Der politische Streik
in Deutschland nach 1945


von
Lucy Redler

03/07

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Einleitung

Am Samstag, den 3. April 2004 demonstrierten in Berlin, Köln und Stuttgart eine halbe Million Menschen gegen die sozial unausgewogene Politik der rot-grünen Bundesregierung. Gewerkschaften und soziale Bewegungen hatten europaweit für den 2. und 3. April zu Aktionstagen gegen Sozialabbau aufgerufen. Da der 2. April ein Werktag war, hätten neben den Großdemonstrationen am 3. April auch Arbeitsniederlegungen einen Tag zuvor stattfinden können. Der DGB rief dazu jedoch nicht auf. Die Gewerkschaftsführung argumentierte, der politische Streik(1) gelte in Deutschland als rechtswidrig und sei deshalb illegal.(2)

Diese Auffassung stimmt mit der herrschenden Meinung in der Arbeitsrechtslehre und der Rechtssprechung in Deutschland überein. In der Bundesrepublik gilt der politische Streik lediglich dann als legal, wenn er zur Erreichung oder zur Verteidigung der bürgerlich-parlamentarischen Demokratie eingesetzt wird. Als historisches Beispiel wird dafür der Generalstreik gegen den Kapp-Putsch(3) im Jahr 1920 angeführt.

In anderen europäischen Ländern hat es in den vergangenen Jahren dagegen eine Fülle von politischen Streikaktionen bis hin zu Generalstreiks(4) gegeben. Im April und Oktober 2002 streikte in Italien ein Großteil der arbeitenden Bevölkerung gegen die Einschränkung des Kündigungsschutzes. In Spanien beteiligten sich im Juni 2002 laut Gewerkschaftsangaben zehn Millionen Arbeiter an einem Generalstreik gegen ähnliche Maßnahmen.

In Portugal, Griechenland, Österreich und Frankreich kam es ebenfalls zu Generalstreiks oder generalstreiksähnlichen Aktionen.(5)

Die Streiks in diesen Ländern richteten sich dabei hauptsächlich gegen eine bestimmte „Reform“ der jeweiligen Regierung. Der Umfang der in Deutschland geplanten Sozialkürzungen übersteigt die Einschnitte in den genannten Ländern um ein Vielfaches. Die Maßnahmen der rot-grünen Bundesregierung reichen derzeit von Einschnitten in die allgemeine Gesundheitsversorgung und Rentenversicherung über die Einführung von Studiengebühren bis hin zu drastischen Kürzungen der Arbeitslosenhilfe.

Trotz der Reichweite der Kürzungspläne hat es in Deutschland in der letzten Zeit keinen Generalstreik gegeben. Daraus und aus der faktischen Illegalität politischer Streiks in Deutschland sollte jedoch nicht die Schlussfolgerung gezogen werden, dass es in der Geschichte der Bundesrepublik keine politischen Streiks gegeben hätte. Eine nähere Untersuchung dieser Streikaktionen ist daher notwendig, um Klarheit über die derzeitige Lage und die Perspektive der Entwicklung politischer Streikbewegungen in Deutschland zu erlangen.

Aus diesem Grund ist das Thema der vorliegenden Arbeit die Darstellung und Einordnung der politischen Streikaktionen in der Bundesrepublik nach 1945. Die zentrale Fragestellung ist, in welchen historischen Situationen die Arbeiterklasse ihrem Kampf eine politische Richtung gab und welche gesellschaftlichen Umstände die Existenz und das Ausmaß politischer Streiks begünstigten oder negativ beeinflussten. Um den Rahmen der Untersuchung nicht zu sprengen, behandelt die Arbeit keine politischen Streikaktionen in der DDR, wie beispielsweise den Aufstand am 17. Juni 1953, sondern beschränkt sich bis zur Wiedervereinigung lediglich auf politische Streiks in Westdeutschland. Sie behandelt ferner auch nur politische Streiks der Arbeiterklasse(6) und lässt Streiks anderer sozialer Gruppen, wie beispielsweise der Studierendenbewegung, unbeachtet.

Zu Beginn der Arbeit wird unter Punkt 2 der Begriff des politischen Streiks in Abgrenzung zum ökonomischen Streik diskutiert. Hierbei werden zwei unterschiedliche arbeitsrechtliche Definitionen dargestellt und kritisiert. Zusätzlich wird eine marxistische Definition dargelegt.

Vor dem Hintergrund der in Punkt 2 getroffenen Annahme, dass die politische Dimension eines Streiks von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen abhängt, werden in Punkt 3 Kriterien entwickelt, welche die Darstellung und Analyse politischer Streiks konkretisieren sollen. Sie berühren u.a. die soziale Ausgangslage, die Verknüpfung politischer und ökonomischer Momente im Streik, die Haltung der Gewerkschaftsführung(7) und die Reichweite der Streiks. In den Punkten 3.1 und 3.2 werden anschließend die unterschiedlichen Ausdrucksformen politischer Streiks dargestellt. Sie unterscheiden sich in Demonstrations- und Kampfstreiks (Punkt 3.1) und Angriffs- und Abwehrstreiks (Punkt 3.2).

Um die Entwicklung der Streikaktionen in der Bundesrepublik nach 1945 politisch und historisch einordnen zu können, werden unter Punkt 4 der Ursprung und der Entwicklungsverlauf der ersten politischen Streiks aufgezeigt und zentrale Diskussionen um den politischen Streik innerhalb der Zweiten Internationale(8) zu Beginn des letzten Jahrhunderts nachgezeichnet. Die wichtigsten theoretischen Beiträge in den Debatten der deutschen Sozialdemokratie stammten von Rosa Luxemburg und Karl Kautsky. Ihre Ausführungen beziehen sich hauptsächlich auf politische Kampfstreiks. Auch wenn bei der Betrachtung der Chronologie der politischen Streiks in Deutschland deutlich wird, dass in diesem Zeitraum kein Streik die Grenze von Demonstrations- zu Kampfstreiks überschritten hat, entbehren die genannten Ausführungen nicht an Bedeutung für die generelle Einordnung politischer Streiks. Bei der Darstellung der Debatte innerhalb der Zweiten Internationale wird zudem deutlich, dass das Thema des politischen Streiks eine Fülle von grundlegenden Fragen, wie nach dem Verhältnis von Partei zu Gewerkschaft, von Marxisten zu Anarchisten und von Revolutionären zu Reformisten, berührt.

Den zentralen Kern der Arbeit bildet Punkt 5. Darin werden unter 5.1 die wichtigsten politischen Streiks der deutschen Arbeiterbewegung von 1945 bis 1986 chronologisch an Hand ihrer unterschiedlichen Ausdrucksformen aufgeführt. Ein Anspruch auf die vollständige Darstellung aller politischen Streikaktionen in der Geschichte der Bundesrepublik wird dabei nicht erhoben.(9) Die Verfasserin beschränkt sich in der Chronologie auf  solche Streiks, die zentrale politische Themen berühren, eindeutig einen politischen Charakter besitzen und geschichtlich zumindest in Ansätzen aufgearbeitet wurden. Die Darstellung umfasst neben der einfachen Beschreibung der jeweiligen Streikaktion gleichermaßen eine Analyse der Rahmenbedingungen und der politischen Dimension des Streiks.

Unter Punkt 5.1.2.3 wird die Illegalisierung des politischen Streiks im Jahr 1952 erklärt, die Auswirkungen auf die folgenden Streiks hatte. Die Streiks seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Systemwechsel in den osteuropäischen Staaten werden aufgrund der damit einhergehenden Änderung des Kräfteverhältnisses zwischen Arbeit und Kapital nicht ausführlich im Rahmen der Chronologie dargelegt sondern an späterer Stelle erwähnt.

In Gliederungspunkt 5.2 wird anschließend eine vergleichende Bewertung der Streiks an Hand der in Punkt 3 genannten Kriterien und Ausdrucksformen vorgenommen. Ansatzweise wird hierbei Bezug auf die zentralen Aussagen der Debatten in der Zweiten Internationale genommen.

Abschließend wird in Punkt 6 eine Perspektive der politischen Streiks in Deutschland vor dem Hintergrund des politischen und sozialen Wandels seit dem Wegfall der Systemkonkurrenz aufgestellt. An dieser Stelle werden die politischen Streikaktionen seit Beginn der neunziger Jahre bis zur Gegenwart kurz zusammengefasst. Der Gegensatz zwischen den Streikbewegungen in anderen europäischen Ländern und der sich erst im Beginn der Entwicklung befindenden sozialen Bewegung in Deutschland wird thematisiert und zu begründen versucht.

Eine mit der vorliegenden Arbeit vergleichbar umfassende Darstellung und Analyse der politischen Streiks in der Bundesrepublik nach 1945 existiert in der Literatur bisher nicht. Den meisten Arbeiten, die den Bereich politischer Streiks berühren, liegt eine arbeitsrechtliche Betrachtung zu Grunde. Zudem umfassen die meisten Studien lediglich einzelne Streikaktionen. In der vorliegenden Arbeit wird zu Gunsten einer flüssigeren Lesbarkeit auf die geschlechtsneutrale Schreibweise verzichtet.

Anmerkungen

1) Die Definition des politischen Streiks erfolgt unter Punkt 2.

2) Vgl. o.V., Interview mit Detlef Hensche, Politischer Streik illegal? – Detlef Hensche über die vermeintliche Rechtswidrigkeit politischer Streiks, in: SoZ – Sozialistische Zeitung, März 2004, Seite 5, Unter: http://members.aol.com/sozlmn/040305.htm  - 29. Februar 2004

3) Am 13.3.1920 hatten die Reichswehrgeneräle W. Kapp und v. Lüttwitz den Versuch eine Militärputsches unternommen. Dieser konnte innerhalb von fünf Tagen durch einen Generalstreik, an dem sich zwölf Mio. Arbeiter beteiligten, vereitelt werden; vgl. Lucas, E., Der Generalstreik von 1920 – Zu einem Blatt aus dem Poesiealbum der deutschen Arbeiterbewegung, in: Haupt, H.-G./Jost, A./Leithäuser, G./ Mückenberger, U./Negt, O., Pozzoli, C./Steinberg, H.-J. (Hrsg.), a.a.O., S. 101ff

4) Der Generalstreik wird an dieser Stelle als politischer Streik des Großteils der Arbeiterklasse verstanden. Eine begriffliche Klärung erfolgt unter Punkt 3.1. 5 Vgl. Taffee, P., Zur Rolle und Bedeutung von Generalstreiks heute, Unter: http://www.sozialismus.info  – 13.4.04

6) Der Begriff der Arbeiterklasse wird in der vorliegenden Arbeit im Sinne der marxistischen Definition verwendet. Demnach besteht eine Klassengesellschaft, die sich in Bourgeoisie und Arbeiterklasse teilt. Die Arbeiter müssen ihre Arbeitskraft verkaufen und leisten unselbständige Arbeit; vgl. Marx, K./Engels, F., Das Manifest der Kommunistischen Partei, S. 50ff. Die Verfasserin ist der Auffassung, dass die heutige Arbeiterklasse aufgrund geänderter Produktionsformen nicht mehr mehrheitlich aus Industriearbeitern besteht, sondern alle lohn- und gehaltsabhängigen Beschäftigten umfasst. Dies sind alle Arbeiter, Angestellte und Beamte, die im herrschenden Sprachgebrauch als „Arbeitnehmer“ bezeichnet werden.

7) Die Verfasserin der vorliegenden Arbeit unterscheidet an dieser Stelle und im Folgenden zwischen Gewerkschaftsführung und Gewerkschaftsbasis. Dieser Unterscheidung liegt die Annahme zu Grunde, dass sich die heutige Gewerkschaftsführung in Deutschland zum Teil weit von den Interessen ihrer Mitgliedschaft entfernt hat. Die Unterscheidung schließt jedoch die Möglichkeit ein, dass die Gewerkschaftsführung durch den Druck der Basis zu Kampfmaßnahmen gezwungen wird. Die soziale Stellung der Gewerkschaftsführung wird noch klarer durch den Begriff der „Gewerkschaftsbürokratie“ zum Ausdruck gebracht.

8)  Im Jahr 1874 zerfiel die Erste Internationale, die von K. Marx und F. Engels 1864 gegründet worden war. Vor dem Hintergrund der Entwicklung der Industrie Ende des 19. Jahrhunderts wuchsen sozialdemokratische Parteien zu Massenparteien der Arbeiterklasse an. Dies führte im Jahr 1889 zur Gründung der Zweiten Internationale. Sie existierte bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges; vgl. Bucharin, N./Preobraschensky, E., Das ABC des Kommunismus, Unter: http://www.marxists.org/

9) Eine vollständige Darstellung ist schon aufgrund der unzureichenden geschichtlichen Aufarbeitung unmöglich. Zusätzlich zu den in der Chronologie dargestellten Streikaktionen führt W. Däubler folgende politische Streikaktionen an: Fünfminütiger Gedenkstreik anlässlich des Todes von H. Böckler im Jahr 1951, DGB-Aufruf vom 18.6.1955 zur Wiedervereinigung Deutschlands während eines Treffens der Alliierten, DGB-Aufruf vom 6.11.1956 anlässlich der Niederschlagung des Aufstandes in Ungarn, DGB-Aufruf vom 15.8.1961 anlässlich des Mauerbaus in Berlin, DGB-Aufruf vom 13.8.1962 zum 1. Jahrestag der Errichtung der Berliner Mauer, DGB-Aufruf vom 25.10.1977 gegen Terrorismus und Protest gegen die Ermordung von Arbeitgeberpräsident Hanns-Martin Schleyer durch die Rote- Armee-Fraktion, Ankündigung der IG Metall vom 14.8.1980 gegen den Wegfall der Montan-Mitbestimmung bei der Mannesmann AG die Öffentlichkeit zu mobilisieren und zu streiken; vgl. Däubler, W. (Hrsg.), Arbeitskampfrecht, 2. Auflage, Baden-Baden 1987, S. 167f. B. Degen, G. Siebert und W. Stöhr verweisen zusätzlich auf eine Reihe von Streiks, die „nicht unmittelbar politisch“ gewesen wären, aber „auch einen politischen Charakter“ gehabt hätten: Der Warnstreik der Kommunalarbeiter 1958, der unter dem Motto „Moneten statt Raketen“ gestanden hätte, die Protestaktionen der Ruhrbergleute gegen Zechenschließung, die sich gleichzeitig gegen die Bundesregierung gerichtet hätten, die Streiks bei den VW-Werken und den Howaldtswerken 1957/58 gegen die Privatisierungspläne der Bundesregierung und schließlich hätte auch der Streik im Öffentlichen Dienst von 1974 eine politische Dimension gehabt; vgl. Degen, B./ Siebert, G./ Stöhr, W., Handbuch für den Arbeitskampf – Nach Erfahrungen aus der Praxis, Frankfurt/Main 1979, S. 62

 

INhaltsverzeichnis

1. Einleitung 3

2. Politischer und ökonomischer Streik / 7

3. Gesellschaftliche Rahmenbedingungen und Ausdrucksformen politischer Streiks / 12
3.1 Demonstrationsstreik und Kampfstreik / 13
3.2 Angriffsstreik und Abwehrstreik / 16

4 Gesellschaftliche Rahmenbedingungen und politische Streiks zum Zeitpunkt der Massenstreikdebatte innerhalb der Zweiten Internationale / 17

5 Historische Entwicklung seit 1945  / 29
5.1 Chronologie der politischen Streiks / 29
5.1.1 Der Generalstreik von 1948 / 29
5.1.2 Die Auseinandersetzung um die Mitbestimmung in der Montanindustrie und das Betriebsverfassungsgesetz zu Beginn der fünfziger Jahre / 35
5.1.2.1 Mitbestimmung in der Montanindustrie / 35
5.1.2.2 Die Niederlage der Gewerkschaften im Kampf um das Betriebsverfassungsgesetz / 39
5.1.2.3 Rechtliche Konsequenzen: Illegalisierung des politischen Streiks / 43
5.1.2.4 Erneute Auseinandersetzung in der Montanindustrie / 45
5.1.3 Remilitarisierung der Bundesrepublik und atomare Aufrüstung der Bundeswehr in den fünfziger Jahren / 47
5.1.4 Auseinandersetzung um die Notstandsgesetze im Jahr 1968 / 53
5.1.5 Streiks gegen das Misstrauensvotum gegen Willy Brandt im Jahr 1972 /  59
5.1.6 Der geplante Streik gegen die Zerschlagung des Norddeutschen Rundfunks (NDR) 1979 / 63
5.1.7 Fünf Minuten Arbeitsruhe gegen die Raketenstationierung 1983 / 65
5.1.8 Massenproteste gegen die Novellierung des § 116 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) im Jahr 1986 / 70
5.2 Vergleichende Bewertung / 76

6. Perspektive des politischen Streiks in Deutschland / 84

7. Literaturverzeichnis / 92

Anhang / 101

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Editorische Anmerkung

Wir bekamen den Hinweis zur Veröffentlichung/Spiegelung von der Red. www.sozialismus.info