Historisches Material zum Thema "Schülerknast"

„Gemeinschaftsfremde“
Ein Blick in die Arbeit der deutschen Polizei während des Faschismus


von Patrick Wagner

03/09

trend
onlinezeitung

"Den Eltern der Jugendlichen müssen die Behörden mehr als bisher deutlich machen, dass das Heraushalten der Kinder aus der hiesigen Gesellschaft, das sich dann zeigt, wenn die Eltern trotz entsprechender Hilfe durch das Jugendamt nicht an der Gewährleistung des Schulbesuches ihrer Kinder mitwirken, eine Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht darstellen kann. Dabei handelt es sich um einen Straftatbestand." (Kirsten Heisig, zuständige Jugendrichterin für Neukölln)

Das EJF-Lazaruswerk will nach den Osterferien in Neukölln ein Internat für arabischstämmige Jugendliche mit Schulproblemen eröffnen. (taz 11.2.09)

In der zentralen Schülerdatei sollen persönliche Daten von Schülern erfasst werden, um den Lehrerbedarf exakter ermitteln zu können. So steht den Schulen mehr Personal zu, wenn sie viele Jungen und Mädchen aus Zuwanderer- oder sozial bedürftigen Familien haben. Außerdem strebt die Koalition an, dass die Polizei anhand der Datei Schulschwänzer besser feststellen kann. (Berliner Zeitung vom 18.02.09)

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Eine konsequent am kriminalbiologischen Paradigma ausgerichtete Kriminalprävention mußte, so Ritter 1942, gerade bei den Jugendlichen ansetzen: «Das Werden und Wachsen von Verbrechern und Verbrecherstämmlingen läßt sich (...) von der Wurzel her (...) auf erbpflegerischem Wege verhindern. In der rassen­hygienischen Verbrechensbekämpfung liegt die große Zukunftsaufgabe der Kriminalbiologie». Ritter suchte nach Methoden, mittels derer man schon bei der ersten Straffälligkeit eines Menschen mit wissenschaftlicher Präzision würde vorhersagen können, ob es sich um einen «Verbrecher aus Anlage» handele, den die Kripo folglich auf Dauer inhaftieren müsse oder um einen in einer Konfliktsituation «entgleisten Menschen» mit sozial angepaßtem Erbgut, der zu resozialisieren sei. Visionär schwärmte Ritter von einem lückenlosen kriminalbiologischen Datenver­bund, durch den es möglich werden sollte, «den Stellen, denen die vorbeugende Verbrechensbekämpfung obliegt, jederzeit zu mel­den, wann und wo Menschen heranwachsen, die (...) einer Sondererziehung (...) oder gar einer (...) geschlossenen Bewahrung bedürfen».(174) 

Das Kriminalbiologische Institut konzentrierte sich bis 1945 einerseits auf die rassistische Klassifikation von Roma und Sinti, die die Grundlage für deren Deportation in die Konzentrations­lager bildete und andererseits auf diagnostische Experimente an von der Kripo internierten Jugendlichen. Im August 1940 hatte das Reichskriminalpolizeiamt in Moringen bei Hannover ein ihm direkt unterstelltes «Jugendschutzlager» gegründet, in das männ­liche Jugendliche deportiert wurden, die die Kripo für gefährlich hielt. Den Hintergrund bildete die Erwartung des RKPA, die Jugendkriminalität werde analog zum Ersten auch im Zweiten Weltkrieg stark zunehmen. 1941 folgte ein Lager für polnische Ju­gendliche in Lodz und 1942 ein Lager für weibliche deutsche Ju­gendliche in Uckermark - in direkter Nachbarschaft des Frauen-KZ Ravensbrück. Das Konzept der Jugendschutzlager stammte von Paul Werner, der hier «Sprößlinge nicht voll gesunder Sip­pen» und «erblich belastete junge Menschen» interniert sehen wollte, da sie den «Verbrechernachwuchs» stellten.(175) 

Das Kriminalbiologische Institut nutzte die Jugendschutzlager als «Fundgrube» für seine Arbeit an einem Diagnosemodell, um erb- von umweltbedingter Devianz unterscheiden zu können. Zu diesem Zweck wurde das Verhalten der Jugendlichen im Lager von den Kriminalbiologen stetig überwacht; zugleich sammel­ten die Kriminalpolizeien ihrer Heimatorte Daten über das So­zialverhalten der Familienangehörigen. In Einzelfällen konnten die Untersuchungen für das Umfeld der inhaftierten Jugendlichen katastrophale Folgen haben, da sie der Kripo nebenbei Material lieferten, um sich «über die Lagerzöglinge hinaus mit deren Sip­pengenossen zu befassen» - im Klartext: um als genetisch min­derwertig definierte Familienangehörige ebenfalls in Vorbeu­gungshaft zu nehmen.(176)

Zur Realisierung der umfassenden kriminalpräventiven Kampagne gegen alle Gemeinschaftsfremden ist es jedoch nicht mehr gekommen. Am 31. März 1943 wies das Reichskriminalpolizeiamt die Kripostellen sogar an, die bisher obligatorische Einreichung eines «erb- und lebensgeschichtlichen Fragebogens» für jeden neuen Vorbeugungshäftling aus Gründen der kriegsnotwendigen Rationalisierung auf Einzelfälle zu beschränken. Bereits ein Jahr zuvor hatte sich die Lage für die Kripo entscheidend verän­dert. Der Zusammenbruch des Blitzkrieges vor Moskau und der Kriegseintritt der USA rückten das schon nahe geglaubte siegrei­che Kriegsende in weite Ferne; die Absicherung der Heimatfront während eines lang andauernden Krieges trat in den Vordergrund der Planungen des Reichskriminalpolizeiamtes. Zudem wurde nun unverkennbar, daß das NS-Regime mit dem Zweiten Welt­krieg innerhalb Deutschlands einen Prozeß gesellschaftlicher Desintegration in Gang gebracht hatte. Kriminalität wurde infol­gedessen wieder zum Massenphänomen, die Fähigkeit der Kripo zu effektiver Kontrolle devianter Milieus nahm rapide ab. (177)

Fußnoten

174) Ritter, Institut, S. 117, derselbe, Artung, 8.33, derselbe, Aufgaben, S. 38 und 41.

175) Werner, Aufgaben, S. 11, derselbe, Einsatz, S. 13. Vgl. Peukert, Gren­zen, S. 288-291, Muth, «Jugendschutzlager», Guhse/Kohrs/Vahsen, Jugendschutzlager, Hepp, Vorhof und derselbe, Hölle.

176) BAB, R 22/1191, fol. 584 (Bericht des Essener Landgerichtsprä­sidenten vom 31.7.1944) und BAB, R 22/1306, Bl. u (Bericht des Oberregierungsrates Schmidhäuser vorn 31.7.1943).

177) Vgl. BAB, RD 19/28-15, fol. 336 (Rundschreiben des RKPA vom 31.3.1943).

Editorische Anmerkungen

Text
aus: Patrick Wagner, Hitlers Kriminalisten, Die deutsche Kriminalpolizei und der Nationalsozialismus zwischen 1920 und 1960, München 2002, S.110ff - ocr-scan by red. trend