Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Frankreich wählt am 14. und 21. März seine Regionalparlamente (Teil 2)
Frankreich debattiert unter Regierungs-Aufsicht über seine „nationale Identität“

03/10

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Man sollte die Rechte und ihre Ideologen nicht vorschnell „politisch tot und begraben“ glauben; auch wenn der konservativ-liberale Regierungsblock die Regionalparlamentswahlen an den kommenden beiden Sonntag sichtbar verlieren dürfte. Dies macht ihre „Errungenschaften“ aus den letzten drei Jahren unter Nicolas Sarkozy, sowohl auf der Ebene der materiell vollzogenen wirtschaftsliberalen „Reformen“ (seit 2002; besonders jedoch unter der Präsidentschaft Sarkozys seit 2007 ging die Bourgeoisie in dieser Hinsicht vom zähen Stellungs- zum Angriffskrieg über) als auch auf ideologischer Ebene, nicht zunichte. Eric Besson, französischer Minister für „Einwanderung und nationale Identität“ – das Amt gibt es seit Mai 2007 und dem Amtsantritt von Präsident Nicolas Sarkozy -, macht es vor.

In den Wochen vor den französischen Regionalparlamentswahlen vom 14. und 21. März gaben die Beobachter, Kommentatorinnen und Umfrageinstitute die bürgerliche Rechte in der Mehrzahl der Regionen besiegt. Im Laufe des Februar 2010 machte die konservativ-wirtschaftsliberale Regierungspartei UMP einen zeitweise eher geknickten, zeitweise auch zerstrittenen Eindruck. Bessons Ideologiekampagne unter dem Titel „große Debatte über die nationale Identität“, die in den letzten vier Monaten zeitweilig das wichtigste Thema der französischen Innenpolitik abgab, wurde aus den eigenen Reihen plötzlich argwöhnisch betrachtet. Zu Anfang des Monats Februar gab es zunächst Gerüchte, dass es „auf unbestimmte Zeit verschoben“ worden sei: das Regierungsseminar, an dem alle französischen Minister teilnehmen sollten, zum Thema „nationale Identität“. Es war seit längerem angekündigt worden und sollte die vorläufige Krönung dieser landesweiten „Debatte über die Nationalidentität“ bilden.

Dann aber fand es doch noch statt, am 8. Februar 10, obwohl acht Minister – circa ein Viertel des französischen Kabinetts – den Termin unter diversen Vorwänden schwänzten (und Agrarminister Bruno Le Maire die Ideologiekampagne als die Gesellschaft „spaltend“, also polarisierend, auf dem Seminar kritisierte). Und auch wenn die liberale und linksbürgerliche Presse es im Nachhinein in einem Tonfall kommentierte, der zur Quintessenz hatte: „Endlich ist es vorbei“, so ist die Ideologiekampagne jedenfalls aus Sicht des Ministers Besson und der Staatspitze noch nicht zu Ende. Zwar wurde die „Debatte“ nach dem Regierungsseminar vom 08. Februar vorübergehend ausgesetzt, um die Regionalparlamentswahlen vorbeiziehen zu lassen und so den verbreiteten Vorwurf zu entkräften, es handele sich nur um ein Wahlkampfmanöver zu deren Vorbereitung. Doch in einem ausführlichen Interview Eric Bessons, das am Wochenende des 06./07. März 10 in der liberalen Pariser Abendzeitung Le Monde erschien, kündigt er eine Wiederaufnahme der Kampagne für die Zeit dicht nach den Regionalparlamentswahlen – erwartete Wahlniederlage des Pariser Regierungslagers hin oder her – an. So soll am 08. April ein großes Kolloquium über das Thema „National Identitäten, europäische Identität“ stattfinden, für das Besson „europäische Minister und Intellektuelle“ als Teilnehmer und Redner angekündigt hat. Und in dessen Mittelpunkt er stehen möchte. „Noch vor dem Sommer 2010“ solle ein zweites Regierungsseminar stattfinden, um einige konkrete Maßnahmen zu beschließen. Denn daran hapert es bislang bei dieser, reichlich abstrakt-ideologisch geführten, „Debatte“ noch offenkundig. Neben rein symbolischen Beschlüssen wie dem am 8. Februar gefällten, vor jeder französischen Schule eine Trikolorefahne aufzuhängen – die hängen dort in 97 oder 99 Prozent der Fälle jedoch längst -, kam bislang wenig Präzises dabei heraus.

What the fuck is < L’identité nationale ? >

Aber tätigen wir zunächst einen Rückblick auf die Anfänge der nunmehr bereits mehrmonatigen Kampagne. Minister Besson hatte die ideologiegetränkte „Debatte“ Ende Oktober 2009 ausgerufen und daraufhin frankreichweit 350 Veranstaltungen unter Aufsicht von juristischen Vertretern des Zentralstaats (Präfekten oder Unterpräfekten) organisieren lassen. Die letzten haben noch Anfang Februar stattgefunden. Am 8. Dezember hatte zusätzlich auch die französische Nationalversammlung eine Aussprache ihrer Abgeordneten zum Thema organisiert. In der Öffentlichkeit waren diese Veranstaltungen, deren Charakter in der Regel zwischen dem Vortragen staatsbürgerlicher Besinnungsaufsätze einerseits und einem Forum für rassistische Hetze gegen Zuwanderer oder Einwanderergruppen – ja nach Ort und Zeitpunkt meist Nordafrikaner, Roma, Muslime oder Sozialhilfeempfänger ausländischer Herkunft – andererseits variierte, höchst umstritten. Ein kritischer Beobachter hatte zum Jahresende im Pressedienst einer Menschenrechtsorganisation (GISTI) formuliert, diese Saaldiskussionen zögen vor allem „(staatstreue) Schafe, Verrückte und Faschisten“ an.

Einige nicht vorhergesehene Unterbrechungen sorgten wenigstens für Amüsement: In Paris störte etwa die linke Schwulen- und Lesbenorganisation Les Panthères Roses Mitte Januar 10 eine Saalveranstaltung und unterstrich ihre Auffassung, diese Debatte sei „zum Kotzen“ (da durch „Araberhetze“ und „Sündebocksuche“ geprägt), indem einer ihrer Aktivisten vor laufenden Kameras auf den Teppichboden reiherte. In Troyes hatte die Schauspielertruppe Action Discrète zuvor eine andere Diskussionsrunde durch besonders absurde Beiträge beinahe zum Platzen gebracht: „Pilzesammeln ist sehr französisch. Und für uns Franzosen gibt es keine Hindernisse auf der Welt, wir nehmen einfach eine Leiter...“ Infolge überlauten und betont schrägen Absingens der französischen Hymne wurden ihre Mitglieder dann jedoch durch die Polizei aus dem Saal geleitet. Auch das breite Publikum zeigte sich im Rückblick eher wenig angetan. Bei einer repräsentativen Umfrage erklärten nur 22 Prozent, die landesweite Debatte sei insgesamt „konstruktiv“ verlaufen, der Rest sah sie eher entweder in Hetze oder ins Konfuse abgleiten. Bei einer Leserumfrage der liberalen Pariser Abendzeitung Le Monde, an der rund 20.000 Personen teilnahmen, blieben unter dem Strich für 15 Prozent der teilnehmenden Befragten konstruktive Ansätze stehen, für 65 Prozent stand der Aspekt der Ausländerhetze im Vordergrund. Freilich antworten gleichzeitig 76 Prozent der an Repräsentativumfragen teilnehmenden Franzosen, es gebe so etwas wie eine nationale Identität – wobei jedoch der Anteil derer, die „eine durchmischte Gesellschaft mit Menschen unterschiedlicher Herkunft“ positiv finden, mit 77 Prozent noch höher ausfällt.

Dass die Bilanz in den Augen der breiten Öffentlichkeit im Augenblick relativ kläglich aussieht, hängt auch damit zusammen, dass eine rund 60prozentige Mehrheit die „Debatte zur Nationalidentität“ in den letzten Monaten vorrangig als Wahlkampfmanöver betrachtete. Tatsächlich fiel sie in beträchtlichen Teilen in den Vorwahlkampf für die Regionalparlamentswahlen vom März, die (in zwei Durchgängen) in ganz Frankreich am selben Tag stattfinden. Schon Anfang Januar, als Eric Besson auf einer Pressekonferenz eine „erste Etappenbilanz“ zu der Regierungskampagne vorstellte, antwortete er jedoch auf diesen oftmals erhobenen Einwand: Gut, dann endet die Debatte eben nicht wie ursprünglich vorgesehen im Februar und damit kurz vor den Regionalwahlen, sondern wird das ganze Jahr 2010 hindurch fortdauern. Nunmehr wurde anlässlich des Regierungsseminars von Anfang Februar gar in Aussicht gestellt, es werde noch die ganze Legislaturperiode – diese endet im Frühjahr 2012 – hindurch so weitergehen. Publikumsveranstaltungen in Säalen sollen allerdings vorläufig keine mehr stattfinden, vielmehr solle eine „Kommission mit Intellektuellen und Persönlichkeiten“ eingerichtet werden und zur Nationalidentität weiterarbeiten.

Angekündigt ist auch eine Ansprache von Präsident Nicolas Sarkozy zum Thema im April dieses Jahres. Sarkozy hat jedoch schon mindestens zwei gröere Reden über die nationale Identität gehalten, am 27. Oktober 2009 vor einer Bauernorganisation in Ostfrankreich und am 12. November auf dem Plateau du Vercors, einem Gedenkort für die französische Résistance. Bei den Landwirten hatte er betont, „die Erde, die Boden“ sei ein zentraler Bestandteil der Nationalidentität, zu dessen Verteidigung „ich gewählt worden bin“ – was ihm unter anderem seitens der französischen KP den Vorwurf eintrug, „pétainistische Anklänge“ anzuschlagen, unter Anspielung auf einen der zentralen Slogans des Vichy-Regimes der da lautete: „Der Boden lügt nicht“. Eine identische Wendung hatte Sarkozy jedoch schon in einer Rede vor anderen Bauernvertretern Mitte Februar 2009. Dies deutet zumindest darauf hin, dass dieser Aspekt seiner Ideologiepolitik nicht nur konjunktureller Natur ist, und also etwa nach den Regionalparlamentswahlen einfach wieder verschwinden würde. Auf dem Vercors-Hochplateau hatte Nicolas Sarkozy die gesamte Nationalgeschichte als eine positive Einheit dargestellt, wie einen Block aus einem Guss: Die Monarchie und die Französische Revolution, die Republik und die Résistance, sie alle hätten nacheinander ihren Beitrag zur Formung der Nationalidentität geleistet. Historische Brüche – etwa zwischen Monarchie und Revolution – tauchten dabei nicht auf, und negative Momente (Vichy, französische Faschismusnachahmungen, Kolonialkriege und blutig verlaufene Entkolonialisierung) wurden nirgendwo erwähnt.

Doch das Regierungsseminar vom 8. Februar dieses Jahres schwänzte Sarkozy, der in diesen Wochen sichtlich bemüht ist, nicht in den Strudel einer nicht unwahrscheinlichen Niederlage der bürgerlichen Rechten bei den Regionalwahlen hineingezogen zu werden. Wie manche Medien genüsslich unterstrichen, wurde der Präsident zur selben Zeit beim Einkaufen im Disney Store-Geschäft auf den Champs Elysées gesichtet. Walt Disney statt Blut und Boden? Die Anekdote deutet immerhin auch an, in welchem Ausma die Berufung auf schwülstige patriotisch-„identitäre“ Ideologien bei einem Nicolas Sarkozy, der bislang in der Wahrnehmung von breiten Kreisen als président bling-bling (ungefähr: „Schicki-Micki-Staatschef“) mit Hang zum Luxus-Geprasse eines Winnertypen, als wirtschaftsliberal und stärkster USA-Freund unter allen französischen Präsidenten gegolten hatte, auch aufgesetzt ist.

Und dennoch, ob aufgesetzt oder nicht: Diese Ideologiekampagne wird Spuren hinterlassen. Das politische Manöver ist durchsichtig, auch wenn es wohl zu kurz gegriffen ist, es auf eine Wahltaktik im Vorgriff auf die Regionalparlamentswahlen – die möglicherweise überwiegend durch die französische Sozialdemokratie gewonnen werden – zu reduzieren. Der Horizont ist in diesem Falle etwas längerfristig abgesteckt.

Beweggründe für die Kampagne

In den letzten Monaten war die Umgebung Nicolas Sarkozys eher als Selbstbedienungswirtschaft, eher auf eigenen materiellen Vorteil (und jenen der oberen Schichten der Bourgeoisie) denn auf Ideologie bedacht, aufgetreten. Aber wohl auch gerade deswegen benötigt die regierende Rechte Sarkozys einen ideologischen „Kitt“, als mobilisierende Bindemittel für ihre Anhängerschaft, ihre potenziellen und ihren verlorenen Anhänger. Denen zwar (unter dem Motto Travailler plus pour gagner plus) seit 2007 „Lohn für harte Arbeit“ – unter expliziter Ausgrenzung der Faulenzer – in Aussicht gestellt worden war, die aber in den letzten beiden Jahren statt des versprochenen „Mehr-Verdienens“ durch Überstundenlöhne eher Kurzarbeit erfahren hat. Ein Gutteil der rechten Wähler, gleich ob Sympathisanten der Wirtschaftsliberalen, der Konservativen oder auch der Rechtsextremen Le Pens, welch letztere 2007 massiv für Sarkozy gestimmt hatten, ist zugleich über dessen bling-bling-Prahlerei und über die Einzug haltende Vetternwirtschaft (etwa anlässlich der Episode um die geplante Ernennung des 22jährigen Präsidentensöhnchens ohne berufliche Qualifikation, Jean Sarkozy, für ein hohes Amt m Oktober 2009) erbost. Denn das versprochene „Ärmelhochkrempeln, um hart zu arbeiten“ hatte man sich dort anders vorgestellt. Auf diese Enttäuschungen, die aus der Kluft zwischen rechts-autoritärem Anspruch und wirtschaftsliberaler Praxis erwachsen, soll nun die ideologiegetränkte Kampagne zur Nationalidentität antworten: Statt durch den erfahrenen Realitätsschock zur Abkehr von der Rechten aller Couleur zu gelangen, sollen durch deren ideologische „Wiederaufrüstung“ erneut Aktivisten, Sympathisanten und Wähler mobilisiert werden.

Wohltaten für die extreme Rechte

Explizit wie noch nie wendet die regierende konservativ-wirtschaftsliberale Rechte sich dabei auch an die Kernwählerschaft der extremen Rechten unter Le Pen (Vater und Tochter, Jean-Marie und Marine). Dieser Gestus an die Adresse der rechtsextremen Wählerschaft spart auch eine demonstrative Hinwendung zu führenden Funktionären der Partei selbst nicht aus; denn ihren Sympathisanten soll wohl das Gefühl vermittelt werden, ihre Anliegen würden nunmehr wirklich vollkommen ernst genommen. Am 14. Januar d.J. debattierte der französische „Minister für Einwanderung, Integration und nationale Identität“ - so lautet sein offizieller Titel - Eric Besson mit der FN-Spitzenpolitikerin Marine Le Pen im französischen Fernsehen. Der ebenfalls, für den Schlussteil der Sendung, eingeladene Sozialdemokrat Vincent Peillon boykottierte die Teilnahme (entgegen vorheriger Ankündigung, was ihm vielfach zum Vorwurf erhoben wurde). Besson bemühte sich um höfliche Umgangsformen mit der rechtsextremen Politikerin, die mutmaßlich innerhalb eines Jahres die Parteiführung übernehmen wird. Doch in der Sache gerieten sie hart aneinander: Marine Le Pen warf Besson vor, nichts gegen eine weitere „Überschwemmung“ des Landes mit Einwanderern zu tun - während jener ihr entgegnete, sie nehme ihr Mandat als Abgeordneten im Europäischen Parlament nicht wahr und sei deswegen auch den Debatten um die Abschiebe-Richtlinie der Europäischen Union für „illegale Einwanderer“ fern geblieben. Sie tue also aktiv nichts, um ihre Ideen umzusetzen, „und Sie haben nur anzubieten, den Leuten Angst einzujagen“.

Anlässlich einer Debatte über die „Nationalidentität“ in Lyon am 22. Januar 10 erwies der Minister sich gegenüber Bruno Gollnisch - „Nummer drei“ in der Hierarchie des Front National, seit 2004 von seinem Universitätsposten als Juraprofessor wegen Relativierung und Infragestellung des Holocaust suspendiert und Abgeordneter im Lyoner Regionalparlament - jedoch stärker Konsens heischend. Auf eine Vorhaltung seitens des rechtsextremen Politikers, Frankreich sei nicht nur ein Bevölkerungs„konglomerat“, sondern zeichne sich durch ein Herkunfts-Stammvolk, ein Staatsgebiet und „gemeinsame Werte“ aus, entgegnete Eric Besson dem FN-Politiker: „Sie haben im Wesentlichen Recht“. Am 5. Januar hatte Besson noch in der Pariser Vorstadt La Courneuve verlautbart Frankreich sei ein Einwanderungsland, definiere sich nicht über ethnische Zugehörigkeit, sondern zunächst einmal allein über die Werte der Republik. Durch seine Antwort auf Bruno Gollnisch und ein Pressekommuniqué vom selben Tag revidierte Eric Besson nun öffentlich diese Äußerung, die ihm eine Kampagne der extremen Rechten eingetragen hatte. Letztere hatte ihm vorgeworfen, er leugne, dass es „ein französisches Volk“ in seinen Augen „gar nicht gebe“. Durch sein offenes Zugehen auf Bruno Gollnisch und durch seine Presseaussendung hat Besson der Kritik aus dieser Ecke nun das Wasser abzugraben versucht. Bei der Debatte in Lyon, zu der nur 200 explizit geladene Gäste eingelassen wurden, demonstrierten zugleich 400 Kritikerinnen und Kritiker der „Nationalidentität“ vor den Türen. Welch letzte durch rund dreißig Rechtsradikale mit Tränengasspray und Fahrradketten als Schlaginstrument attackiert wurden, bevor die Angreifer – unter den Augen einer passiv bleibenden Polizei – durch Antifaschisten abgedrängt werden konnten.

In ihrer Versuch, mittels der Ideologiekampagne zur ideologischen Aufrüstung der französischen Rechten zu kommen – und dabei einige ihrer historischen Wurzeln auszugraben - , gehen einige französische Regierungsmitglieder derzeit durchaus weit. adine Morano, Staatssekretärin für Familienpolitik im Sozialministerium, etwa sorgte am 14. Dezember 09 für einen Skandal, als sie an einer Debatte zur Nationalidentität vor 300 Personen in Charmes - einem Städtchen in den Vogesen - teilnahm. Ein örtlicher Abgeordneter der UMP hatte den Ort explizit ausgewählt, weil dort im 19. Jahrhundert der Schriftsteller Maurice Barrès geboren wurde. Barrès war ein früher Vordenker eines radikalen französischen Nationalismus vor dem Ersten Weltkrieg, der schon präfaschistische Züge trug. Er ist vor allem aus der Dreyfus-Debatte bekannt, in welcher er postulierte: „Die Schuld Dreyfus’ schließe ich aus seiner Rasse.“ Zwar übernimmt die jetzige Regierung (im Unterschied allerdings zu einem Teil der - ideologisch zerklüfteten und zwischen „pro-abendländischen“, d.h. zuvörderst anti-muslimischen, sowie vorrangig antisemitischen Strömungen aufgespalteten - extremen Rechten) mit Gewissheit nicht die offen antisemitischen Implikationen des Nationalismus Barrès’. Im Gegenteil ist die Ausrichtung jener nationalkonservativen Rechten, die Nicolas Sarkozy unterstützt, weitaus eher philosemitisch, was ihr von Teilen der momentan höchst zerstrittenen extremen Rechten auch zum Vorwurf erhoben wird. Dennoch, und über diesen Aspekt hinweggehend, soll anscheinend auch der (laut Eigendefinition des Schriftstellers) „integrale Nationalismus“ Barrès’ in die politisch-ideologische Ahnenreihe der konservativen Reihen mit eingemeindet werden. Vielleicht auch, um die extreme Rechte ideologisch zu „entwaffnen“, indem ihr das geistige Terrain streitig gemacht wird.

Morano, aufgrund ihrer Teilnahme an einer Debatte ausgerechnet in Charmes angesprochen, kommentierte daraufhin ausdrücklich: „Ich kann überall über die nationale Identität diskutieren. Auch in Vichy.“ Und zu Barrès meinte sie, man müsse ihn doch vor dem Hintergrund seiner Zeit „und in der Gesamtheit seines Werks“ betrachten. Denn schließlich habe auch „König Louis XIV. (Ludwig XIV.) das Edikt von Nantes widerrufen“ - also die historische Tolerierung der Protestanten rückgängig gemacht -, und doch gingen heute die Leute in seinen prächtigen Schlössern spazieren. Den aktuellen Skandal löste darüber hinaus aber auch Moranos Beitrag in der örtlichen Debatte aus. Vor dem Publikum in Charmes war ein junger Mann im Saal aufgestanden, der sich als „jungen Arbeitslosen“ aus einem benachbarten Dorf präsentierte - inzwischen ist bekannt, dass er ein Aktivist des rechtsextremen Front National ist. Er beschwor Charles Martell (Karl Martell), den fränkischen Krieger, der laut offizieller Geschichtsschreibung im Jahr 732 in Poitiers die Araber vertrieb und „die Ausbreitung des Islam in Europa stoppte“ - die historische Wirklichkeit ist weitaus komplexer -, um eine Parallele zur Aktualität zu ziehen. Morano erwiderte ihm, sie habe nichts gegen Ausländer, denn sie habe auch ausländische Freunde, weil sie nämliche Vorsitzende der parlamentarischen Freundschaftsgesellschaft für den Tschad - eine von Frankreich unterhaltene Militärdiktatur in Afrika - sei. Doch von „dem jungen Moslem“ in Frankreich, den sie grundsätzlich respektiere, fordere sie, er solle gefälligst „nicht seine Kappe verkehrt herum aufgesetzt tragen, keinen Vorstadt-Jugendslang sprechen und sich eine Arbeit suchen“. Dadurch schob sie Erscheinungen der Jugendkultur in sozialen Unterschichten, die alle Bevölkerungsgruppen betrifft, in eine ethnisch-religiös definierte Ecke ab und machte darüber hinaus noch Unterklassenjugendliche dafür selbst verantwortlich, dass sie keinen Job hätten. Ihre vor Ressentiment strotzenden Äußerungen sorgten kurz vor Weihnachten tagelang für eine heftige Polemik.

Was aber macht einen radikalen Nationalisten und „Anti-Dreyfusard“ wie Maurice Barrès in den Augen konservativer französischer Regierungspolitiker so interessant? Augenscheinlich ist es der Zusammenhang zwischen der Nation und dem Boden, der Erde, welchen er zeitlebens herstellte. Denn auch Premierminister François Fillon, dessen Pariser Rede zum Thema vom 4. Dezember von vielen Beobachtern zunächst als „mäßigendes Eingreifen in die Debatte“ mit moderaten Tönen gewertet wurde, hatte die französische Nation durch ihren Bezug auf Landschaften und den Boden definiert: In Zeiten des Identitätsverlusts durch Globalisierung und Modernisierung gäben diese ihrer Identität festen Halt. Wie die Onlinezeitung Mediapart.fr detailliert nachwies, hatte Fillon dabei einen früheren Ideologen der präfaschistischen rechten Bewegung Action française - Jacques Bainville - quasi wörtlich wiedergegeben, ohne dieses Zitat jedoch als solches auszuweisen. Unglaublicher Vorzug eines solches Nationsbegriffs aus Sicht eines konservativen Politikers, so schlussfolgerte Mediapart.fr: Er sei jeglichen gesellschaftlichen Wandlungen und sozialen Debatten entzogen, da an die Unvergänglichkeiten von Landschaftsformen gekoppelt.

Andocken an das Schweizer Anti-Minarett-Referendum

Auch Präsident Nicolas Sarkozy ist der Versuchung, bei Blut und Boden-Ideologen Zuflucht zu nehmen, schon des Öfteren erlegen. Im März 2007 hatte er in seinem damaligen Wahlkampf einmal auch auf Maurice Barrès positiv Bezug genommen. Und jüngst, während er den Impuls des Schweizer Referendums zum Minarettverbots und des dortigen Sieges der „populistischen“ Rechten aufgriff, hatte Sarkozy sich erneut auf einen Nationenbegriff, der Identität mit der Erde in Gestalt von Landschaften verknüpft, bezogen. Am 9. Dezember o9 publizierte die liberale Pariser Abendzeitung Le Monde einen Gastbeitrag Sarkozys, in welchem der Präsident zunächst indirekt aber deutlich dem Schweizer Abstimmungsergebnis Recht gab und sich „Kritik am Volk“ mit einer populistischen Geste verbat. Auch wenn er hinzufügte, solche Fragen wie die nach der Ausübung der Religion seien zu kompliziert, um sie in einer Volksabstimmung mit Ja-oder-Nein-Fragen entscheiden zu lassen, so erklärte er doch Verständnis für jene, die „nicht wollen, dass das Gesicht ihres Landes verunstaltet wird“ - gemeint war, durch den Bau von Minaretten, nicht etwa von hässlichen Hochhäusern - und dessen Identität verloren ginge.

In demselben Beitrag forderte Nicolas Sarkozy ferner auch „den Respekt derer, die aufgenommen werden, aber auch derer, die aufnehmen“. Durch die Formulierung über die „Aufnehmenden“ stellte er klar, wer das ältere Stammrecht im eigenen Land habe und also der Herr im Haus zu sein habe. Deswegen auch hätten die Gläubigen jüngeren Ansiedlungsdatums, also die Moslems, „Diskretion zu üben“. Kurz zuvor hatte der Parteisprecher der UMP, Dominique Paillé, dies bereits kurz und knapp auf den Punkt gebracht: Zwar gebe es im laizistischen Frankreich keine Staatsreligion, „aber manche Religionen waren schon vor dem Aufkommen der Republik da“ - und seien also in ihr historisches Erbe eingeflossen , während „andere hingegen erst später kamen“ und also die Spielregeln zu respektieren hätten.

In wesentlichen Teilaspekten ähnelt die französische Debatte jener über die „Leitkultur“ in Deutschland zu Anfang des Jahrzehnts. Unter dem Strich entscheidend werden auf Dauer, und selbst wenn die regierende Rechte bei den Regionalparlamentswahlen tatsächlich auf dem Bauch landen sollte, wohl eher die längerfristigen ideologischen Folgewirkungen dieser Kampagne ausfallen.

 

Editorische Anmerkungen

Wir  erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe.