der
gewerkschaftlichen Interessenvertretung gesehen, trotzdem seinen
verheerenden Gang nimmt? Weil nicht jeder Skandal zum Skandal
wird, weil nicht jeder seine Interessen vertritt und seine
Rechte einklagt!?
4.
Gewerkschaftliche Kritik an der Umsetzung des Projektes
Bürgerarbeit zielt im Moment auf zwei Aspekte: die in Aussicht
gestellte, inzwischen zurückgenommene tarifliche Entlohnung bei
kommunalen, tarifgebundenen Beschäftigungsträgern (2) und die
bisher noch nicht organisierte Kontrolle der
Bürgerarbeitsplätze, also das was zwischen Jobcentern und
Maßnahmeträgern vereinbart ist und vom Bundesverwaltungsamt
geprüft wird (3).
5. Aus
unserer Sicht müssten die Vereinbarungen zwischen
Bildungsträgern und Jobcentern für die 6 monatige
Aktivierungsphase dringend offen gelegt, evaluiert und ggf.
kritisiert und auch gestoppt werden. Hier spielt sich nach
unseren Informationen - Erfahrungsberichte Betroffener - der
aktuelle Skandal ab. Eine Entwicklung, die absehbar war, weil
für die Kosten der Aktivierungsphase keine zusätzlichen Mittel
und kein zusätzliches qualifiziertes Personal zur Verfügung
steht. Was sich als verbessertes Profiling, Coaching und
Arbeitsvermittlung behauptet, entpuppt sich in der Praxis als
Massenabfertigung, Beschäftigungstherapie (reine Anwesenheit,
Bild-Zeitung Lesen, Kreuzworträtsel und Gruppenausflüge) und
Bewerbungstraining / Computerschulung schlechtester Art. Die
Betroffenen sollen von der Straße, aus der Statistik, an ihnen
exekutiert man „Schulpflicht/arbeit“ und bei Weigerung
Sanktionen. Zuweisungen in die Maßnahme sind mit unter nur noch
als absurd zu bezeichnen. Erwerbslose, die kurz vor der
Verrentung stehen, Kranke und Behinderte füllen die geforderten
Kontingente auf. Ob jemand innerhalb dieses Instrumentes
Weiterbildung, Qualifikation und Umschulung (alles ja nur noch
Kann-Leistungen) zugesprochen wird, ist schon deshalb
anzuzweifeln, weil über diese Möglichkeit mit den Betroffenen
nicht geredet wurde. (Erfahrungsbericht aus Halle). Es bleibt
die Befürchtung, dass hier im Osten innerhalb des Projektes
Bürgerarbeit außer den Bürgerarbeitern so gut wie niemand in
„reguläre Beschäftigung“ vermittelt werden wird. Dass sich
psychisch instabile Erwerbslose – statt Förderung zu erhalten –
aufgrund von Druck, schlechter Beratung aus dem Leistungsbezug
drängen lassen und gänzlich straucheln, bleibt ebenso zu
befürchten. „Rückführung in den Sozialgeldbezug oder erzwungene
Frühverrentung wegen Erwerbsunfähigkeit“ kommen hinzu. Diese Low
budget -Aktivierung lässt sich nicht schönreden!
6. Anders
als in den zurückliegenden Modellversuchen zur Bürgerarbeit ist
absehbar, dass die wissenschaftliche Evaluation dieses
Großversuches sich auf allgemeine Statistiken beschränken wird
und dass in die Evaluation einbezogene Erfahrungsberichte der
Teilnehmer sich auf die eigentliche Bürgerarbeit beschränken
werden. Eine differenzierte Bewertung der Aktivierungsphase
bleibt fraglich. Es ist uns als kleinem Erwerbslosenausschuss
nicht möglich eine Befragung der Teilnehmer an der
Aktivierungsphase in der Fläche vorzunehmen. Wir tun dies in
unseren Möglichkeiten vor Ort. Die Gewerkschaftsgremien, die für
die Zukunft folgenschwere Entscheidungen mitzuverantworten
haben, sollten unbedingt eigene Erhebungen vornehmen, bevor in
irgendetwas eingewilligt wird. Die Bürgerarbeit ist wieder mit
„der heißen Nadel“ gestrickt, wie die Hartz IV Gesetzgebung
zuvor. Wie ist es sonst zu erklären, dass Tariffragen und die
Kontrolle der Bürgerarbeitsstellen und anderes bis dato
ungeklärt sind? Gewerkschaften haben nicht die handwerklichen
Fehler und Pannen der Regierungskoalition auszubaden. Und die
breite, gegenwärtige Verunsicherung der Betroffenen und der
kommunalen Arbeitgeber muss nicht zwingend schnell beseitigt
werden, sondern könnte auch für eine Bestandsaufnahme und Kritik
der bisherigen Praxis genutzt werden. Ein bundesweiter
Aufschrei: Verdi blockiert die Beantragung und Einrichtung von
Bürgerarbeitsplätzen, die dringend geschaffen und besetzt werden
müssen, ein solcher Aufschrei sollte uns nicht erschüttern. Im
Gegenteil: die Verteidigung der Tarifbindung kommunaler Arbeit
muss Vorrang haben! Ein weiterer auf Dauer etablierter
Niedriglohnsektor gefährdet alle bisher erreichten Standards.
7.
Bundesweit wird die Reduzierung der Ein-Euro-Jobs zumindest von
vielen Trägern kritisiert. Diverse Projekte und selbst Träger
stehen vor dem Aus bzw. der Insolvenz. Warum? Eine ganze
Armutsindustrie ist inzwischen entstanden und ein eigener
Beschäftigungssektor in der Wohlfahrt: Kleiderkammern,
Möbelbörsen, Armenkaufhäuser, Suppenküchen und Tafeln. Die
Träger fordern Ersatz für die wegfallenden Ein-Euro-Jobs. Jetzt
muss die Bürgerarbeit her. Weil die Anzahl der anvisierten
Stellen den Bedarf nicht deckt, ist absehbar, dass in nicht
allzu ferner Zukunft allgemeine kommunale Arbeitspflicht
diskutiert und gefordert wird, man wird sie nur so nicht nennen.
Es wird heißen: „Bürgerarbeit: für jeden eine Chance!“
Wollen die
Gewerkschaften widerspruchslos eine solche Entwicklung
befördern?
Vielerorts geschieht dies leider schon!
Wie ein
auch von Gewerkschaften akzeptierbarer „Öffentlicher
Beschäftigungssektor“ aussehen könnte, mit welchen Maßgaben und
Kriterien er aufzubauen wäre, welche Probleme damit verbunden
sind, ist eine andere Frage.
Die
Schikanierung Erwerbsloser in qualitativ völlig unzureichender
Aktivierung, ihre Abschiebung in Bürgerarbeit (Hartz IV-Arbeit:
nennen wir es so!) zu Löhnen in der Höhe der Transferleistung,
die weitere „Vertafelung“ der Gesellschaft, ein weiterer
Niedriglohnsektor in kommunalen Aufgabenfeldern kann und darf
nicht der Weg sein, den Gewerkschaften mitgehen.
8. Der CDU
Bundestagsabgeordnete Peter Weiß hat schon Anfang Februar (4)
geäußert, dass die von ihm initiierten Gespräche mit dem
Ver.di-Bundesvorstand bald zu einer Lösung des Streits führen
werden. Es geht ihm darum „eine einvernehmliche Lösung zu
erreichen, wie man den Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst
mit den Notwendigkeiten des Projekts in Übereinkunft bringen
könne. Die Verunsicherung bei den betroffenen Menschen, aber
auch seitens der kommunalen Arbeitgeber müsse beendet werden“.
Wir fragen: welche Notwendigkeiten? Es kann nur eine sein: Die
Kommunen müssen und wollen Arbeiten erledigen, ohne hierfür
bezahlen zu müssen. Johannes Jakob (DGB Bundesvorstand Bereich
Arbeitsmarktpolitik) schrieb: „Es ist zu befürchten, dass in
vielen Projekten der Zuschuss von 900 Euro durchgereicht wird
und keine weitere Aufstockung der Löhne erfolgt (5).“ Also worin
könnte eine „einvernehmliche“ Lösung bestehen? Darin, dass
einige wenige Kommunen, die es sich leisten können oder wollen
(Berlin z.B.) Bürgerarbeit Richtung Tarifentlohnung aufstocken,
aber 99% dies nicht tun werden und ver.di und DGB auf die
Klagemöglichkeit für eine Tarifentlohnung per se verzichten?
Oder wird den Bürgermeistern der klammen Gemeinden und Städte
die Gründung obskurer gemeinnütziger
Beschäftigungsgesellschaften angetragen, die dann „ausgesourct“
machen können, was sie wollen? Äußerst kritisch hat sich im
Januar Brigitte Baki, arbeitsmarktpolitische Sprecherin des DGB
Bezirks Hessen-Thüringen in einer Veranstaltung zur Bürgerarbeit
in Marburg geäußert: „Es gibt keinen politischen Willen, die
„Bürgerarbeit“ zu einem menschenwürdigen Projekt umzubauen, es
hilft den Menschen nicht aus ihrer Notlage, sondern
verschlimmert sie noch. Wir müssen überlegen, dass sie zu einem
Rohrkrepierer wird“(5). Wir können ihr nur zustimmen.
9.
Demokratische Willensbildung und Entscheidungsfindung muss in
den Gewerkschaften im Kontakt mit der Basis geschehen. Wir
fordern den ver.di Bundesvorstand und den DGB Bundesvorstand
auf, die Gespräche mit dem MAS zur Bürgerarbeit öffentlich zu
machen. Was wird seitens der Bundesregierung eingefordert? Was
wird als Lösung vorgeschlagen? Wir wollen mitdiskutieren und
unsere Erfahrungen von vor Ort einbringen! Nichts über unsere
Köpfe hinweg!.
Halle / Saale, den 2. März 2011
Ver.di Bezirkserwerbslosenausschuss Sachen-Anhalt Süd
V.i.S.d.P. Doris Finke, stellv. Geschäftsführerin,
Ver.di Sachsen-Anhalt Süd,
Augustastr. 5, 06108 Halle, Tel.: 0345-2149831, E-Mail:
doris.finke@verdi.de
(1) zu
finden auf der zentralen Verdi-homepage mittels Suchfunktion: „Erwerbslose-zum-Thema-Bürgerarbeit.pdf“
sachsen-anhalt-sued.verdi.de
(2) zu
finden u.a. bei ver.di Mittelhessen / Sozialberatung /
Themen-Allgemein / Bürgerarbeit. Dort unter der Überschrift:
Bei manchen fällt der Groschen pfennigweise –Einschätzung des
DGB Bundesvorstandes zur Bürgerarbeit, Autor: Johannes
Jakob 4.11.2010
(3) Bericht
der Thüringer Allgemeinen vom 14.2.2011, Thomas Voß,
Ver.di-Vorsitzender für Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt
fordert, dass der Zoll mit seinen hoheitlichen Befugnissen die
Bürgerarbeit kontrollieren soll.
Johannes
Jakob hatte im BBE Newsletter 15/2010 im Kommentar zur
Bürgerarbeit geschrieben: „Bürgerarbeit bedarf der
Überwachung durch die Sozialpartner. Ähnlich wie bei ABM sollte
ein Ausschuss der Sozialpartner über die Einsatzfelder in der
Bürgerarbeit entscheiden. Die in den Argen z. T. eingerichteten
Beiräte sind dafür nicht geeignet, weil deren Mitglieder nicht
neutral sind und zum Teil direkt oder indirekt von der Arbeit
profitieren“.
(4) Bericht
Badische Zeitung vom 1.2.2011
(5) BBE
Newsletter 15/2010 „Kommentar zur Bürgerarbeit“
(6)
„BÜRGERARBEIT“ im Landkreis Marburg-Biedenkopf – eine erste
Bilanz oder wird die „Bürgerarbeit“ ein Rohrkrepierer
Bericht von Bernd Hannemann vom 22.1.2011 in scharf links –
online Zeitung. Bernd Hannemann ist Mitglied im Landesvorstand
ver.di Hessen und Mitglied im Erwerbslosenrat ver.di
Mittelhessen
Editorische Anmerkungen
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