Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Frankreich wählt am 14. und 21. März seine Regionalparlamente (Teil 1)
Umstrittene Justizreform

03/10

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Frankreich wählt an den kommenden beiden Sonntagen - 14. und 21. März - seine sämtlichen Regionalparlamente neu. Justiz und Rechtspolitik sind dabei eines der mit Abstand wichtigsten Themen, in Zusammenhang mit der jüngsten Offensive des konservativ-liberalen Regierungslagers zum Thema „Innere Sicherheit“. Doch innerhalb der Justiz und unter den Angehörigen juristischer Berufe gärt es zur selben Zeit. Am Dienstag dieser Woche kam es zu einer Premiere: Erstmals mobilisierten Richter, Anwältinnen, Erzieher und Gefängniswärter gemeinsam zu einer Protestdemonstration gegen die Regierung – die Erzieher deswegen, weil ein Teil der Erzieher und Sozialarbeiter in Frankreich durch die Protection judicaire de la jeunesse (PJJ) angestellt wird, eine Einrichtung zum Jugendschutz sowie für die Betreuung schwer erziehbarer Jugendlicher, die dem Justizministerium untersteht. 

Allein in Paris demonstrierten, je nach Angaben (von Veranstaltern oder der Polizei), zwischen 2.000 und 5.000 Personen, viele unter ihnen in Anwalts- oder Richterroben. Vor dem Justizministerium wurden sie durch starke Polizeikräfte aufgehalten. In weiteren Städten wie Bordeaux und Marseille fanden ebenfalls relativ große Protestversammlungen statt.

Zuvor hatte an einem Samstag im Februar, am Institut d’Etudes Politiques, einer auch unter ihrem Kurznamen Sciences Po bekannten Pariser Elitehochschule, eine ganztägige Tagung unter dem Titel „Unwohlsein in der Justiz“ (Malaise dans la justice) stattgefunden (vgl. http://www.labandepassante.org/index_lbp.php). Dafür war ursprünglich ein Hörsaal an der Hochschule mit 550 Plätzen vorgesehen; doch kaum 48 Stunden, nachdem die – zur Teilnahme erforderliche – Einschreibung im Internet Ende Januar eröffnet worden war, platzte die Teilnehmerliste aus allen Nähten. Hunderte von Personen waren auf Wartelisten eingeschrieben. Daraufhin konnte ein zweiter Hörsaal für die Tagung geöffnet werden, in welchen die Debatten per Videokonferenz übertragen wurden. 880 Personen konnten nun teilnehmen. Doch auch nach der Bekanntgabe dieser Erweiterung der Räumlichkeiten, Anfang Februar, standen binnen kürzester Zeit zu zahlreiche Interessenten zu wenigen Plätzen gegenüber. Trotz widrigster Bedingungen – Essen im Stehen, geschlossener Kantine, langen Warteschlangen vor Toiletten und Kaffeeautomaten – harrten Hunderte von Teilnehmern den ganzen Tag über aus. Kritische Juristen, hauptberufliche Anwälte und Richterinnen, Mitglieder aus Bürgerrechtsinitiativen und interessierte Bürger mischten sich. Der Diskussionsbedarf zu Themen der Justizpolitik ist offenbar riesig.


I. Worum geht es ?

Aber warum ballt sich so viel Unzufriedenheit im Juristen- und juristisch interessierten Milieu gegen die Regierungspolitik zusammen? Den Anstoß zur Protestmobilisierung gaben die jüngsten gesetzgeberischen Initiativen der französischen Regierung. Diese hat, während die anstehenden Regionalparlamentswahlen näher rückten, einige Wochen lang justiz- und innenpolitische Themen ins Zentrum gerückt, um sich als Wahrer der „Inneren Sicherheit“ zu profilieren. So wurde ein „Orientierungs- und Programmgesetz zur Inneren Sicherheit“, das seit einem Jahr in den Schubladen lag und höchst umstrittene Bestimmungen enthält (vgl. http://www.heise.de/), am 16. Februar in Windeseile in erster Lesung verabschiedet. Ähnliches gilt für das „Anti-Banden-Gesetz“, das vor einem Jahr aufgelegt wurde, aber am 11. Februar dieses Jahres plötzlich verabschiedet wurde. Es schafft ein Delikt der „Bandenmitgliedschaft“, das eine Verurteilung ohne nachweisbare persönliche Begehung einer Straftat erlaubt, vor dem Hintergrund der – schwer konkret zu fassenden – Zugehörigkeit zu Jugendbandenstrukturen, die oft nicht stabil und dauerhaft auslegt sind. Eine Zusatzbestimmung, welche die Verwertung der Aufnahmen von Überwachungskameras innerhalb von Privathäusern durch die Polizei erlaubte, wurde Ende Februar vorläufig durch die Verfassungsrichter kassiert. (Vgl. http://www.lemonde.fr/  )

Aber während die Regierung in jüngster Zeit mit frenetischem Eifer neue Aufgaben für Justiz und Polizei definierte, nimmt sie mit der anderen Hand der Justiz Mittel und Befugnisse wieder fort. Nicht nur, dass ein europäischer Untersuchungsbericht 2008 zum Schluss kam, dass dem Justizwesen in Frankreich pro Kopf der Bevölkerung 53 Euro zur Verfügung stehen, gegenüber 106 in Deutschland und 99 in Großbritannien – während es gleichzeitig auch in Frankreich eine ausgeprägte Tendenz zu härteren Strafen und schnellerem Wegsperren gibt. (Vgl. http://www.liberation.fr/societe/0101623397-la-justice-refuse-de-passer-a-la-casse ) Auch die Schließung von Gerichten zu Sparzwecken - rund 300 Gerichtssitze werden nach einem Plan von 2008 gestrichen, unter ihnen über 60 Arbeitsgerichte (Conseils de prud’hommes), und seit vergangener Woche gibt es erstmals eine französische Bezirkshauptstadt ohne eigenes Gericht für das Département, Tulle (vgl. http://abonnes.lemonde.fr ) - trägt zur Erbitterung der Kritiker bei. Während die Strafjustiz besonders für sozial marginalisierte Straftäter immer repressiver wird, entfernt dies zugleich die Justiz von den „einfachen Bürger/inne/n“, wenn diese sie in ihrem eigenen Interesse anzurufen wünschen würden. Beispielsweise in Arbeitsgerichtsverfahren (98 % der Verfahren werden durch Lohnabhängige angestrengt, nur eine kleine Minderheit durch Arbeitgeber).

Besonders erregt sind die Kritiker/innen über zwei jüngst durch die Regierung in Angriff genommene Reformen : die Abschaffung des Untersuchungsrichters, und die Überarbeitung der Gesetzgebung zu Finanzdelikten.


II. Wo liegt das Problem ?

In Frankreich existierte bislang ein doppeltes Strafverfolgungssystem. In den meisten Fällen ist für die Strafaufklärung und –verfolgung die Staatsanwaltschaft (le parquet) zuständig, die sich auf die Polizei als ihren verlängerten Arm stützen kann. Doch für komplexe Strafverfahren, in denen umfangreiche Ermittlungen erforderlich sind – Durchsuchungen von Räumlichkeiten etwa öffentlicher Institutionen, Durchforsten von Firmenbilanzen, Anhörung unzähliger Zeugen – besteht daneben ein Untersuchungsrichter (juge d’instruction).

Letzterem ist sein unabhängiger Status gesetzlich garantiert – im Unterschied zur Staatsanwaltschaft, die ausdrücklich an Weisungen aus dem Justizministerium gebunden ist. An und für sich ist dies auch nicht schockierend, da die Staatsanwälte vor Gericht eine Anklage im Namen des Staates und der Gesellschaft vortragen. Nur wirft diese Weisungsgebundenheit ein Problem auf, wenn es um „heikle“ Verfahren geht, bei denen hochrangige Persönlichkeiten aus Politik oder Wirtschaft involviert sind. Ohne unabhängige Untersuchungsrichter hätte es beispielsweise keine Verfahren zur illegalen Parteienfinanzierung gegeben, wie sie besonders in den 80er Jahren aufbrachen und derzeit noch Altpräsident Jacques Chirac beunruhigen.

Auch die „ELF-Affäre“ (vgl. http://fr.wikipedia.org/wiki/Affaire_Elf  ) hätte es ohne die Hartnäckigkeit von Untersuchungsrichterinnen wie Eva Joly (inzwischen a.D. und, seit Juni 2009, Europaparlamentarierin der Grünen) und Laurence Vichnievsky nicht gegeben. ELF Aquitaine ist eine Erdöl- und frühere französische Staatsfirma, die ab 1999/2000 durch Aufkauf im Megakonzern TOTAL aufgegangen ist. ELF früher ebenso wie TOTAL heute ist dafür berüchtigt, in Staaten besonders des französischsprachigen Afrika – früheren Kolonien wie Kamerun und Gabun – dubiose Geschäftspraktiken zu führen. Den jeweiligen, autokratischen Staaten wird das Erdöl in zu geringen Mengen und unterhalb der geltenden Weltmarktpreise verrechnet. Dies schadet den jeweiligen Ländern und ihren Staatshaushalten – nutzt aber diktatorischen Regimes, weil diese unterwegs geschmiert werden, also dicke „Kommissionen“ erhalten. Im Falle der Erdölrepublik Gabun floss ein Teil dieser Kommissionen jedoch nach Frankreich zurück, weil die dortige Diktatur und französische Staats- und Regierungskreise dabei halbe-halbe machten: Die Filiale ELF-Gabun spielte Jahrzehnte lang eine wichtige Rolle bei der Finanzierung aller staatstragenden Parteien in Frankreich. 1996 brach die Affäre rund um 600 Millionen Franc illegal erworbener Gelder, die der damalige ELF-Direktor Loïc Le Floch Prigent in das Unternehmen eines Freundes gesteckt hatte, aus; dieser packte daraufhin in einem zwölfseitigen „Geständnis“ in einem Wochenmagazin über die Hintergrunde der Geschäftspraktiken aus. (Vgl. http://www.lexpress.fr/ ) Sie führte im Jahr 2003 zur Verurteilung hochrangiger Manager, aber auch Politiker wie Ex-Außenminister Roland Dumas. Zwar wurde nicht die französische Staatskriminalität in Afrika verurteilt, sondern „nur“ die massive Steuerhinterziehung in Frankreich. Aber schon dies war Regierungskreisen zu viel, die versuchten, die Ermittlungen zu diesen und anderen Affären massiv zu bremsen. Und hätte es keine unabhängigen Untersuchungsrichterinnen gegeben, wäre diese Strafsache mit Bestimmtheit nie zur Anklage gekommen.

Doch nun soll das Amt des Untersuchungsrichters just verschwinden. Übernehmen soll seine Rolle die – weisungsgebundene – Staatsanwaltschaft. Die Regierung beruhigt, schon bislang seien nur 5 Prozent der Strafsachen von solchen Untersuchungsrichtern betreut worden, in 95 Prozent der Fälle habe die Staatsanwaltschaft ermittelt. Dies trifft zu, aber in den fünf Prozent geht es eben um die gesellschaftlich brisantesten Dossiers: Ein Mofadiebstahl dürfte nicht zu „Interessenkonflikten“ auf politischer Ebene führen (es sei denn, das Opfer ist der Präsidentensohn Jean Sarkozy wie vor dreei Jahren, als wegen eines Mofadiebstahls ein DNA-Test angeordnet wurde). Bei einer interkontinentalen Korruptionsaffäre hingegen schon.

Eine linksliberale Pariser Tageszeitung titelt deswegen beispielsweise zur geplanten Justizreform: „Eine Reform, um die Affären zu ersticken“ und „Die Prozesse, die nicht mehr stattfinden werden“. (Vgl. http://www.rfi.fr/

Hinzu kommt ein zweiter wesentlicher Aspekt: Die Reform sieht ebenfalls vor, die Gesetzgebung zu Kapitaldelikten, im finanziellen Sinne – wie Korruption und „Missbrauch von Gesellschaftsvermögen“ (Abus de biens sociaux) - zu überarbeiten. Bislang verjährten solche Straftaten drei Jahre nach ihrer Aufdeckung. Letztere konnte aber oftmals Jahre nach ihrer Verübung stattfinden, da es für Außenstehende schwer ist, delikthafte oder kriminelle Operationen (etwa Waffenschiebereien) in komplexen Firmen- und Konzernbilanzen oder Kapitalbewegungen quer über die Kontinente - von EU-Ländern bis zu Steuerparadiesen - nachzuweisen. Dafür sind oft jahrelange Ermittlungen, die häufig durch guten Zufälle zu verdankende Entdeckungen ausgelöst werden, erforderlich.

Was die Regierung nun im Namen der „Modernisierung“ des Justizwesen sowie der „Rechtssicherheit für die Unternehmen“ plant, ist, die Verjährungsregeln zu ändern. Zwar soll die Verjährungsfrist auf sechs Jahre angehoben werden; aber auf sechs Jahre nicht nach der Aufdeckung, sondern nach der materiellen Begehung der Straftat. Bei Finanzdelikten würde dies zahlreiche Ermittlungen schlicht verunmöglichen. Im vergangenen Jahr 2009 wurde etwa ein französischer Waffenhändler, Pierre Falcone, zu sechs Jahren Haft verurteilt, und ein französischer Ex-Innenminister (Charles Pasqua) erhielt in demselben Verfahren erstinstanzlich ein Jahr Haft ohne Bewährung. Dabei ging es um Waffenhandel mit einem afrikanischen Land, das sich zum Tatzeitpunkt im Bürgerkrieg befand, Angola, Bürgerkriegsschauplatz von 1975 bis Ende 2002. - Die fraglichen Handlungen waren im Jahr 1993 verübt worden. Aufgedeckt wurden sie im Dezember 2000. Hätte die aktuell geplante Reform damals schon gegriffen, so wäre dieses Strafverfahren nie möglich geworden.

III. Aus welchem Anlass wurde die Reform auf den Weg gebracht?

Die französischen Untersuchungsrichter kamen öffentlich ins Gerede und rückten in die Kritik, als um die Mitte des zurückliegenden Jahrzehnts die „Outreau-Affäre“ aufbrach.

Die Affaire d’Outreau betrifft einen Prozess, der maximales Aufsehen erregte, aber mit dem Totalzusammenbruch der Anklage in allen Punkten endete. Ab Ende der neunziger Jahre war ein Ermittlungsverfahren gegen um die zwanzig Personen aus einem sozial schwachen Milieu im französischen Département Nord durchgeführt worden. Ihnen wurden Inzest, Kindesmissbrauch und Prostitution von Kindern vorgeworfen. Die Anklage stützte sich auf die Aussagen einer Hauptangeklagten - Myriam Badaoui -, die sich als Mythomanin (krankhafte Lügnerin) entpuppte. Daneben spielten die Expertisen von Kinderpsychiatern und anderen Spezialisten, die es - verfrüht - eilig hatten, ein Exempel gegen Pädophilie und Kindesmissbrauch zu statuieren, eine wesentliche Rolle. Diese standen jedoch auf schwachen Füßen; und es sollte sich herausstellen, dass durch ihren Druck und durch den öffentlichen Wirbel die Zeugenaussagen von Kindern manipuliert worden waren. Die Affäre war von Anfang an sehr spektakulär durch die Medien aufbereitet worden, denen im Nachhinein Vorverurteilung vorgeworfen wurde. Der damalige französische Premierminister Alain Juppé hatte zu Beginn der Affäre öffentlich ausgerufen: „Manchmal muss man die Menschenrechte hintanstellen, wenn es um das Kindeswohl geht.“ (Vgl. http://fr.wikipedia.org/wiki/Affaire_d%27Outreau  )

Im Laufe der beiden Prozesse, die 2004 sowie 2005 in erster und zweiter Instanz stattfanden, kam es zum Freispruch sämtlicher Angeklagten.

Im Nachhinein wurde der Übereifer eines Untersuchungsrichters, der drei Jahre lang unkontrolliert in Eigenregie ermittelt hatte und sich von seinem „großen Fang“ übermäßig überzeugt zeigte, heftig kritisiert. Die Regierung nahm diese laut werdende Kritik zum Anlass, um eine (erste) Reform des Strafprozessrechts zu lancieren und um die Untersuchungsrichter - die, wie oben ersichtlich wurde, auch aus völlig anderen Gründen „störten“ - stärker unter Kontrolle zu stellen. Ab März 2008 sollte eine erste Reform in Kraft treten: In wichtigen, komplexen Verfahren sollte nunmehr nicht mehr einzelner, sondern sollten drei Untersuchungsrichter zusammen ermitteln.

Der prominente Untersuchungsrichter Renaud Van Ruymbeke, der seit den neunziger Jahren zu brisanten Finanzdelikten ermittelt hatte, sieht diese Begründung jedoch als puren Vorwand. Er erklärte dazu auf der oben zitierten Tagung zur Justizpolitik am 13. Februar: „Drei Untersuchungsrichter, in Ordnung - aber dieser Schritt ging nicht mit einer Aufstockung des Personals einher. Es gab also nur die Alternative, dass die Richter drei mal schneller arbeiten, oder dass sie drei mal weniger Affären behandeln. Ohne entsprechende zusätzliche Mittel konnte diese Reform nichts bringen.“

In einem zweiten Schritt nahm die Regierung nun die neue, radikalere Reform - durch Abschaffung des Untersuchungsrichter-Amts - in Angriff. Auch diesen Ansatz sieht Van Ruymbeke jedoch auf einen Vorwand gegründet: Im Falle des Outreau-Verfahrens habe der Untersuchungsrichter schwere Fehler begangen, indem er beispielsweise die - über drei Jahre dauernde - Untersuchungshaft für Verdächtige anordnete, die sich später als unschuldig erwiesen. „Doch handelte er zu jedem Zeitpunkt im Einverständnis mit der Staatsanwaltschaft, die seine Ermittlungsführung begleitete und unterstützte. Auf beiden Seiten war man davon überzeugt, dass diese Maßnahmen gerechtfertigt seien. Wenn man heute die Kompetenzen des Untersuchungsrichters an die Staatsanwälte abgeben möchte, so hätte dies damals nichts geändert.“

IV. Wie wird die Reform im Kern gerechtfertigt ?

Die Regierung rechtfertigt ihre jetzt geplante Reform mit der „Modernisierung“ des Justizwesens, unter Anpassung an andere EU-Länder, wo es in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle keine dem französischen Untersuchungsrichter - ein durch Napoléon I. geschaffenes Amt - vergleichbare Institution gebe. Dies trifft zwar im Prinzip zu, doch ist Vorsicht bei den Ländervergleichen und den aus ihnen gezogenen Lehren angebracht, um nicht Äpfel mit Birnen zu vergleichen. Denn in den angeführten Ländern ist zugleich oftmals eine andere Struktur gegeben; mehrheitlich weisen sie beispielsweise eine Staatsanwaltschaft auf, die nicht in einem vergleichbaren Ausmaß weisungsgebunden ist wie die französische. Beispielsweise in Italien, das seinen Untersuchungsrichter 1989 abschaffte und dessen frühere Befugnisse den Staatsanwaltschaften übertrug - aber dessen Staatsanwälte eine Unabhängigkeitsgarantie gegenüber den übrigen öffentlichen Gewalten besitzen, und in Schweden. Oder in Portugal, wo die Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaften (auch gegenüber Weisungen aus dem Justizministerium) seit 2002 in der Verfassung festgeschrieben wurde. (Vgl. http://www.touteleurope.fr/ )

Zudem, so die Regierung, werde es nunmehr einen speziellen „Richter für Ermittlungssachen und Grundrechte“ (Juge de l’enquête et des libertés) geben, der die staatsanwaltschaftliche Tätigkeit kontrolliert. Dies ist tatsächlich in der Reform vorgesehen. Doch wird er nur die Staatsanwaltschaft im Nachhinein kontrollieren, und kann laut den bestehenden Plänen nicht selbst initiativ werden. So kann er keine Ermittlungen aktiv anordnen; er wird aber die Staatsanwaltschaft dazu anweisen können, dort ein Strafverfahren aufzunehmen, wo bislang – gegebenenfalls auf Weisung von oben hin – untätig geblieben ist. Nur, man kann bekanntlich ein Pferd zur Tränke führen, aber nicht es dazu zwingen, auch zu trinken. Eine Akte anlegen und aktiv Ermittlungen betreiben, das sind zwei unterschiedliche Dinge.

Die Reform des Unternehmensstrafrechts bei den Finanzdelikten wird mit einer „Modernisierung“ und einer „rechtlichen Normalisierung“ gerechtfertigt: Bei den meisten anderen Straftaten, von der Beleidigung bis zum Mord, läuft die Verjährungsfrist ebenfalls ab dem Zeitpunkt der Begehung der Tat und nicht nach ihrer Entdeckung. Allerdings wird dies den Besonderheiten der Finanzdelikte, die das Bestehen einer komplexen Organisation und oftmals auch das Beherrschen komplizierter finanzieller Kreisläufe voraussetzen, nicht gerecht. Aufgrund ihrer Natur hat das Publikum der „Außenstehenden“, bis hin zur Justiz, von diesen Vorgängen nur geringe Kenntnis.

V. Und in den deutschsprachigen Ländern? (Zum Vergleich:)

In der Bundesrepublik Deutschland wurde der zuvor bestehende Untersuchungsrichter anlässlich einer Reform der Strafprozessordnung 1974/75 abgeschafft. Seitdem sind die Staatsanwaltschaften für die Ermittlung und Verfolgung von Delikten zuständig. Ihre Mitglieder sind Beamte, die dem Justizministerium hierarchisch unterstellt sind. Allerdings ist ihre Situation nicht direkt mit jener ihrer französischen Kolleginnen vergleichbar, denn das deutsche Beamtenrecht weist einige Besonderheiten auf. Aufgrund eines Prinzips der engen Rechtsbindung sind deutsche Staatsanwälte gesetzlich dazu verpflichtet, bei Kenntnis von einer Straftat Ermittlungen dazu aufzunehmen - und machen sich im Prinzip selbst strafbar, falls sie dies unterlassen.

Das französische Justizsystem funktioniert, vor allem an seiner Spitze, nach stärker politisierten Mechanismen: In Frankreich misstraut man seit zwei Jahrhunderten einem gouvernement des juges, also einer Unterordnung politischer Entscheidungen unter das Spezialistentum von (hauptberuflichen und nicht gewählten) Rechtsexperten. Dies hatte ursprünglich spezifische historische Gründe: Unter der Französischen Revolution stammte die große Mehrheit der Richterschaft und der studierten Juristen aus dem Staatsdienerkorps des Ancien Régime, der Monarchie - und waren daher verdächtig, der Reaktion verbunden zu sein und die laufenden politischen und gesellschaftlichen Veränderungen abzulehnen. Die Politik, die sich als Träger dieser Veränderungen verstand, wollte sich nicht in Abhängigkeit vom nicht gewählten Expertentum der Juristen begeben, um den Elan der Revolution nicht fesseln zu lassen.

Seitdem allerdings hat sich der Sinngehalt der - relativen, aber realen - politischen Kontrolle über den Justizapparat erheblich verändert: Es längst geht nicht mehr darum, den Drang zu progressiven Veränderungen von historischen „Fesseln“ zu befreien, sondern um die Bewahrung der Macht bestehender gesellschaftlicher Eliten.

Selbst die Richter sind in Frankreich erst seit der Justizreform, die unter den Sozialisten im Jahr 2000 durchgeführt wurde, statutarisch unabhängig; die Staatsanwaltschaften wurden damals jedoch ausgespart.

In Österreich, wo die zuvor dort ebenfalls bestehenden Untersuchungsrichter bei einer Strafprozessreform im Jahr 2008 abgeschafft wurden, gab es zuvor vergleichbare Debatten zu jenen, die derzeit in Frankreich geführt werden. (Vgl. http://www.richtervereinigung.at/content/view/93/2/ ) Aber schlussendlich wurde die statutarische Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft verfassungsrechtlich festgeschrieben, als die Reform 2008 in Kraft traten. Ähnliches gilt für die künftige Stellung der Staatsanwaltschaft in der Schweiz, wenn die Reform des Strafprozessrechts dort 2011 in Kraft tritt. (Vgl. http://mobile.agoravox.fr  )
 

Editorische Anmerkungen

Wir  erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe.