„Wir
haben zwar kein Erdöl, aber wir haben Ideen“ lautete einer der
bekanntesten Aussprüche französischer Politiker. In den frühen
siebziger Jahren, nach dem ersten „Ölpreisschock“ und der so
genannten Ölkrise von 1973/74, betrieb die Pariser Regierung
offiziell Werbung mit dem Slogan. Gemeint war damit unter
anderem, dass Frankreich nicht auf die Förderung eigenes Erdöls
- wie der britische Nachbar beim Nordseeöl - setzen könne, wohl
aber dank seiner Firmen und ihrer Ingenieure über andere
Alternativen verfügten. Ihre wichtigste war, nach einhelliger
Auffassung des politischen Establishments, die Nutzung der
Atomenergie. In ihr war Frankreich alsbald führend, und heute
laufen nicht weniger als 59 Atomreaktoren zwischen Ärmelkanal
und Pyrenäen. Sie erzeugen 80 Prozent der französischen
Elektrizitätsversorgung. Das ist die weltweit höchste Dichte pro
Einwohner/in (nicht pro Fläche, auf der Ebene liegt Japan mit
insgesamt 53 Atomreaktoren und geringerer Gesamtfläche vorne) in
Atomanlagen - sowohl zivil als auch militärisch genutzten - in
einem Land.
Nicht
gar so ideenreich erwies man sich unterdessen beim Atommüll.
Eine Milliarde Tonnen nuklearer Abfälle kam bisher zusammen,
rechnet man alle radioaktiv strahlenden Reststoffe zusammen -
unter ihnen auch beispielsweise die 300 Millionen Tonnen
radioaktiven Abraums aus den früheren Uranminen, die seit 1945
in Betrieb waren und deren letzte auf französischem Boden 1991
geschlossen wurde. Über 200 Uranbergwerke waren zeitweise auf
französischem Boden - vor allem im Zentralmassiv - betrieben
worden.
Eine
Reportage für den Fernsehsender France3 alarmierte Mitte Februar
dieses Jahres erstmals eine breitere Öffentlichkeit bezüglich
der vergessenen Gefahren, die diese Aktivität hinterlassen hat.
Straßen, Spielplätze, ein Sägewerk oder auch Badeseen und andere
Freizeitorte wurden auf den früheren Bergwerksgeländen
errichtet. Strahlende Abraumhalden wurden nur notdürftig
umzäumt, und Geigerzähler zur Radioaktivitätsmessung wurden dort
aufgepflanzt, wo die Strahlung gerade am schwächsten ist.
Die
Betreiberfirma der früheren Bergwerke war die staatliche
Atomfirma COGEMA. Sie ging inzwischen in der Aktiengesellschaft
Areva, deren Kapital im Augenblick noch zu 100 Prozent in
staatlichen Händen liegt, auf. Die Areva dürfte freilich in
absehbarer Zeit mit Privatfirmen fusionieren oder von über ihnen
übernommen werden. Im Gespräch sind etwa der französische
Ölkonzern Total - der mit Areva zusammen ein AKW-Projekt in Abu
Dhabi betreibt - oder die Maschinenbaufirma Alstom zusammen mit
dem französischen Betonriesen Bouygues (der 30 Prozent an Alstom
hält und von einem Duzfreund Nicolas Sarkozys geleitet wird).
Areva benötigt derzeit dringend Geld, da der deutsche
Siemens-Konzern in der letzten Januarwoche 2009 den Rückzug aus
der gemeinsamen Tochtergesellschaft Areva NP, an der Siemens mit
34 % beteiligt war, angekündigt hat: Siemens wollte lieber
entweder direkt an der „Mutterfirma“ beteiligt werden und höhere
Anteile erwerben, was die Franzosen erwerben, oder aber mit den
Russen zusammen ins Atomgeschäft einsteigen. Letztere Option
wird nun realisiert: Am o3. März 2009 wurde eine Kooperation
zwischen Siemens und der russischen Nuklearfirma Rosatom
angekündigt. Areva sucht nun neue private Partner und muss sich
ihnen „rentabel“ erweisen. „Altlasten“, wie etwa der strahlende
Abfall aus den Nachkriegsjahrzehnten, sind dem Konzern deswegen
nur - lästig.
Diese
und andere Atomabfälle werden gar zu gerne vergessen, wenn man
regelmäßig verharmlosende Zahlen liest wie jene, Frankreich
erzeuge jährlich zweihundert Tonnen Atommülls. Diese Angabe
umfasst nur die abgebrannten Brennstäbe aus Atomkraftwerke. Aber
hinzu kommen etwa die radioaktiv strahlenden Abwässer von
Reinigungsarbeiten in Kraftwerken oder die Chemikalien, die zur
Wiederaufarbeitung - der Abtrennung der Kernbrennstoffe Uran und
Plutonium aus abgebrannten Brennstäben - in der Anlage im
normannischen La Hague benutzt werden. Auch sie müssen
mindestens für Jahrhunderte, wenn nicht für Jahrtausende, vor
menschlichem Kontakt gesichert und so abgeschirmt wie möglich
aufbewahrt werden.
Die
Atommüllfrage wird in den Augen der öffentlichen Meinung nur
gelegentlich akut. Ins öffentliche Bewusstsein zurückgerufen
wurde sie etwa vergangene Woche, als der bislang größte
Atommülltransport aus der Wiederaufbereitungsanlage (WAA) La
Hague zum Hafen von Cherbourg rollte, um per Schiff nach Japan
verschifft zu werden. Zwei Schiffe - das
Atommülltransportschiff, welches der britischen Reederfirma
Pacific Nuclear Transport Limited gehört, und ein Begleitschiff
mit Elitetruppen der britischen Armee an Bord - werden siebzig
Tage lang auf den Weltmeeren unterwegs sein. An Bord haben sie
ein gigantisches Gefahrenpotenzial: 20 Tonnen „Mischoxyd“ (MOX),
also aus „recyceltem“ Atommüll hergestellter Brennstoff für
Atomkraftwerke, der aus einer Mischung von Uran und Plutonium
besteht. Der besonders umstrittene Kernbrennstoff MOX war zuvor
in der südfranzösischen Atomfabrik Melox produziert worden.
Im
kommenden Jahr, 2010, soll der nächste Transport nach Japan
erfolgen. Zwar verfügt das fernöstliche Land bislang noch über
gar keine Reaktoren, die zum Einsatz von MOX-Brennstäben fähig
wären. Nicht alle Atomkraftwerke können mit dem
Uran-Plutonium-Gemisch befeuert werden. In Deutschland - wo
1972, in der damaligen Bundesrepublik, der erste Einsatz von MOX
erfolgte - ist dies für zehn Reaktoren der Fall, in Frankreich
sind es insgesamt 22 Reaktoren. Japan verfügt bislang über
keinen funktionsfähigen. Aber Frankreich hatte beschlossen, das
Produkt der Wiederaufbereitung - also der Abtrennung von Uran
und Plutonium - aus abgebrannten Brennstäben, die Japan vom Ende
der siebziger bis zum Ende der neunziger Jahre geliefert hatte,
zurückzusenden.
Die
französische Atomindustrie hält auch weiterhin an der
MOX-Produktion in großem Maßstab fest. Sie ist noch weitaus
umstrittener als der Einsatz von sonstigem Kernbrennstoff. Denn
durch den Einsatz von Plutonium, das in höchstem Ausmaß giftig
ist und weitaus stärker strahlt - da schneller zerfällt - als
das spaltbare Uran235 oder Uran238, wird das Risikopotenzial
erhöht. Gleichzeitig enthält MOX-Brennstoff notwendig
atomwaffenfähiges Material, während zumindest niedrig
angereichertes Uran (mit geringem Uran235-Anteil), wie es in
sonstigen Brennstäben eingesetzt wird, als solches nicht
waffentauglich ist.
Und
wer MOX einsetzen möchte, muss zuvor notwendig die chemischen
Prozesse durchgeführt haben, die zur Abtrennung der spaltbaren
Materialien aus der sonstigen Masse der abgebrannten Brennstäbe
führen. Dies verkauft die französische Atomfirma Areva nun als
„Recycling“, das dazu beitrage, die Gesamtmenge des Atommülls zu
vermindern. Auch die liberale Pariser Abendzeitung Le Monde
druckte die Behauptung am vergangenen Freitag nach. Allein, es
ist purer Unsinn: Die Müllmenge wird durch das Auftrennen des
Atommülls in Gestalt der anfallenden Brennstäbe um ein
Vielfaches vergrößert. Denn die einzelnen chemischen Substanzen,
die in ihm enthalten sind, werden dabei separiert. Zudem werden
alle Substanzen, die zur Durchführung der Aufbereitung
eingesetzt werden, im Laufe des Prozesses ihrerseits radioaktiv.
Und auch aus den MOX-Brennstäben wird nach Abbrennen neuer
radioaktiver Müll. Denn Uran und Plutonium verschwinden in der
Kernspaltung ja nicht einfach, sondern überlassen ihrerseits
strahlenden Spaltprodukten wie Kobalt, Zäsium, Krypton oder
Barium den Platz.
Die
neuen Reaktoren der so genannten dritten Generation vom Typus
EPR (Europäischer Druckwasserreaktor) werden zu hundert Prozent
mit MOX befeuert werden, während herkömmliche Atomkraftwerke -
sofern sie diesen Brennstoff überhaupt einsetzen - nur zu
höchstens 30 Prozent mit dem Mischoxyd bestückt werden.
Frankreich zählt zu denjenigen Staaten, die den Einstieg in die
neue Reaktorgeneration forcieren. Der führende französische
Atomkonzern Areva baut derzeit in Finnland einen EPR-Reaktor,
der jedoch voraussichtlich zwei Jahre Bauverzögerung aufweist
und doppelt so viel kosten so viel wie geplant - die Finnen
fordern bereits Schadensersatz. Frankreich hat einen EPR im
normannischen Penly im Bau, und Präsident Sarkozy lancierte
Anfang Juli vorigen Jahres den Bau eines zweiten. In der letzten
Februarwoche vereinbarte Sarkozy nun mit dem italienischen
Premierminister Silvio Berlusconi den Bau einer Serie von vier
EPR-Reaktoren in Italien, deren erster bis 2020 in Betrieb gehen
soll. Die Rechtsregierung in Rom möchte heute einen Neueinstieg
in die Atomenergie favorisieren, nachdem die Bevölkerung 1987 in
einem Referendum entschieden hatte, ihre Nutzung in Italien zu
unterlassen.
Die
aktuelle Politik wird also dafür sorgen, dass auch weiterhin
eifrig Atommüll - auch und gerade von der gefährlichsten Sorte -
produziert werden wird. Aber was mit dem alten passieren soll,
ist derzeit noch ungeklärt. Vor 1969 gab es dafür noch eine
simple Lösung: Er wurde einfach ins Meer gekippt. Alarmierende
Messungen im Ärmelkanal sorgten dann dafür, dass dies
unterbleiben musste. Daraufhin wurde in der Nähe von La Hague
ein Zwischenlager errichtet, das von 1969 bis 1994 im Betrieb
war. Rund 560.000 Kubikmeter radioaktive Abfälle wurden hier
eingelagert. Als Ersatz für dieses Zwischenlager wurde, vor
seiner Stilllegung, ab 1992 ein anderes in Ostfrankreich in
Betrieb genommen. Es liegt in einem ausgedehnten Waldstück im
Bezirk Aube (Region Burgund). Dort stehen 90 kubikförmige
Betonbehälter, in denen Atommüllbehälter von einer
Granulatsubstanz eingeschlossen sind, buchstäblich im Wald.
Diese
als „schwach“ und „mittel radioaktiv“ eingestuften Abfälle
müssen nur für eine Gesamtdauer von rund 700 Jahre im Auge
behalten werden. Aber was mit den stärker strahlenden, „hoch
radioaktiven“ Abfällen passieren soll, ist bislang noch ein
Geheimnis. Ein Gesetz von 1991 - die Loi Bataille - sah vor, das
innerhalb von 15 Jahren durch Forschungen in drei
Gesteinsformationen -Granit, Ton und Salzstock) ein potenzieller
Endlagerstandort, der auch über lange Zeitraum hinweg als
„sicher“ gelten könne, bestimmt werden solle. Aber vielerorts
kam es zu so starken Widerständen, dass die Forschungen nicht
durchgeführt werden konnte. Probebohrungen an Granitgestein, bei
denen radioaktive Substanzen eingespritzt werden sollten, um
ihre Ausbreitung zu untersuchen, unterblieben etwa. In
Südfrankreich verhinderten Winzer und Touristen, dass ihre
Lebensgrundlage durch die radioaktiver Verseuchungen - oder auch
nur entsprechende Gerüchte, die dafür ausreichen könnten -
zerstört zu werden drohte.
Allein in Bure, einer kleinen Kommune in Ostfrankreich in rund
130 Kilometern Entfernung von der deutschen Grenze, konnten die
Forschungen vorankommen. Hier wurde in eine Ton-Lehm-Mischung in
500 Metern Tiefe gebohrt. Aber reale Forschungen wurden laut
Auffassung von Kritikern kaum vorgenommen. Vielmehr war der
politischen Führung daran gelegen, die Arbeiten bis zum
gesetzlich vorgegebenen Stichdatum im Jahr 2006 - angeblich
„erfolgreich“ - zum Abschluss zu bringen, um der französischen
Atomindustrie nicht ihre Legitimation durch einen
„Entsorgungsnachweis“ zu entziehen. Erst kurz vor dem Stichdatum
wurde überhaupt die notwendige Bohrtiefe erreicht. Viele Fragen
sind noch ungelöst, etwa die Auswirkungen der Temperaturen - die
eingelagerten Abfälle sollen rund 100° heiß sein - auf die
umliegenden Gesteinsstrukturen.
Vor
drei Jahren wurde das vorgesehen Gesetz zur weiteren Regelung
der Endlagerfrage verabschiedet. Bis im Jahr 2015 soll nun
endgültig der Standort für das Endlager festgelegt werden, das
zehn Jahre später eröffnet werden soll. Real in Frage kommen
dürfte im Augenblick nur Bure. Allerdings nicht aus wirklichen
wissenschaftlichen Erwägungen, sondern aus politischen Gründen:
Das fragliche Gebiet, an der Grenze zwischen den Regionen
Lothringen und Champagne gelegen, ist eine relativ dünn
besiedelte ländliche Zone. Ihre Kommunen sind arm, weshalb die
Millionenspritzen der für die Endlagerforschung zuständigen
Agentur ANDRA den Bürgermeistern willkommen sind. Aufgrund der
geringen Bevölkerungsdichte wird mit geringen Widerständen
gerechnet.
Auch
Deutschland ist, über die EURATOM-Strukturen, finanziell an der
Endlagerforschung in Bure beteiligt. Bislang zahlte der deutsche
Staat seit dem Jahr 2000 rund 1,7 Millionen dafür. In den
kommenden Jahren ist eine weitere Million Euro eingeplant.
Editorische
Anmerkungen
Den Artikel erhielten wir
vom Autor für diese Ausgabe.
Eine Kurzfassung erschien
am vergangenen Donnerstag in der Berliner Wochenzeitung ‚Jungle
World’.