Eine Schule für alle
SPD, Grüne und Linke sind sich einig

von Julia Killet

03/10

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Kann es eine Schule für alle geben, wenn das Gymnasium weiter existiert? Was geschieht gerade in Hamburg und Berlin, wo unter ganz anderen Bedingungen, mal schwarz-grün, mal rot-rot, das Schulsystem umgestaltet? Geht das in die richtige Richtung? Und wie wird es nach dem 9. Mai in NRW weiter gehen, wenn die LINKE im Landtag sitzt?

Über diese und andere Fragen diskutierten Bildungsfachleute – und wer ist das nicht? – auf der schul- und bildungspolitischen Konferenz der Rosa Luxemburg Stiftung NRW mit dem Titel „Eine Schule für alle: Gemeinschaftsschule in NRW und anderswo“ Gemeinsam mit FachvertreterInnen und PolitikerInnen erarbeiteten die rund 80 TeilnehmerInnen am 20. Februar in Essen Kriterien, Perspektiven und Realisierungschancen für das Konzept der Gemeinschaftsschule in NRW.

Susanne Thurn, Leiterin der Laborschule in Bielefeld, konzentrierte sich in ihrem Eröffnungsvortrag darauf, was „Eine Schule für alle“ leisten müsse. Deutschland bräuchte eine Schule für alle Kinder, die auf einer Kindertagesstätte aufbaut, in den wissenschaftlich ausgebildeten Erzieherinnen und Erzieher (!) bereits eine angemessene Bildung bieten würden. Eine Schule mit einer veränderten Lern- und Unterrichtskultur, die jedem Einzelnen gerecht werden könne. Eine Schule, die auf Leistungsdifferenzierung verzichte. Eine Schule, in der Kinder die gesellschaftlich vereinbarten Mindeststandards in Pflichtkursen erreichen könnten und darüber hinaus individuell vielfältige weitere Lernangebote und wahldifferenzierende Profilierungsmöglichkeiten erhalten würden, mit denen sie zu ihren individuellen Höchstleistungen herausgefordert würden. Eine Schule, die Kinder dazu befähige, diese Lernangebote selbstbestimmt wahrzunehmen und für ihr Lernen selbst Verantwortung zu übernehmen. Diese Schule könne auf Noten als sachfremde Scheinmotivierung verzichten. In ihr arbeiten PädagogInnen mit unterschiedlichen Kompetenzen, mit gleichwertiger Ausbildung und daher gleicher Bezahlung miteinander. Und eine Schule in der Gemeinde und Nachbarschaft mit einer anregenden Lernumgebung, die das andere Lernen unterstütze – Schule als Kinder-, Jugend-, Sport-, Kultur-, Technik-, Bibliotheks-, Medien- und Gemeindezentrum für vielfältige Aktivitäten, die ganztägig und ganzjährig für alle geöffnet seien. Zum Schluss betonte Thurn, dass eine Änderung des Schulsystems durch die Politik nicht damit getan sei, Türschilder einfach auszuwechseln. Die Veränderung müsste den Kern betreffen.

In der anschließenden Diskussionsrunde sprachen zwölf FachvertreterInnen aus unterschiedlichen Bereichen darüber, ob und wie eine darüber, ob und wie eine Schule für alle in NRW zu realisieren ist. Die Fachbuchautorin Christel Jungmann gab zunächst einen Überblick über Herkunft und Geschichte der Gemeinschaftsschule: „Das erste Konzept wurde früher in Schleswig Holstein unter rot-grün entwickelt.“ Der darauf folgende Politkrimi um Heide Simonis (SPD) hätte schließlich die Realisierung verhindert. Das Konzept sei danach zunächst von Sachsen und später von Berlin als Pilotprojekt, das neben den bisherigen Schulformen existiert, übernommen worden.

Kritik an dem Konzept der Partei DIE LINKE kam von Werner Kerski von der Initiative „Gemeinnützige Gesellschaft Gesamtschule“: „Der Partei fehlt der Weg zum Ziel.“ Einen Unterschied zwischen einer Gemeinschaftsschule und einer Gesamtschule gebe es seiner Meinung nach nicht. Das wurde jedoch von Seiten des Publikums heftig dementiert: „In einer Gesamtschule wird nach Leistung differenziert. Die Gemeinschaftsschule bietet allen die gleiche Chance und bezieht Behinderte und Lernschwache mit ein“. Kerski ergänzte, dass die Gesamtschule ausgebaut und das Gymnasium mit in die Reform einbezogen werden müsse. Außerdem müsse eine Umorientierung im Lehramtsstudium stattfinden.

Für eine inklusive Schule plädierte Wolfgang Blaschke, Vorstand der Initiative 'mittendrin' Köln. Damit ist gemeint, dass alle existierenden Schulen in einer Gemeinschaftsschule zusammengefasst werden. „Wenn alle für ihr Kind das Gymnasium wollen, warum solle diese Schule dann nicht Gymnasium heißen?“

Auf die Praxis ging Thomas Jaitner, bildungspolitischer Referent der Landesarbeitsgemeinschaft der kommunalen Migrantenvertretung NRW (LAGA) ein: „Wir leben in einer mehrsprachigen Gesellschaft, das muss im Unterricht berücksichtigt werden.“ Er sprach sich für frühzeitigen mehrsprachigen Unterricht aus, durchaus mit Migrantionssprachen. Positive Beispiele dafür gebe es in der einer bilingualen Grundschule in Köln, wo türkisch und deutsch gelehrt wird.

Hassan Metwally, bildungspolitischer Sprecher der Partei DIE LINKE, brachte seine Erfahrungen mit der bereits umgesetzten Gemeinschaftsschule in Berlin ein. Dort seien mit dem Schuljahr 2008/09 die ersten elf Gemeinschaftsschulprojekte mit 17 Schulen als Pilotprojekt gestartet. Darunter seien Grundschulen, die mit weiterführenden Schulen kooperieren. Ebenso gebe es Zusammenschlüsse von verschiedenen Schultypen (Haupt-, Real- und Gesamtschulen), aber auch eine Schulneugründung in Pankow. Die Schüler blieben bis zur zehnten Klasse zusammen und könnten entsprechend ihres erreichten Leistungsniveaus alle geltenden Abschlüsse erwerben und dem Weg zum Abitur gemeinsam fortsetzen. Es gebe kein zwangsweises Sitzenbleiben. Eine freiwillige Wiederholung und ebenso das überspringen einer Jahrgangsstufe sei möglich. Es gebe Förderangebote, in denen Interessen und Neigungen sowohl der Lernschwächeren als auch der Leistungsstarken Rechnung getragen würde. Mit dem „Runden Tisch Gemeinschaftsschule“ existiere ein offenes Forum von Interessierten aus Schulen, Gewerkschaften, Verbänden und Parteien, die das Vorhaben für bessere und gerechtere Bildungschancen in der Stadt unterstützen würden. Pro Jahr sollen drei bis vier Schulen hinzukommen. „Es gibt mittlerweile mehr nachfragen, als Plätze“, fügte Metwally hinzu.

Über die Erfahrungen in Hamburg berichtete Klaus Bullan, Landesvorsitzender der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in Hamburg. Dort werden Mitte Juli die BürgerInnen per Volksentscheid darüber abstimmen, ob die Kinder weiter nur vier oder künftig sechs Jahre gemeinsam zur Grundschule gehen. In Hamburg sei ein regelrechter Klassenkampf aufgebrochen: „Hier kämpft die privilegierte Schicht um ihre um ihre Schulstruktur.“ Die Initiative „Eine Schule für alle“, deren Sprecher Bullan ist, findet, dass der Antrag der schwarz-grünen Landesregierung auf längeres gemeinsames Lernen schon mal ein kleiner Schritt in die richtige Richtung sei: „Wir wollen erreichen, dass sich in Zukunft alle weiterführenden Schulen zu fördernden und integrativ arbeitenden Gemeinschaftsschulen bis zur zehnten Klasse entwickeln“, ergänzte Bullan. Problematisch sieht Bullan die geplante Einführung des Probejahrs an Gymnasien: „Wir befürchten, dass dieses Experiment den Grundgedanken der individuellen pädagogischen Förderung in der 7. Klasse aushebelt und letztlich zu schärferer Auslese führt.“ Die allgemeine bildungspolitische Auseinandersetzung zeige überall in Deutschland, dass es so mit dem Bildungssystem nicht mehr weitergehen könne.

In der nächsten Diskussionsrunde ging es um Umsetzungschancen. Reinhard Frind, Dezernent Familie, Bildung, Soziales der Stadt Oberhausen und Vorsitzender des Schulausschusses des Städtetags NRW stellte die Position der Kommunen dar. Sie wollen mehr Freiheiten, um ihre Schulsysteme individuell gestalten zu können. Ob Verbundschule, Zusammenlegung von Haupt- und Realschulen oder Gemeinschaftsschulen – das solle jede Kommune selbst entscheiden können. Ein Schulangebot ohne Gymnasien halten Frind und der Städtetag jedoch für illusorisch. Man könne nicht über Köpfe hinweg entscheiden. Der Städtetag hat sich unter anderem dafür ausgesprochen, dass regionale Bildungsbüros in NRW eingerichtet werden sollen. Darin würden ein Lehrer und ein Mitarbeiter erarbeiten, „wo Bildung noch stattfindet.“ Die Kosten dafür müssten die Kommunen tragen.

Bezogen auf die Stadt Köln erklärte Özlem Demirel, für DIE LINKE im Rat der Stadt Köln, dass die Gesamtschulen immer mehr Zulauf hätten. Über 800 SchülerInnen seien im letzten Jahr abgelehnt worden. Die Landesregierung lege einer Lösung für dieses Problem bewusst Steine in den Weg. In einer repräsentativen Umfrage Ende 2009 in Köln seien Eltern von Kindern im dritten Schuljahr unter anderem gefragt worden, welche Schule sie sich für ihr Kind wünschen, mit dem Ergebnis: 59 Prozent wünschten sich das Gymnasium, 23 Prozent die Gesamtschule, 16 Prozent die Realschule und ein Prozent die Hauptschule. Das zeige, dass sich Eltern für ihre Kinder die best möglich Schulform wünschten. Außerdem hätten in der Studie zwei Drittel aller Eltern ein längeres gemeinsames Lernen befürwortet. Demirel betonte, dass das neue Schulsystem allerdings nicht in einzelnen Schritten verwirklicht werden könne.

Schwarz-gelb wird die Spaltung in der Gesellschaft weiter führen“, fürchtet Andreas Meyer-Lauber, Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Landesvorsitzender NRW. Der Weg zur „Einen Schule für alle“ erfordere einen langen Reformprozess. Aber der ist gangbar. Dafür spricht auch, dass sich immer mehr SchülerInnen für Gesamtschulen entscheiden. In den Schuljahren 2008/09 und 2009/10 haben sich rund 15000 SchülerInnen an Gesamtschulen angemeldet, jedoch keinen Platz bekommen. Somit würden die Eltern um das Recht der freien Schulwahl gebracht.

Beim abschließenden politischen Podium diskutierten Landesvertreterinnen von SPD, Grünen und Linken miteinander. Die SPD hätte sich bereits 2007 bei ihrem Bildungsparteitag für eine Gemeinschaftsschule eingesetzt, so Renate Hendricks, MdL NRW. Damals sei aber die Bereitschaft der Gesellschaft für Veränderungen nicht da gewesen. Die SPD mache sich für „Eine Schule für alle“ stark und bevorzuge dabei den Weg der kleinen Schritte: „wir können ja nicht einfach allen Schulen das neue Konzept aufdrücken.“ Die Gymnasien sollten in den Prozess einbezogen werden. Die Lehramtstudenten müssten jetzt schon auf die Veränderungen geschult werden. Angst hätte sie vor einem erneuten Schulkampf.

Daniela Schneckenburger, Landesvorsitzende Bündnis 90/DIE GRÜNEN NRW, setzte sich für längeres gemeinsames Lernen ein. Durch das derzeitige gegliederte Schulsystem würde soziale Ungleichheit verstärkt. Kinder lernten aus Milieus und sozialen Gruppen. Das System könne nur mit Eltern und Lehrern gemeinsam umgestellt werden. Ihre Partei wolle pro Jahr 10 Prozent der Schulen umstellen.

Bärbel Beuermann, Spitzenkandidatin für DIE LINKE in NRW erklärte, dass ihre Partei an einer Gemeinschaftsschule arbeite, weil die Regelschulen unter anderem nicht auf Schüler mit besonderen Fähigkeiten eingehen würden. Schüler von Förderschulen hätten keine Chance auf dem Arbeitsmarkt. Ihre Partei wolle gleiche Chancen für alle in jedem Lebenslager schaffen. Durch Ganztagsschulen würden Kinder eine bessere Förderung erhalten. Außerdem sollten die Klassen verkleinert werden, wodurch eine individuelle Ausbildung eines jeden Schülers möglich sei. Wie der konkrete Weg der Umsetzung aussehen sollte, konnte Beuermann allerdings nicht beantworten: „Wir arbeiten daran.“

Editorische Anmerkungen

Wir  erhielten den Artikel von der Autorin für diese Ausgabe.