Kommunismus: mehr als eine hohle Phrase
Ein Bericht über die Berliner Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft

von KARL RAUSCHENBACH und KRISTIAN MAJAKOWSKI

03/08

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Eines der kleinen kommunistischen Kollektive, die um eine avancierte theoretische Positionierung bemüht sind und von denen Agnoli einmal behauptete, sie seien wahrscheinlich die sinnvollste Organisationsform in unrevolutionären Zeiten,(1) sind die Berliner Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft. Sie haben sich 2003 gegründet und entfalten seither einige Aktivität. Jüngst haben sie die erste Ausgabe ihrer Zeitung Kosmoprolet(2) herausgegeben, was hier zum Anlass genommen werden soll, diesen Zirkel einmal einem kleinen Publikum vorzustellen.


Kommunistische Debatte

Es scheint, als entstehe hier etwas Neues: Die Freundinnen der klassenlosen Gesellschaft operieren jenseits der in der deutschen Linken vorherrschenden Auseinandersetzung zwischen Antideutschtum und Antiimperialismus und sind als Reaktion auf antideutsche Sackgassen zu begreifen, die in der Entstehung der Rechtsantideutschen, wie etwa den Freunden der offenen Gesellschaft, offensichtlich werden. Die Freundinnen der klassenlosen Gesellschaft haben in der Pilotausgabe des Kosmoproleten unter anderem 28 Thesen gegen den Spätkapitalismus veröffentlicht, die in etwa das Gruppenbewusstsein wie die internen Konflikte zum Ausdruck bringen. Die Konflikte werden dabei in den Thesen durch einen sehr diskursiven Stil ausgetragen und in einer ersten Synthese vereinigt, welche sich um die Glättung der unterschiedlichen Einseitigkeiten bemüht.

I.

In ihrer Anfangszeit hat die Gruppe hauptsächlich einige Flugschriften unter das oft linke Volk gebracht. Diese zeichnen sich durch vollständigen Verzicht auf einen praktisch-organisatorischen Gegenvorschlag aus. Sie stellen keine Werbung für die eigene Gruppe noch für sonst einen bestehenden Verein dar, sondern erinnern schlicht an die Notwendigkeit einer Kritik sowohl der Lohnarbeit wie des Staates. Folgerichtig bekämpfen diese Schriften den Reformismus in all seinen Spielarten: der Wahlverwandtschaft der gegenwärtigen konfusen Sozialdemokratie mit dem starken Mann Venezuelas, der Neigung der Bürger zu wählen, dem Abhalten diverser Loveparades für den untergehenden Sozialstaat. Sie kritisieren die Hilflosigkeit der Montagsdemonstrationen wie die der Studentenumtriebe und widersprechen dem von Italien ausgehenden revisionistischen Geist, der sich in der begeisterten Aufnahme von Negris und Hardts Empire verdichtet. Alle Flugschriften waren Gelegenheitsarbeiten. Sie wurden für den unmittelbaren Zweck konzipiert, welcher darin besteht, einige Basisbanalitäten auszusprechen und frühzeitig schon einmal Freund und Feind der propagierten Umwälzung auseinander zu sortieren. Hier aber zeigt sich bereits die dann in ihren Thesen ausgeführte Voraussetzung, von der diese Gruppe ausgeht: Das vorläufige Resultat der Geschichte des Kapitals in seinen fortgeschrittenen Zonen stellt sich als klassenlose Klassengesellschaft dar, in der das alte Arbeitermilieu in einer verallgemeinerten Lohnarbeit aufgelöst ist: überall proletarisierte Individuen, nirgends das Proletariat. Die alte proletarische Bewegung ist restlos in der herrschenden Ordnung aufgegangen und eine neue noch nicht in Sicht.(3) Es gibt keine kommunistische Bewegung, und folgerichtig sprangen die Freundinnen der klassenlosen Gesellschaft zu keinem Zeitpunkt auf einen der scheinbar fahrenden Züge der Bewegungslinken auf, die sich in der Hauptsache dieser Voraussetzung nicht stellen wollen. Für die versprengten Unzufriedenen, die sich in tristen Zeiten in kommunistischen Zirkeln zusammenfinden und gelegentlich lange Thesen verfassen, bedeutet dies, daß sie es ablehnen, zu taktieren, um ihre ›Glaubwürdigkeit‹ zu buhlen und sich bei irgendwem mittels ›realistischer‹ Programme anzubiedern. ›Die Anbiederung ans falsche Bewußtsein hat dieses noch nie verändert‹.

II.

Kleine Gruppen, die sich dem linken Konformismus und der vollständigen Integration des Volkes widersetzen, gab es in Deutschland schon länger. Im Zuge von Marx-, Adorno- und Pohrt-Exegese haben diese gerade das antideutsche Spektrum bis 9/11 geprägt. Im Unterschied zu diesen versuchen die Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft aber über deren negative Fixierung auf die alte Welt hinauszukommen. Einerseits scheuen sie nicht davor zurück, wieder mit den ArbeiterInnen selbst in Kontakt zu treten, was einen entscheidenden Bruch mit den klassischen Adorno-Linksradikalen markiert. – Schon früh kooperierten sie mit Angestellten im Berliner Krankenhauskonzern Vivantes, verteilten sie Flugschriften auf der offiziellen Gewerkschaftsparade zum 1. Mai und griffen sie in den Streik der BSH-Werke ein. Zu letzterem Streik gibt es eine Analyse, in der ausgesprochen wird, dass es ohne Ausweitung und Verbindung der je isolierten und den Gewerkschaften hörigen Streiks keine Perspektive geben wird – nicht einmal eine reformistische.(4)
Andererseits erinnern sie an die ersten Ansätze einer neuen Bewegung der ProduzentInnen in der jüngeren Vergangenheit. Es gab schon in der alten Arbeiterbewegung DissidentInnen und abweichende Gruppen. Man findet daher u.a. Bezüge auf die amerikanische Gewerkschaftsbewegung, die KAPD und die verstreuten RätekommunistInnen der 1920er Jahre, etwa der Gruppe Internationaler Kommunisten aus Holland. Die Welt und ihre kommunistische Kritik blieben nach dem Zweiten Weltkrieg nicht stehen. Sowohl im französischen Generalstreik 1968, wie im italienischen Aufstand 1968/69–77 sehen die Freundinnen der klassenlosen Gesellschaft neue Elemente aufblitzen. Der Keim der neuerlichen Negation kann daher hier einen wesentlichen Bezug finden. Die Freundinnen der klassenlosen Gesellschaft geben die bessere Hälfte der Texte der Situationistischen Internationale heraus, um diese fortgeschrittene Gruppe des Pariser Mai stärker in die Diskussion zu bringen. Andererseits gibt es eine Bezugnahme auf den italienischen Operaismus, mit dem in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts zum ersten Mal in Europa nach dem großen Hitlerkrieg eine kontinuierliche Kampfbewegung der ProduzentInnen und Randständigen auftauchte, die mit der Sozialdemokratie und den integrierten Gewerkschaften effektiv brach und es dafür sofort mit dem Staat zu tun bekam.
Die Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft haben sich also zunächst von den Linken losgelöst, dann einen ersten schüchternen Kontakt zu den ArbeiterInnen aufgenommen und einige Schriften der jüngeren revolutionären Bewegung verbreitet. Schließlich haben sie ihre Ziele und Voraussetzungen in einer wahrscheinlich unregelmäßig erscheinenden Zeitschrift herausgebracht. Diese verhältnismäßige Effektivität ihrer Aktion haben sie einer Organisationsweise zu verdanken, die an die Bemühungen der autonomen Bewegung Mitte der neunziger Jahre erinnert. (Allerdings verzichten sie vollständig auf den Pop und synthetisieren sich stattdessen durch substantielle theoretische Gemeinsamkeiten, die es bei allen Unterschieden natürlich gibt: Frage des Staates, der Lohnarbeit etc.) Es handelt sich hier um eine undogmatische Sammlungsbewegung über die Gräben der alten Arbeiterbewegung und Linksradikalen hinweg, mit dem Ziel, eine revolutionäre Praxis zu entfalten, aber ohne Parteigründungsambitionen. Diese Erscheinung ist noch auf Berlin beschränkt. Im Editorial des Kosmoproleten wird aber eine Kontaktaufnahme mit FrankfurterInnen, FreiburgerInnen und SchweizerInnen angedeutet, so dass durchaus noch etwas mehr Staub aufgewirbelt werden könnte.

III.

Die Schwierigkeit besteht dabei in einem Spagat zwischen der unbedingten Anerkennung der Niederlage des ersten Ansturms des Proletariats im Nationalsozialismus (1830–1939) und dem Willen, nicht den Kopf hängen zu lassen (triste Zeiten, über den Globus verstreute Kommunistinnen etc.), sondern lieber seinen Teil zu tun für die Erfindung der Zukunft. In den Begrifflichkeiten der jüngsten Geschichte ausgedrückt, ist das der Widerspruch zwischen einer sich zunehmend der deutschen Volksgemeinschaft andienenden Bewegungslinken und der adornitisch-antideutschen Fundamentalopposition, die allerdings häufig in die Hypostasierung ihrer eigenen Ohnmacht verfällt. Die Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft beziehen daher eine doppelte Stellung einerseits gegen unmittelbare Praxis, also die Illusion, es gäbe bereits irgendwelche Bewegungen, die offen für revolutionäres Gedankengut wären und andererseits gegen die deutsch-romantische Neigung, sich im Angesicht der geschlossenen Totalität in Untergangsstimmung zu versetzen und in selbst gebastelter Theorie einzurichten. Derlei polare Gegensätze und ihre Auflösung machen die Schwierigkeit aus. Es ist immer besser, von den Trennungen auszugehen, um sie dann zu vereinen zu suchen. Gegenwärtig spalten sich die Linken in einen praktischen und einen theoretischen Flügel auf, so daß Kopf und Hand getrennt erscheinen: Theorie und Praxis schließen sich heute in erstarrter Opposition gegenseitig aus. Auf der einen Seite der blinde Aktivismus, der immer nur sich selbst und nie die Gesellschaft in Bewegung bringt, auf der anderen Seite ein trockener Akademismus: Man lese nur die Druckerzeugnisse der studentischen Linken, wohne ihren gespenstigen Vortragsversammlungen bei und man versteht auf der Stelle woher die Feindschaft gegen Theorie ihre Nahrung bezieht. Solche Widersprüche durchziehen die Thesen – nur den zwischen Mann und Frau bzw. Vernunft und Sinnlichkeit wollen sie nicht sehen. Ebenso prägt der Versuch einer Vereinigung dieser Widersprüche den Stil. In diesem Fall ist die Auflösung einfach die, dass gesagt wird, man solle denkend handeln und handelnd denken: Wer nicht begreift, kann nicht wirklich handeln, und wer nicht handeln will, wird auch nicht begreifen.
Es ist unmöglich, den Text vollständig zu referieren, man liest ihn daher besser selbst. Um aber noch ein Beispiel der Argumentationsweise der Thesen zu geben, soll die Schwierigkeit der Avantgarde erwähnt werden, die als zentrale Frage der künftigen Entwicklung in der 25. These ausführlich behandelt wird. Zunächst eine Kritik an Lenin und seiner Organisation: Die Trennung des Bewusstseins der Arbeiter von ihren unmittelbaren Begebenheiten und Kämpfen im Betrieb, sprich der Trennung in unbewussten Arbeiter und bewusste Partei, führe nur zu einer neuen Schreckensherrschaft. Auf solche Weise bekomme man das Kommando des Managements nicht los und reproduziere die Passivität.(5) Stattdessen wird pathetisch verkündigt, dass die Produzenten sich nur selbst befreien können (These). Nun gäbe es aber auch eine Tendenz zur Anbetung der Spontaneität bei den gegenwärtig lebenden revolutionären Einzelnen, die so ihre eigene Ohnmacht nur verdoppeln würden. Diese Richtung wird als arbeitertümelnd verworfen (Antithese). Dagegen wird wieder das Moment des Voluntarismus aus der zunächst verworfenen These destilliert und den Bolschewiki attestiert, bei aller Kritik doch immerhin geradlinig auf die Revolution hingearbeitet zu haben, ohne Rücksicht auf das Bewusstsein der Arbeiterklasse. Es ist klar, dass zunächst kleinere Gruppen die Verhältnisse überdenken und die Masse noch im Trott der Zeit sich befindet. Zunächst existiert also die faktische Trennung einer sich bildenden Avantgarde von der Bevölkerung. Statt aber in dieser Avantgarde eine künftige Elite zu sehen, soll sie erstens begreifen, dass sie die Weisheit selbst nicht gerade mit Löffeln gefressen hat, sprich von den Arbeitern mindestens so viel zu lernen hat wie umgekehrt, und zweitens daran arbeiten, jederzeit in der allgemeinen Bewegung der weltweiten Aneignung und Revolutionierung der Produktion aufgehen zu können (Synthese). Wie und ob dieser hehre Anspruch aber umzusetzen ist, bleibt, so ist hier anzumerken, ein ungelöster und nur praktisch zu überwindender Widerspruch. Denn dass einmal kommunistische Philosophiedoktorantin und Herta BSC-Fußballproll in einer revolutionären Bewegung zusammen kommen, ist bis dato kaum vorstellbar.

IV.

Der kritische Materialismus kennt keine fix und fertigen Wahrheiten, die nur noch unters Volk gebracht werden müssten. Diese Warnung ist wohl zu beherzigen. So sehr sich die AkademikerInnen unter den KommunistInnen auch aufblähen mögen, zuerst müssen sie sich selbst revolutionieren. Auch die Freundinnen der klassenlosen Gesellschaft befinden sich in ihrer politischen Aktion – aber wahrscheinlich auch durch ihre individuellen Lebensumstände bedingt – weitgehend exterritorial zur arbeitenden Bevölkerung. In gewisser Hinsicht haben sie aus der Not eine Tugend gemacht und schauen sich das integrierte Proletariat an solchen Stellen an, wo die Integration kleine Risse bekommt. Die an die Arbeiter gerichteten Flugschriften sind daher oft zurückhaltend, wenn sie auch der Ausweitung und Kollektivierung des Kampfes tapfer das Wort reden. Es fällt aber auf, dass hier grundsätzlich in bestehende Kämpfe von außen interveniert wird. Wenn auch in der Theorie gefordert wird, diese exterritoriale Stellung aufzugeben, so geht es in der Sache gar nicht anders, als für die Jetztzeit anzuerkennen: Solange ein Mensch Kommunist ist, arbeitet er nicht und sobald er arbeitet, ist er kein Kommunist mehr. Dies ist einerseits so zu begreifen, dass in Deutschland nach Beendigung der Ausbildung oft die politische Tätigkeit aufhört oder endgültig zum Vereinswesen mutiert und andererseits so, dass diese Spaltung quer durch die Individuen sich zieht, welche beschließen, eine Produktionsweise bereits in Gedanken abzulehnen, der sie sich in der Praxis doch zunächst unterwerfen müssen. Gegenwärtig muss man sich dieses Dilemma klar vor Augen führen, da es kein unmittelbares Heraus gibt. Andererseits hängt aber die Zukunft davon ab, wie gerade die selbsternannten Weltverbesserer in der Welt zurechtkommen, wenn die Lehrjahre vorüber sind. Auf Seite des Einzelnen geht es darum, wie die Arbeitslosigkeit und die chronische Überarbeitung ausgehalten werden. Langfristig muss es für Einige möglich werden, durch einen Halbtagsjob zu überleben. Objektiv ist die Situation noch komplizierter. In den meisten Betrieben gibt es keinen noch so kleinen Betriebskonflikt – außer einen sehr unterschwelligen, der sich u. a. gegen ArbeiterInnen richtet, die zu langsam oder zu wenig arbeiten. Viele der heutigen deutschen KommunistInnen kommen gar nicht in Betriebe, sondern in Schulen oder sozialpädagogische und psychologische Einrichtungen. Auf die Frage, wie man mit dem jeweiligen Kollegium umgehen kann, um eventuell sogar einige Bündnisse gegen bestimmte Zumutungen herzustellen, kann man weder den Thesen noch sonstigen Schriften der Klassenlosen Freunde etwas entnehmen, und so hören sie dort auf wo es spannend wird. Es bleibt vornehmlich die abstrakte Einforderung weltweiter Solidarität.

V.

Also abschließend noch ein vielleicht pedantischer Korrekturvorschlag in der Einschätzung der jüngeren revolutionären Bewegung. Den Beginn einer neuen Epoche – so sie denn anbrechen sollte – sehen die Freundinnen der Klassenlosen Gesellschaft im Generalstreik der Französinnen und Franzosen 1968 und in der sich hinziehenden apolitischen Verweigerung der jungen italienischen ArbeiterInnen im schleichenden Mai von 1969 bis 1977. Die Frage ist nun, wie man diese beiden Phänomene einschätzt. Sie zitieren hierzu Henk Canne Meijer, der schon einige Jahre vor 1968 diese Bewegung gedanklich vorweggenommen hätte: Solange die Massenbewegungen noch klein sind und noch an der Oberfläche bleiben, solange tritt die Tendenz nach der Beherrschung aller gesellschaftlichen Kräfte nicht so deutlich in Erscheinung. Aber werden diese Bewegungen größer, dann werden auch stets neue Funktionen in den Bereich der kämpfenden Masse gezogen, ihr Wirkungsbereich dehnt sich aus. Und dieser kämpfenden Masse vollziehen sich dann vollkommen neue Beziehungen zwischen den Menschen und dem Produktionsprozess. Es entwickelt sich eine neue ›Ordnung‹. Das sind die wesentlichen Kennzeichen der selbstständigen Klassenbewegungen, und sie sind auch der Schrecken der Bourgeoisie. Dies nun sei – so die Thesen – gewissermaßen das Drehbuch zum Pariser Mai.
Meijer beschreibt hier, wie sich durch innerhalb der Produktionsstätten sich vollziehende, längere Auseinandersetzungen tatsächlich eine zunehmende Kontrolle und Revolutionierung des gesellschaftlichen Stoffwechselprozesses herausbildet. In seiner Vision wird die neue Gesellschaft durch eine Reihe von Aufständen geboren, die jeweils schon ein anderes Verhältnis zur eigenen Arbeit zum Inhalt haben. Der französische Generalstreik ist das genaue Gegenteil dieses Prozesses. In Frankreich gab es keine revolutionäre Bewegung, und plötzlich hat sich die Revolution rasselnd in die Höhe erhoben. Ebenso schnell ist sie auch wieder verschwunden. Ihr Inhalt war nicht die Umformung des Arbeitsprozesses, sondern dessen Stilllegung. Die Benutzung der Maschinerie zu eigenen Zwecken wurde selten auch nur propagiert. Ähnlich die italienische Bewegung der siebziger Jahre. Diese zog sich zwar deutlich länger hin, so dass der Form nach hier eher Meijer das Drehbuch geschrieben haben könnte – zumal der Begriff der Gegenmacht höchst virulent wurde – es fehlt aber wieder weitgehend der Inhalt. In der Praxis überwog nämlich bei den jungen ArbeiterInnen und Randständigen die Verweigerungshaltung: Hier wollte eine signifikante Gruppe der Bevölkerung sich wirklich nicht für Lohn verdingen. Als dann aber die Roboter erstmalig die Fließbandarbeit ablösten, verschwand die revolutionäre Bewegung wieder – obwohl ihr Kampf gegen die Arbeit durch solche neuen elektrisch gesteuerten Maschinen sicher unterstützt hätte werden können. Die Italiener gerieten wieder in den Sog des Revisionismus (tutte bianche, centri sociali etc.).(6)
Die von Meijer skizzierte Bewegung unterscheidet sich also wesentlich von den dann in Frankreich und Italien tatsächlich ausgebrochenen Kämpfen: bei Meijer die sukzessive Eroberung der Macht und das praktische Herausbilden neuer Beziehungen, in Italien/Frankreich eine vollständige Verweigerung der bestehenden Macht, ohne sich um die Zukunft groß zu kümmern. Was hat dies aber alles zu bedeuten? Sortieren wir die hier geäußerten Gedanken sowie die der Freundinnen noch einmal. Wir leben in einer klassenlosen Klassengesellschaft (Adorno). Klassenlos, weil die Arbeiter subjektiv integriert sind, klassenbehaftet, weil die Herrschaft des Menschen über den Menschen sich weiter durch den Akkumulationsprozess des Kapitals hindurch vollzieht. Man darf bei allem Gerede von der vollständigen Integration nicht vergessen, dass die Verhältnisse, an denen die Masse so zäh festzuhalten scheint, schon bei geringer Denkanstrengung und bei geringer Entwicklung individueller Bedürfnisse sich als irrational erweisen würden. Jede partielle Infragestellung kann schnell alles in Frage stellen, und so stellt man besser nichts in Frage – zumal der Einzelne unmittelbar nichts ändern kann. Meijers Vision einer Dialektik von partikularen Fabrikkämpfen und deren evolutionärer Umschlag in eine Revolution erscheint mir daher unplausibel. Ganz oder gar nicht! Es gibt nur noch zwei Möglichkeiten: vollständige Integration und je nach Laune des automatischen Subjekts alle möglichen Katastrophen, oder aber Revolution – alle Zwischenformen sind nur die Angelegenheiten der Mitglieder kleiner kommunistischer Zirkel, die sich irgendwie durchschlagen, ohne den Kopf vollständig zu verlieren. Das Zukunftsweisende am Pariser Mai könnte in dieser Interpretation gerade der generelle Stopp der Maschinerie sein: Die Französinnen und Franzosen haben eine Weile die Notbremse gezogen. Eine solche Gelegenheit gibt den ansonsten recht vollständig Eingespannten die nötige Verschnaufpause, überhaupt einmal über ihre Verkehrsformen nachzudenken. Ein solcher Stopp könnte die eine Revolution vorbereitende Reform ersetzen. Die Idee, eine Fete zwischen alter und neuer Welt einzuschieben und nicht sofort zum Neuaufbau überzugehen, ist dabei sicher hübsch, aber die Franzosen wussten mit ihrer unbewusst erzeugten Freiheit noch nichts anzufangen und fingen ergo wieder an zu arbeiten. Es fehlt hier fast vollständig das in dieser Situation notwendige Ferment einer bewussten Minderheit(7) wie ein guter Schuss britisch-amerikanischen Pragmatismus. Diese Gedanken, alle lose verbunden, könnten ein geändertes Drehbuch der künftigen Revolution etwa so aussehen lassen:
Es muss einerseits bei Einzelnen das Bewusstsein keimen, dass die Lohnarbeit und die Staatsgewalt überholt sind. Dadurch verbinden sich schon einige Individuen in einem kontinuierlichen Reifungsprozess zu oppositionellen Zirkeln innerhalb der bestehenden Verhältnisse (Agnoli). Es wird dann sicher vereinzelte Kämpfe geben, wie jüngst in den Banlieus, den Opelwerken oder radikaler in der erwähnten Periode in Italien.(8) Wichtiger als solche partiellen Kämpfe ist dabei aber die Sehnsucht nach einer dringend notwendigen Pause, in der alle ihren Platz in der Welt überdenken können – ohne vor dem Vorgesetzten und der Armut Angst haben zu müssen. Diese Sehnsucht braucht dabei nur vorbewusst sein, es geht schließlich nur darum, einmal nicht zu arbeiten, sprich eine beliebige Auseinandersetzung zum Anlass für einen Grand National Holiday zu nehmen. Schafft sich die Gattung aber solch eine Pause wie 1968 in Frankreich, so geht es darum, möglichst schnell den Gedanken an eine vernünftige, auf die Lust des Menschen abzielende Produktion zu verbreiten und insbesondere erste Schritte in die Wege zu leiten: Gewährleistung des Löschdienstes und der Verletzten- und Krankenpflege, Abschaffung der Miete, der Fahrpreise, des Tributs für den täglichen Stoffwechsel (freier Zugang zu den Lebensmitteldepots), sowie des Tributs für die Bewegung der Lichter, Herdplatten, Mixer, Musikgeräte und Waschmaschinen. Es ist klar, dass hierfür die diversen kommunistischen Zirkel wie geschaffen sein können, wenn ihre Zahl eine kritische Masse überschreitet, sie schnell genug handeln und klar genug sehen.
Bis dahin aber können sich Interessierte getrost die Zeitung der Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft kaufen. Auch die anderen Texte haben ihr Niveau, bei gleichzeitig sehr gefälligem Stil. Es gab länger keinen solchen theoretischen Beitrag zur Neuformierung einer revolutionären Vereinigung. Anschließen braucht man sich nicht, lieber einige Schritte erfinden, die in dieselbe Richtung gehen.

ANMERKUNGEN

(1) Gerade in dieser desolaten Situation muss man vielleicht nicht unbedingt nach Organisationsformen suchen, sondern sich gewissermaßen um Inhalte herum organisieren. Ich kann mir denken, dass in der heutigen Situation lose miteinander verbundene, aber inhaltlich wirklich geklärte und vernunftbegabte Kollektive den ersten Schritt darstellen, der gemacht werden kann. Es ist wichtig, an der Basis zu arbeiten und kleine, in sich konsistente Gruppierungen zu schaffen. Wie sie zueinander in Verbindung kommen, hängt zum Teil auch von der gesellschaftlichen Entwicklung ab. Die Menschheit ist viel flexibler, als die Wissenschaft manchmal glaubt. Auf einmal ist eine Explosion da. Und wenn eine Explosion da ist – ich meine nicht von Bomben und Granaten, sondern eine gesellschaftliche Explosion –, so ist die Möglichkeit dieser Kollektive, miteinander in Verbindung zu treten und tatsächlich etwas gemeinsames zu schaffen, durchaus gegeben. (Johannes Agnoli)

(2) Der Kosmoprolet ist zu beziehen über: www.klassenlos.tk.

(3) 28 Thesen zur Klassengesellschaft, in Kosmoprolet Nr. 1. Alle nicht weiter gekennzeichneten Zitate sind diesen Thesen entnommen.

(4) Vom Streik zur Bewegung – Flugschrift der Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft (www.klassenlos.tk).

(5) Gemeint ist die Manier, sich den Inhalt der jeweiligen Arbeit dekretieren zu lassen, während auf der anderen Seite die Arbeiter natürlich unter der Verfügungsgewalt bestimmter Cliquen recht aktiv sind, nämlich arbeiten.

(6) Die Bestrebung, den kapitalistischen Produktionsprozess auch seinem Inhalt nach in Frage zu stellen, gab es im Wesentlichen nur in Form der Theorie und hier hauptsächlich in Westdeutschland (Bloch, Adorno, Krahl, Studenten, Junge Linke etc.) und in England – dem Mutterland des Revisionismus (vgl. den Beitrag in der Rubrik Café Cosmopolitan in diesem Heft).

(7) Die Situationistische Internationale um Guy Debord ist hier sicher eine entscheidende Ausnahme.

(8) Die Tiefe der italienischen Krise ist dabei sicher auch dem Umstand zu verdanken, daß sich hier seit den sechziger Jahren Zirkel von Intellektuellen fanden, die den Gedanken einer prinzipiellen Infragestellung förderten.  

 

Editorische Anmerkungen

Die Autoren waren früher bei den Antideutschen Kommunisten Berlin. Den Text spiegelten wir von  PHASE 2 [Nummer:25/2007]