Arbeiter und 1968 in Europa
Ein Überblick


von
Gerd-Rainer Horn

03/08

trend
onlinezeitung

"Arbeiter" sowie das Jahr "1968" werden in deutschsprachigen sozialwissenschaftlichen Veröffentlichungen nur selten gleichzeitig erwähnt. Und falls dies geschieht, dann zumeist nur im Zusammenhang mit dem oft konflikthaften Aufprall zweierlei Welten, die sehr wenig miteinander gemeinsam hatten. Mit einer gewissen Regelmäßigkeit wird natürlich auf das französische Beispiel verwiesen, wo in der Tat das Kalenderjahr 1968 ohne den Blick auf Arbeitermobilisierungen unmöglich zu verstehen ist. Doch gilt der französische Generalstreik ab Mitte Mai 1968 nur allzu oft als die sprichwörtliche Ausnahme, die die Regel, also die Abwesenheit von Arbeitern an zentraler Stelle innerhalb jener Konflikte bestätigen soll, die mit der Chiffre "1968" in Verbindung gebracht werden.

Sicherlich war die bundesdeutsche Arbeiterschaft nicht in der vordersten Front der Auseinandersetzungen Ende der 60er Jahre anzutreffen, doch welche Bedeutung Arbeiteraktivitäten für die damaligen Konflikte hatten, ist noch kaum untersucht. Nicht nur wenn man nach Westen und insbesondere gen Süden schaut, sondern auch den Blick nach Osten wendet, dürfte es bestenfalls mit großer Mühe gelingen, eine Aufarbeitung der sozialen, politischen und kulturellen Auseinandersetzungen jener Jahre vorzunehmen, die maßgebliche Veränderungen innerhalb der Arbeiterklasse außen vor lässt.
Die Wirklichkeit der Darstellung der 68er-Konflikte innerhalb der Forschung sieht in der deutschsprachigen Literatur, wie gesagt, leider anders aus. In diesem Zusammenhang muss die Aufmerksamkeit auf ein weiteres Manko der Literatur zu "1968" gelenkt werden. Aus vielerlei Gründen sind bundesdeutsche Sozialwissenschaftler oft am engsten mit englischsprachiger Literatur vertraut. Letztere ist allerdings nur allzu häufig mit dem gleichen Mangel wie die deutschsprachige Forschung zu diesem Thema behaftet, d.h. mit einer einseitigen Ausrichtung auf studentische Mittelschichten als Hauptakteure des "Aufbruchs von 1968".

Dies kann gleichermaßen an der artverwandten Literatur zur Neuen Linken festgemacht werden, die sich in den allermeisten Fällen ebenfalls nur auf die nichtromanischsprachigen Länder Westeuropas und auf Nordamerika konzentriert und fast ausnahmslos Repräsentanten der Mittelschichten als zentrale Figuren auftreten lässt.
Dass auch der europäische Mittelmeerraum eine Neue Linke besaß, die nicht nur mit den Traditionen der alten Linken brach, sondern gleichzeitig neue organisatorische Zusammenhänge aufbaute, die die Mitgliederzahlen etwa des bundesdeutschen oder des amerikanischen SDS um ein Vielfaches übertrafen, wird oft mit keinem Wort erwähnt. Der Rückhalt, über den die spanische, italienische und französische Neue Linke in Arbeiterschichten verfügen konnte, bleibt angelsächsischen und bundesdeutschen "Experten" fast völlig unbekannt oder wird bestenfalls am Rande vermerkt.

Spanien macht den Anfang

Wie bereits erwähnt, nimmt in der relevanten Literatur zu 1968 der französische Generalstreik von Mitte Mai bis Anfang Juni 1968 eine Sonderstellung ein. In der zeitgenössischen französischen Literatur wurde daher schon sehr früh aus naheliegenden Gründen die zentrale Rolle von Arbeitern sowie von Gewerkschaften in den Wochen des Pariser Mai unterstrichen. Das wachsende Vertrauen in die eigene Kraft und der rasch zunehmende Glauben, dass gesellschaftliche Verhältnisse auch für die Arbeiterschaft radikal und positiv verändert werden können, wurden schnell zu Markenzeichen des französischen Mai. Nicht nur Studenten benutzten ihre selbst erkämpften Freiräume, wie z.B. quasipermanente Vollversammlungen, um ihren Vorstellungen einer antihierarchischen und antiautoritären Zukunft konkrete Gestaltung zu geben.

In den dutzend Jahren vor 1968 durchlief die spanische Linke ähnliche Entwicklungsphasen wie die Linke anderer Länder Westeuropas, wenn auch unter den besonders brisanten Bedingungen der Existenz im Untergrund und im Exil. Wie auch anderswo entstand 1956 eine Neue Linke in Spanien, die alsbald als Frente de Liberación Popular Furore machte, und im Verlauf der 60er Jahre wuchs studentischer Protest zu einer offenen Herausforderung für den Frankismus heran. Es besteht also kein Grund, Spanien nicht zu den Ländern zu zählen, die der transnationalen Bewegung zugerechnet werden können. Abgesehen von den prekären Existenzbedingungen spanischer Oppositionsbewegungen war eine weitere Besonderheit der spanischen Untergrundbewegung das frühe Erstarken der ebenfalls illegal tätigen spanischen Arbeiterbewegung.

Wenn man also Spanien in die Analyse der Welle von Arbeiterkämpfen dieser Zeit aufnimmt, dann muss der Beginn des europäischen proletarischen Mai bereits auf den April 1962 zurückdatiert werden. Im April und dann vor allem im Mai 1962 brachen Streiks in den Bergwerken dieser Region aus, die bald auf die asturische Metallindustrie überschwappten und zu Solidaritätsaktionen in anderen Regionen Spaniens führten. Obwohl es schon vorher zur Bildung der ersten so genannten Arbeiterkommissionen kam, wurden diese räteähnlichen Organisationen des antifrankistischen Untergrunds erst in der Folge der asturischen Streikwelle vom Frühjahr 1962 relativ verbreitete Strukturen des Arbeiterwiderstandes in ganz Spanien.

Das Hauptargument für die Nominierung des Jahres 1976 als des zeitlichen Endpunkts der Welle sozialer Bewegungen in Westeuropa führt uns in das Land, das die unbestrittene Vorreiterrolle in den Arbeiterkämpfen der Jahre um 1968 einnahm. Obwohl als Einzelereignis zweifellos der französische Mai (und Juni!) 1968 zum absoluten Höhepunkt wurde, war die 1968 erst anlaufende Arbeitermobilisierung in Italien nachhaltiger und von letztendlich größerer Tiefe, Breitenwirkung und Dauer als in allen anderen Ländern Europas...

Italien bildet den Schluss

Die Errungenschaften nicht nur materieller Art waren dem Ausmaß der Arbeitermobilisierungen entsprechend umfangreich. Erst im Jahre 1976 hörte man auf gewerkschaftlicher Seite in Italien Töne einer gewissen Kompromiss- und sogar Konzessionsbereitschaft. Es war das Ende der langen Welle der Errungenschaften nicht nur der italienischen Arbeiterbewegung.

Eine der Institutionen dieser Zeit, die eigentlich als halbspontane Aktionsform das Licht der Welt erblickte, waren die sog. Arbeiterkommissionen oder Basiskomitees, die vor allem in Italien, Spanien und Portugal, aber auch in Belgien die Verhältnisse auf der Betriebsebene "zum Tanzen brachten". Es handelte sich um Formen der Interessenvertretung, in denen die gesamte Belegschaft eines Betriebes, oft in Vollversammlungen, erst einmal die wichtigsen Fragen erörterte, und dann zur Wahl von Delegierten schritt, die letztendlich die Forderungen einzulösen versuchten, oft mit tatkräftiger Unterstützung durch aktive Streiks. Und sehr wichtig war hierbei, dass zum Mitglied einer Arbeiterkommission oder eines Basiskomitees jede und jeder werden konnte, egal ob er oder sie in einer Gewerkschaft organisiert war oder welcher Gewerkschaft man angehörte.

Auseinandersetzungen mittels Arbeiterkommissionen fand sicherlich 1974/75 in Portugal ihren Höhepunkt. Auch die Fabrikräte in der Tschechoslowakei während der zweiten Hälfte des Jahres 1968 und zu Beginn des Jahres 1969, darauf kann hier nur kurz verwiesen werden, waren artverwandte Institutionen. Ein Vorspiel der Arbeiterselbstverwaltung fand bereits 1973 und Anfang 1974 im französischen Besançon statt, wo die Übernahme der Uhrenfabrik LIP in Arbeiterhand ein weit über Frankreich hinausgehendes Echo der Solidarität hervorrief, ebenso diverse Nachahmungsversuche in Frankreich selbst wie in benachbarten Ländern. In Frankreich wurden solche Versuche oft als "die Kinder von LIP" bezeichnet.

Doch mit dem Ausbruch der portugiesischen Revolution verlagerte sich der Fokus internationaler Bemühungen um Solidarität auf das Land am Südwestrand Europas. Nicht nur einige wenige, sondern Hunderte von Fabriken Portugals begannen alsbald unter Arbeiterkontrolle die Produktion aufrechtzuerhalten. Am ausgeprägtesten und nachhaltigsten verlief dieser Prozess der Kollektivierung allerdings in den ländlichen Gebieten dieses unterentwickelt gehaltenen Landes.

Um zu resümieren: Der Mai der Arbeiter brachte einschneidende Verbesserungen materieller Art, aber auch eminent wichtige Veränderungen im Selbstbewusstsein einer sozialen Klasse, die, nach Ansicht vieler Sozialwissenschaftler, kurz zuvor noch vom Aussterben bedroht zu sein schien. Ich gehe sogar soweit zu behaupten, dass die psychologische Erfahrung der Befreiung die allerwichtigste Errungenschaft der Jahre um 1968 war, und dass die materiellen Verbesserungen in mancher Hinsicht eine fast unvermeidbare Konsequenz dieser Revolution in den Köpfen war. Diese Jahre waren einer jener seltenen Umbruchsmomente, in denen, ähnlich wie 1944—45, 1934—36 oder 1917—20, es auf einmal denkbar wurde, dass die soziale Unordnung dieser Welt nicht unveränderbar oder gottgegeben ist.

Editorische Anmerkungen
Wir spiegelten den Text von http://www.vsp-vernetzt.de/soz-0802/080219.php