Zusammenfassung des Treffens von Alicante

von Teilnehmern des “Colectivo de Trabajadores“ (Valencia)

03/11

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Am 11./12. Februar fand in Alicante ein Treffen statt. Einige Schlussfolgerungen aus diesem Treffen werden in kürze veröffentlicht. In der Zwischenzeit wollen wir eine Zusammenfassung der Diskussionen veröffentlichen.

Wer waren die Organisatoren?

Das Red de Encuentro y Solidaridad (Netz Zusammenkommen und Solidarität) und Ateneo Libertario L'Escletxa (Libertäre Athenäum L’Escletxa) , beide in Alicante ansässig. Wir bedanken uns für die sehr brüderliche Aufnahme und die ausgezeichnete Unterkunft, wodurch wir uns sehr wohlgefühlt haben, und die ständige Aufmerksamkeit der GenossInnen. All das drückt die proletarische Haltung der Gastfreundschaft und Kameradschaft aus.

Wer waren die Teilnehmer?

Abgesehen von den organisierenden Kollektiven waren Delegierte anwesend aus der Asamblea de Barcelona, (Versammlung aus Barcelona), Círculo Obrero de Debate de Barcelona (Proletarischer Diskussionszirkel aus Barcelona), Colectivo de Trabajadores de Valencia (Arbeiterkollektiv aus Valencia), Asamblea de Trabajadores y Trabajadoras por la huelga general (ArbeiterInnerversammlung für den Generalstreik) aus Alicante, Asamblea Interprofesional de Toulouse (Berufsübergreifende Versammlung Toulouse), Frankreich. GenossInnen aus Ruptura y Asamblea de Trabajadores del Sur de Madrid (Bruch und Arbeiterversammlung aus dem Süden Madrids- beide aus Madrid) sowie Asamblea Autónoma (Autonome Versammlung) Granada konnten nicht teilnehmen, aber sie haben ihr Interesse bekundet, in Kontakt zu bleiben. Im eigenen Namen haben auch GenossInnen aus Burgos, Murcia und Alicante teilgenommen.

Welche Aktivitäten fanden statt?

Am Freitag wurde die Erfahrung der Asamblea Barcelona vorgestellt und debattiert. Samstagmorgen wurden die Kämpfe letzten November in Frankreich sowie die Erfahrung der Versammlung von Toulouse behandelt und debattiert. Samstagnachmittag fand eine Generaldebatte statt, die wir hier zusammenfassen.

Am Samstagabend gab es einen Geselligkeitsabend mit einem Essen in einem Restaurant. Samstagmittag stand Paella auf dem Menü in einem Restaurant, das durch die Immobilienspekulation heruntergekommen ist und seitdem in einen Garten verwandelt wurde, wo wir uns dank der GenossInnen von Ateneo Libertario L’Escletxa versammeln konnten. Eine ältere Nachbarin, die Unterstützung und menschliche Wärme durch diese GenossInnen erhält, nahm am Essen teil.

Debatten und aufgeworfene Fragen

Auf dem Treffen gab es zahlreiche Wortmeldung in einer allgemeinen Atmosphäre des gegenseitigen Zuhörens und Respekts. Zu keinem Zeitpunkt boten die unterschiedlichen Meinungen Anlass zu Spannungen, stattdessen wurde mit diesen im Verlauf der Debatte verantwortlich umgegangen, da die Debatte von dem Anliegen geprägt war, das uns Einende über das uns Trennende zu stellen. Wir wollen auf die aufgeworfenen Fragen in chronologischer Reihenfolge eingehen.

Gewerkschaften

Ein Genosse meinte, die Gewerkschaften verteidigen die ArbeiterInnen nicht, sie seien sogar gegen diese. Es wurde nachgefragt, ob dies auf alle Gewerkschaften zuträfe oder nur auf die CCOO-UGT? Obgleich es Zweifel gab, war die Haltung der Mehrheit, dass dies auf alle Gewerkschaften zuträfe und der Grund hierfür in dem eigentlichen Wesen der Gewerkschaften liegt. Aber es ist wichtig hervorzuheben, dass man nicht gegen die einfachen Gewerkschaftsmitglieder war, mit denen man im Gegenteil zusammenarbeiten möchte.

Die Versammlungen

Gegenüber den Gewerkschaften stellen die Versammlungen eine Alternative dar. Sie sind vor einem Jahrhundert aufgetaucht. Gegenüber einer Idee, der zufolge „vor uns die Wüste bestand, jetzt fängt die Oase an“, meinten andere GenossInnen, dass es eine Kontinuität der Kämpfe und des Bewusstseins zwischen den verschiedenen Arbeitergenerationen gibt. Wir fangen nicht bei Null an, wir setzen die Erfahrung der Versammlungen und Kämpfe, die in den letzten 100 Jahren in Spanien wie woanders auf der Welt ausgetragen wurden, fort und eignen uns diese an. Aber die Versammlungen sind kein unfehlbares Rezept sondern eine lebendige Erfahrung. Die ArbeiterInnen können sich irren, Fehler machen, betrogen werden, aber sie können ebenso lernen, korrigieren, einen anderen Kurs einschlagen.

Die Versammlungen erfüllen verschiedene Funktionen: Sie sind Entscheidungszentrum, Ort der Debatte, Treffpunkt und Weg zur Vereinigung, Mittel der Geselligkeit und der Überwindung des Individualismus und der Atomisierung, Zentrum der Selbsterziehung, ein Mittel, damit jeder seine Verantwortung für gemeinsame Anliegen übernehmen und die Verbindung zwischen den Interessen der individuellen und kollektiven Interessen als Klasse erkennen kann.
Wann entstehen Versammlungen?

Die Versammlungen entstehen nicht durch den Beschluss einer Minderheit, sondern sie werden kollektiv geschaffen durch ArbeiterInnen, welche den Kampf vorbereiten und ihn weitertragen. Dies bedeutet nicht, dass Kollektive wie wir keine besondere Rolle zu übernehmen hätten, aber deren Aufgabe besteht nicht darin, anstelle der Mehrheit zu handeln, sondern Propaganda zu betreiben, Erfahrungen bekannt zu machen und sie auszutauschen, Orientierungen vorzuschlagen, sich am Kampf zu beteiligen, indem man alle Möglichkeiten unterstützt und die Bedingungen für das Bewusstsein, die Solidarität, die durch die Kämpfe und die Versammlungen hervorgebracht werden, vorbereitet.

Ein Genosse meinte, dass die Versammlungen aus einem Prozess des Bruchs mit der Normalität hervorgehen. Die Alltagsnormalität bedeutet, dass wir uns als passive, abwartende, von den Unternehmern, Gewerkschaften oder Politikern abhängige Menschen verhalten, in Konkurrenz zueinander stehen, den anderen nicht trauen, und stattdessen zurückgezogen leben, mit einem ausschließlichen Blick auf unsere „eigenen Angelegenheiten“. Der Bruch mit der Normalität ermuntert uns, aktiver, offener zu werden für Debatten und gemeinsames Handeln, die Suche nach Einheit voranzutreiben, Kameradschaft, das gemeinsame Nachdenken, Verantwortung zu übernehmen. Die Versammlungen sind mit dem Kampf, seiner Vorbereitung und dessen Entfaltung verbunden.

In Alicante, in AFEMA, verstand sich die Versammlung als eine offene Versammlung, welche Solidarität mit anderen Beschäftigten und die Ausdehnung des Kampfes anstrebt. In Frankreich verstehen sich die Versammlungen als ein branchenübergreifender Zusammenschluss, d.h. eine Zusammenfassung von Beschäftigten aus verschiedenen Branchen, Arbeitslosen, RentnerInnen, StudentenInnen usw., und deren Ziel besteht in der Schaffung einer gemeinsamen Grundlage, damit der Kampf wirkungsvoll gegen die gewerkschaftliche Sabotage geführt werden kann.

In Spanien entstehen gegenwärtig Initiativen, die auf die Überwindung der Passivität und der von den Gewerkschaften organisierten demobilisierenden Demonstrationen und Kundgebungen hinarbeiten. Bei diesen sollen wir nur ein kleines Häuflein Teilnehmer sein, lediglich vorgegebene Parolen rufen, passiv Pfeifkonzerte abhalten und wegen zu lauter Musik schweigen usw. Dadurch kommt kein Bruch mit der kapitalistischen Normalität zustande, sondern diese wird nur aufrechterhalten. Es kommt zu keiner Debatte, keiner Initiative der Teilnehmer und keiner Kontaktaufnahme untereinander.

Wenn man zusammenkommt und protestiert, müssen wir uns dafür einsetzen, dass diese Gelegenheiten dazu ausgenützt werden, richtige Versammlungen abzuhalten, wo Maßnahmen und Initiativen zum Kampf beschlossen, Kontakte hergestellt, über Kriterien diskutiert und Erfahrungen ausgetauscht werden. Wie die GenossInnen erklärten, organisierten sich in Frankreich Demonstrierende, um am Ende jeder Demonstration Versammlungen auf der Straße abzuhalten, an denen sich bis zu 400 Personen beteiligten.

Halten wir uns die Erfahrung Ägyptens vor Augen. Auf dem Tahir-Platz versammelten sich die Leute jeden Tag, um sich Gehör zu verschaffen, verschiedene Forderungen vorzutragen, gemeinsam vorzugehen, alle Fragen gemeinsam zu diskutieren, Konzerte zu feiern und zu singen… Man muss sich dafür einsetzen, dass die öffentlichen Plätze in den Stadtvierteln zu einem Ort des Treffens, des Austausches und des Zusammenschlusses umgewandelt werden, wo Beschäftigte, Arbeitslose, StudentenInnen, Nachbarn, RentnerInnen ihre Forderungen vortragen und diese mit anderen Forderungen zu einem Ganzen zusammenbündeln. Wenn die Kraft dazu vorhanden ist, sollten diese Versammlungen zu ständigen Versammlungen werden, die sich nicht auflösen bevor die Forderungen durchgesetzt sind.
Die Notwendigkeit einer Alternative

Ein Genosse warf das folgende Problem auf: Es ist sehr gut, wenn man Forderungen aufstellt, es ist sehr gut, wenn man für unmittelbare Ziele kämpft. Aber wie steht es um das Endziel? Welche gesellschaftlichen Wünsche haben wir? Welche gesellschaftliche Alternative bieten wir? Entsteht nicht die Gefahr, wenn man den Blick und die Aktivitäten auf den rein lokalen und unmittelbaren Rahmen beschränkt, der Ermüdung, Erschöpfung und Demobilisierung?

Dies stieß eine große Diskussion an. In den Wortmeldungen gab es Übereinstimmung, dass der Genosse den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. Gleichzeitig wurde deutlich, dass man auf späteren Treffen über das Thema diskutieren muss: Welche Gesellschaft wünschen wir, wie können wir diese aufbauen?

Einige Ideen wurden angesprochen: Gibt es eine Alternative zum Kapitalismus? Die Gesellschaften, die sich „kommunistisch“ nannten, wie Russland, China, Kuba haben nichts mit Kommunismus zu tun, sondern waren rein staatskapitalistische Gebilde. Ein anderer Redebeitrag warf die Frage auf: Warum ist die russische Revolution von 1917 gescheitert und warum ist dann der bürokratische Kapitalismus entstanden? Ein weiterer Redebeitrag hob hervor: Zeigt Russland die Unmöglichkeit des Kommunismus oder welche Lehren muss man aus dieser Erfahrung ziehen, um nicht die gleichen Fehler zu begehen?

All diese Fragen wurden nicht beantwortet, da dies über die Ziele des Treffens hinausging, aber eine zweite Reihe von Fragen tauchte ebenso auf: Gibt es eine Einheit zwischen den gegenwärtigen unmittelbaren Kämpfen und dem Endkampf und der Gesellschaft, auf die wir hinarbeiten wollen? Die Frage weitergeführt: Wenn man in den gegenwärtigen Kämpfen Kreativität und Initiative spürt, entwickeln wir damit nicht sozusagen embryonenhaft die Grundlage für eine zukünftige Gesellschaft, deren Stützpfeiler die aktive und massive Beteiligung der Mehrheit sein wird? Wenn in den gegenwärtigen Kämpfen die Solidarität siegt und sich ausdehnt, errichten wir damit auch den anderen Stützpfeiler der zukünftigen Gesellschaft, die sich auf die Gemeinschaft aller stützen wird?
Der Bruch mit den gesellschaftlichen Verhältnissen

Es wurde darauf hingewiesen, dass sich in der gegenwärtigen Gesellschaft eine große Empörung und tiefgreifende Wut aufstauen. Es wurde gesagt, dass Tunesien und Ägypten eine Explosion der Empörung und gesellschaftlichen Wut über die riesige Armut und vor allem über die Ausweglosigkeit des Kapitalismus und die fehlende Zukunft darstellen.

Eine Genossin meinte, die Reichen werden immer reicher, die Politiker und Banker immer arroganter bei der Zurschaustellung ihres Reichtums, während gleichzeitig Verzweiflung, die Arbeitslosigkeit, die Marginalisierung zunehmen… Aber warum reagieren die Leute nicht? Warum kommt es zu keiner Explosion der Empörung?

Ein Genosse antworte: In der sich demokratisch gebärenden Gesellschaft gibt es eine Art unsichtbarer gesellschaftlicher Vertrag, demzufolge diejenigen, die unten stehen, die sich ständig Bereichernden, die oben Stehenden tolerieren, solange sie ein Minimum zum Überleben und Konsumieren haben und ihnen eine gewisse Zukunft geboten wird. Aber wenn all dies immer mehr bedroht wird, wenn aber nur noch Aussicht auf Arbeitslosigkeit, Armut und Prekariat bestehen, dann wird dieser „gesellschaftliche Vertrag“ gebrochen. Dann fangen die Unten an zu begreifen, dass ihre Armut die Folge des Reichtums der Minderheit ist, und diese auf Kosten des Leidens der Mehrheit lebt. Dem fügte ein anderer Genosse hinzu: Der „Wohlfahrtstaat“ ist längst begraben und durch einen „Armutsstaat“ ersetzt worden.

Die Entwicklung des Vertrauens

Aber die Genossin bohrte weiter und fragte: Warum passiert in Spanien nicht das Gleiche wie in Frankreich oder in Ägypten?

In Frankreich waren die Kampfbereitschaft und der Frust über die Lage sehr groß. Die Gewerkschaften versuchten diese mittels Versammlungen mit massiver Beteiligung zu kanalisieren und kontrollieren, aber sie taten dies nicht aus freiem Willen, sondern aufgrund des Drucks in der Klasse. In dieser Dynamik entstanden und entfalteten sich branchenübergreifende Vollversammlungen.

In Spanien hat die CCOO-UGT pantomimische „Streiks“ organisiert, jetzt wurde auch ein Sozialpakt aufgezwungen. Sie wollen jede Möglichkeit verhindern, dass Initiativen der ArbeiterInnen aufblühen können. Diese können sich nämlich nur entfalten aufgrund der Mobilisierung von Unten, des Beitrags von kollektiven Anstrengungen wie unseren Versammlungen, der Explosion von spontanen Kämpfen. Der Weg ist sehr schwierig und lang.

Es fehlt im Augenblick noch etwas, das ein Genosse folgendermaßen umschrieb: die Leute haben heute kein Vertrauen mehr in Politiker, aber sie haben noch weniger Vertrauen in sich selbst.

Die Entwicklung des Vertrauens ist ungeheuer wichtig. Dies ist die tiefergehende Bedeutung unseres Treffens: zur Entwicklung des Selbstvertrauens der ArbeiterInnen beitragen. Es ist sehr einfach, alles „Vorgegebene“ zu schlucken; das ist ja das, was die Gewerkschaft betreiben: eine von ihnen für uns vorbereitete Mobilisierung, von ihnen für uns vorbereitete Proteste usw., aber all das untergräbt eigentlich nur das Selbstvertrauen der ArbeiterInnen, lässt sie noch passiver werden und auf ihre eigene Verantwortung verzichten.

Blockade von Raffinerien

Zum Schluss kamen wir auf ein Thema zu sprechen, das aber nicht weiter ausführlich behandelt werden konnte und deshalb wieder aufgegriffen werden sollte. Ein Genosse meinte, die Blockade von Raffinerien, Flughäfen, Transportmitteln usw. hätten eine Schlüsselrolle bei den Kämpfen in Frankreich gespielt. Sie lähmten den Kapitalismus, weil sie die Mobilität einschränkten, den Warenverkehr lähmten usw. Das Herzen des Systems – die Reproduktion – würde so getroffen.

Ein anderer Genosse stimmte damit nicht überein. Er meinte, die Regierung verfüge über ausreichend Treibstoffreserven, stattdessen hätten die Regierung und die Gewerkschaft für eine Art Hysterie gesorgt mit dem Ziel, die Bewegung unpopulär werden zu lassen, damit sie als gegen die Mehrheit der Bevölkerung und auch gegen viele Beschäftigte gerichtet erscheint.

Er hob hervor, was dem Kapital und dem Staat wirklich zusetzt, sei die massive Ausdehnung und Vereinigung der Bewegung, dies würde zu deren politischer und gesellschaftlicher Isolierung beitragen. Es habe aber auch Fälle gegeben, in denen die Blockade einer Fabrik oder einer Universität ein Mittel des Zusammenschweißens mit anderen Kämpfenden war, dann habe dies als eine Waffe gewirkt.

Editorische Hinweise

Der Bericht stützt sich auf die Notizen, die von den Teilnehmern des “Colectivo de Trabajadores“ aus Valencia gemacht wurden. Es mag Fehler geben, deshalb bitten wir die anderen TeilnehmerInnen auf Ungenauigkeiten usw. hinzuweisen.

Wir spiegelten den Bericht auf Vorschlag der IKS von ihrer Website.