"Das Kapital" von Karl Marx - im Theater elegant ins Abseits gestellt

Von Christian LeMaan

03/07

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Zwei Stunden - gefüllt mit nichts

Helgard Haug und Daniel Wetzel, die unter dem Namen "Rimini-Protokoll" bei Theater-Gängern als besonderer Tip gelten, haben "Das Kapital, Erster Band" von Karl Marx auf die Bühne gebracht. - Spannend und unterhaltsam inszeniert, aber elegant abserviert.

Wohnzimmerstimmung.

Ein Riesenregal quer über die Bühne, bis zur Decke gefüllt mit Marx-Büste, Bänden verschiedenster "Kapital"-Ausgaben und einigen der acht Protagonisten des Stückes, die in Vitrinen oder Fächern platziert sind. Unten links leuchten ein Spielautomat und an der Decke chinesische Lampions. Die Bezüge, besser Scheinbezüge, dieser beiden Requisiten zum "Kapital" werden sich erst später erschließen.

Und dann geht´s los. Das "Kapital" als großformatige Ausgabe in Blindenschrift wird im Einkaufswagen hereingeschoben. Von niemand Geringerem als von Thomas Kuczynski, dem international renommierten marxistischen Wirtschaftshistoriker, dem letzten Direktor des Instituts für Wirtschaftsgeschichte der DDR. Wer nun erwartet, dass Kuczynski mit aller Macht seines überragenden Fachwissens das "Kapital" vorstellt, die Diktatur des Profits entlarvt und dem Kapitalismus die Leviten liest, der wird bitter enttäuscht. Seine Rolle im Stück beschränkt sich auf die eines tragischen Clowns, der Zahlenspielereien darüber anstellt, wie viele Minuten es benötigt, das "Kapital" zu lesen; der wehleidig bejammert, dass sein Institut abgewickelt wurde; und der schließlich auch noch ohne jeden weiteren Kommentar feststellt, dass er der PDS den Rücken gekehrt hat.

Teppichscheißerei und Abwicklungslamento

Fließend chinesisch plaudernd kommt Jochen Noth aus dem Regal auf die Bühne. Ehemaliger Funktionär des maoistischen "Kommunistischen Bundes Westdeutschland" (KBW), der öffentlich Geldscheine verbrannte (wird dokumentarisch auf im Regal integrierten Fernsehbildschirmen gezeigt), der als SDS-Revoluzzer in den 60ern auf Teppiche schiss (wird ebenfalls gezeigt), der lange Jahre in Peking weilte (bei seinem Auftritt flackern die chinesischen Lampions - sic!) und der heute als Unternehmensberater deutsche Unternehmer nach China vermittelt.

Sein Credo: "Klar, ich habe `Das Kapital´ gelesen. Das war Pflicht. Gebracht hat es nichts. Und schau´n Sie mal, ist das nicht lustig, hier die aktuelle chinesische Ausgabe des Kapital, da steht drin, dass der Kommunismus automatisch zum Kapitalismus führt. Hahaha."

Und dann kommt´s russisch vom Regal runtergeklettert. Völker hört die Signale. Doch weit gefehlt. Statt Berichten über den vom "Kapital" inspirierten Aufbruch in Sowjetrussland wieder nur Gejammer. Diesmal über Mangel, Mangel, Mangel. Der Sozialismus im allgemeinen und im speziellen ein einziges Elend. Bis der Rat eines Wissenschaftskollegen in Leningrad erlöst, der da meint: "Nehmen Sie mal den Marxismus nicht so ernst, der wird hier dogmatisch verfälscht." Das läßt der "marxistisch-kommunistische Historiker und Filmemacher" Talvaldis Margevics sich nicht zweimal sagen, verabschiedet sich von "Kapital" und Partei und tut fürderhin eifrig das Seine zum Zusammenbruch des "elenden Systems" (auch Konterrevolution genannt).

Ruinöses Glücksspiel und kriminelle Abzockerei

Der Rest dann nur noch ganz flach. Ein echter Prolet, der Elektroniker Ralph Warnholz, der als bekennender Glücksspieler sein Leben am Geldautomaten verzockt hat, seit drei Jahren zwar "trocken" ist, aber dreist-dümmlich beharrt: "Würde ich eine Million geschenkt bekommen, ich würde sofort wieder starten." Nach Marx typisches Lumpenproletariat. Er ist - natürlich! - enttäuscht aus der SPD und der Gewerkschaft ausgetreten. Oder die Dolmetscherin Franziska Zwerg, nomen est omen, die zwar fließend das Russische für´s Publikum verständlich macht, ansonsten aber bestenfalls Viert- und Fünft-Wissen von sich gibt und als Climax trotzig bekennt: "Das `Kapital´ werde ich auch 2015 noch nicht gelesen haben". Der blinde Christian Spremberg, der nur deshalb im Stück zu sein scheint, weil er so gut die - optisch wirklich beeindruckende - Blindenausgabe von "Das Kapital" vorlesen kann. Daran ändert auch nichts, dass er seit Jahren vergeblich versucht, bei "Ich werde Millionär" mitzumachen und eine beeindruckende Schallplattensammlung hat, aus deren Fundus er ständig irgendwelche Liedchen über Geld vorspielt. Und - als Höhepunkt des Ganzen - der Biograf Ulf Mailänder, der die Geschichte eines lumpigen Kriminellen erzählt - die Geschichte des Hochstapler Harksen, der in den 90ern 300 Millionen DM von profitgläubigen Möchtegernkapitalisten abgezockt und verprasst hat. Natürlich hat Harksen "Das Kapital" auf dem Flohmarkt für´s Bücherregal erstanden.

An all diesem Gejaule ändert auch Sascha Warnecke nichts. Er, der junge Azubi und SDAJ´ler, der gerade in die DKP eingetreten ist, darf die letzten 10 Minuten bestreiten und gegen all die wehleidigen Selbstentschuldigungen und kleinkarierten pro-kapitalistischen Bekenntnisse seine revolutionäre Beseeltheit setzen, die er aus dem "Kapital" bezieht und die sich (bei Sascha) etwa in Aktionen gegen multinationale Konzerndiktatur äußert. Aber das Alt-68er linksliberale Publikum ist nach zwei Stunden "lebenserfahrener" Berichte der anderen grauhaarigen Abgeklärten auf der Bühne längst immunisiert: So ist sie nun mal die Jugend. Die glaubt noch und hält Marx tatsächlich noch für einen Revolutionär. So war´n wir alle mal, das gibt sich schon. Das "Kapital" jedenfalls - leider, leider! - war und ist zum Schaudern. Langweilig und völlig lebensfremd. Schauder, schauder, gähn, gähn.

Verblödung auf hohem Niveau

Und so füllt Rimini-Protokoll zwei Stunden mit Nichts. Weder erfährt der Besucher etwas über das "Kapital", noch wird gar klar, dass "Das Kapital" bis heute die einzige geschlossene und funktionierende wissenschaftliche Analyse des Kapitalismus ist. Nichts darüber, dass dieses Werk die kapitalistische Welt bereits mehrfach in den Grundfesten
erschütterte und aktuell in Venezuela und Bolivien erschüttert, und dass es Abermillionen inspirierte und dies auch heute noch tut. Und vor allem keine Information, dass dieses Werk von Anbeginn bis dato gefürchtet, bekämpft und unterdrückt wird. Aktuell mehr denn je. Ja nicht einmal die vom Rimini-Protokoll im Werbeflyer selbst aufgeworfene Frage, weshalb dieses Buch solche Auflagen erlebt(e) und sogar in Blindenschrift vorgehalten wird, wird beantwortet. Aber das Publikum nimmt dank der "Sensationen" und Anekdötchen über Anlagebetrug, Teppichscheißerei, Spielsucht etc. diesen gravierenden Mangel nicht wahr. Das ist also das gerühmte "Doku-Theater" des "Rimini-Protokolls". Ohne Anspruch, ohne Inhalt. Aber: Das bringt Erfolg - in Düsseldorf wurde das Stück bereits verlängert. Die Presse jubelt - von der Augsburger Allgemeinen übers Handelsblatt bis zur Welt. Das bringt Ruhm,
das bringt Knete. "Rimini-Protokoll" hat es bei den Zuschüssen für die nächsten Stücke mit Sicherheit leichter. Das freut die Herrschenden und stabilisiert das kapitalistische(!) System. So pervertiert Dokumentation zu Dokutainment. Verblödung auf hohem Niveau. Jetzt auch im Theater. Dank "Rimini-Protokoll".

Editorische Anmerkung

Spielorte: Düsseldorfer Schauspielhaus (wieder ab Dezember 2006), HAU Berlin (ab 25. Januar 2007), Schauspielhaus Zürich (ab Februar 2007)

Schauspielhaus Zürich (ab 24. Februar 2007), Schauspiel Frankfurt (ab 13. April 2007).

 

Der Text wurde gespiegelt von  http://www.nrhz.de