Marxistische Lehrbriefe
GESCHICHTE - ZUFALL ODER GESETZ?

03/07

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Wenn wir einen Blick auf die Geschichte werfen, so sehen wir eine verwirrende Vielfalt von Völkern, Staaten und Persönlichkeiten, verstrickt in eine rastlose Aufeinanderfolge von Ereignissen. Bewegung, Veränderung, Absterben der einen Staaten oder Klassen, Aufblühen von anderen, das ist Geschichte.

Der Streit darüber, ob es in der Geschichte, in all dieser Veränderung und Bewegung gesetzmäßig zugehe oder ob hier der blinde Zufall herrsche, ist alt.

WARUM UNTERSUCHEN WIR DIE FRAGE?

Aber warum sich darüber streiten? Wozu ist es wichtig zu wissen, ob es Gesetze der Geschichte gibt und wenn ja, ob man sie erkennen kann? Nun, gäbe es keine geschichtlichen Gesetze, oder wären diese unerkennbar, so gäbe es auch keine Wissenschaft von der menschlichen Gesellschaft. Denn Wissenschaft, das ist im Grunde nichts anderes als die Erforschung der gesetzmäßigen Zusammenhänge und Vorgänge auf irgendeinem Gebiet der Natur, der Gesellschaft oder des Bewußtseins. Die Kenntnis dieser Gesetze ermöglicht es, vorauszusagen, was unter bestimmten Umständen und bei Beachtung der Gesetze eintreten wird. Nur wenn es erkennbare gesellschaftliche Gesetze gibt, können wir uns hinsichtlich der Gesellschaft Ziele stellen, die erreichbar sind, ist planvolles Handeln möglich, können Menschen verwirklichen, was sie sich in Übereinstimmung mit dem Wirken solcher Gesetze vorgenommen haben.

Nun scheint es in der Geschichte so zu sein, als ob hier der unberechenbare Zufall herrsche. Davon, ob irgendeine Schlacht "zufällig" von dieser oder jener Seite gewonnen wurde, ob der "Zufall der Geburt" oder andersartige "Zufälle" an die Staatsspitze tüchtige oder unfähige Leute stellte, ob diese "zufällig" ruhmsüchtig, kriegerisch oder friedlich, weise und gerecht waren, ob ihre Frauen oder Geliebten sie zu guten oder schlechten Taten anfeuerten usw. scheint das Schicksal ganzer Staaten und Völker abzuhängen.

Die Ansicht, daß es in der Geschichte keine Gesetze gebe und geben könne, wird auch genährt durch die Tatsache, daß zwischen der Natur und der menschlichen Gesellschaft ein großer Unterschied besteht. Daß es in der Natur gesetzmäßig zugehe, wird von keinem vernünftigen Menschen bestritten. Wenn ich Getreide aussäe, werde ich Getreide, nicht aber Rüben ernten. Aber in der Natur ist es so, daß nur blindwirkende, bewußtlose Kräfte aufeinander einwirken. Das Wasser, das den Berg hinabstürzt und sich sein Bett gräbt, "will" nichts, sondern "folgt" ganz einfach dem Gesetz der Schwerkraft. Ganz anders aber ist es in der Gesellschaft. Die Menschen machen ihre Geschichte selbst und das selbstverständlich nicht, ohne zu denken, ohne etwas zu wünschen, zu wollen, anzustreben. Jede einzelne menschliche Handlung geschieht auf Grund solcher geistiger Triebkräfte, die es in der Natur sonst nicht gibt. Das menschliche Bewußtsein wirkt also auf die Gestaltung der menschlichen Gesellschaft ein. Wer aber wollte bestreiten, daß die Menschen dabei nach den unterschiedlichsten Interessen, den verschiedenartigsten geistigen und moralischen Antrieben handeln?

Die Arbeiter wollen ein größeres Stück vom sozialen "Kuchen", kürzere Arbeitszeit, mehr Mitbestimmungsrechte. Die Unternehmer wollen ihnen gerade das verwehren. Wie soll in diesem Durcheinander entgegengesetzt wirkender Triebkräfte Ordnung und Gesetzmäßigkeit Zustandekommen?

Wegen solcher unbestrittener Tatsachen sagen die Gegner des Marxismus: Wenn es wirklich in der Geschichte gesetzmäßig zuginge und der Sozialismus gesetzmäßig käme - wie Ihr Marxisten behauptet - wozu organisiert Ihr Euch dann und führt den politischen Kampf? Es würde doch niemanden einfallen, etwa eine Partei zur Herbeiführung einer gesetzmäßig eintretenden Mondfinsternis zu schaffen und dafür zu kämpfen. Die kommt, ob wir das wollen oder nicht. Wenn der Sozialismus geschichtlichen Gesetzen entspränge, so käme er, ob Ihr das wollt und wir das nicht wollen oder umgekehrt. Das wäre dann alles gleichgültig!

Der Marxismus hat nie übersehen, daß es hinsichtlich der Art, wie sich die Gesetze in der Natur und jene in der Geschichte der menschlichen Gesellschaft verwirklichen, einen wesentlichen Unterschied gibt. Naturprozesse laufen blind, ohne menschliches Zutun ab. Aber die Gesellschaft ist das spezifische Reich des Menschen. Sie entsteht nur durch sein Handeln. Nur diesem Handeln entspringen die gesellschaftlichen Gesetze. Nur durch dieses Handeln werden sie durchgesetzt. Die Menschen machen ihre Geschichte selbst. Freilich nicht unter Bedingungen, die sie völlig frei wählen könnten. Sie sind in bestimmte natürliche und gesellschaftliche Verhältnisse hineingeboren, hineingestellt und an diese in ihrem Handeln gebunden. Dabei spielen die Beweggründe ihres Handelns eine wesentliche Rolle. Ein falsches Bewußtsein bewirkt falsches, gegen die eigenen Interessen gerichtetes Handeln.

Millionen Deutsche haben aus falschem Bewußtsein falsch gehandelt, als sie 1932 und 1933 Hitler wählten. Aber diese Entscheidung gegen den geschichtlichen Fortschritt hat sich bitter gerächt. Und ebenso steht es um die Frage, daß die barbarischen Lebensäußerungen des Kapitalismus die Menschheit schließlich vor die Entscheidung stellen werden, im weltweiten Maßstab zum Sozialismus überzugehen, oder in der Barbarei, der Barbarei eines Atomkrieges vernichtet zu werden. Eben darum kommt dem Ringen um das Bewußtsein des Menschen, um ihre Organiserung zum politischen Kampf entscheidende Bedeutung bei der Verwirklichung der gesellschaftlichen Gesetze zu.

WIE SIND GESCHICHTLICHE GESETZE UND ENTWICKLUNGSTENDENZEN ZU BEWEISEN?

Es ist eigentlich gar nicht so schwer, die Wirkung von Gesetzen auch in der menschlichen Gesellschaft und ihrer Geschichte nachzuweisen. Es ist eine unbestreitbare Tatsache, daß sich der Abstand, der den Menschen von seinen affenähnlichen Vorfahren aus dem Tierreich trennt, im Laufe der Geschichte immer mehr vergrößert hat. Die Macht des Menschen über die Natur wächst, seine Technik wird immer wirkungsvoller. Wenn wir die Schilderungen über das Leben vergangener Zeiten lesen, da die Menschen noch nicht die Fähigkeit besaßen, sich wirksam gegen Kälte, Seuchen und andere Plagen zu wehren und das mit unserem heutigen Leben vergleichen, so sehen wir eine, gewiß mühsame, sich in ständigen Kämpfen vollziehende, dennoch unleugbare Aufwärtsentwicklung der Menschen.

Offensichtlich gibt es in der Geschichte, in all dem Auf und Ab ihrer einzelnen Veränderungen, ein Gesetz des Fortschritts. Wenn es nicht so wäre, müßten sich die vielen entgegengesetzten Bewegungen und Handlungen gegenseitig auslöschen und die Geschichte ein Bild des Stillstandes darbieten. Das ist jedoch nicht so, also muß es Gesetze geben, die den geschichtlichen Fortschritt bewirken. Auch der Unterschied, daß in der Gesellschaft bewußte Wesen, Menschen, durch ihr Wirken die Bewegung auslosen, kann "nichts ändern an der Tatsache, daß der Lauf der Geschichte durch innere allgemeine Gesetze beherrscht wird." (Friedrich Engels, "Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie", Berlin 1946, S. 41)

WIRD DIE GESCHICHTE DURCH GESETZE DES GEISTES BESTIMMT?

Nun sagen gewisse bürgerliche Wissenschaftler - z.B. Lamprecht, Alfred Weber und andere: Zugegeben, für die materielle Technik gibt es unaufhebbare, unumkehrbare allgemeingültige Gesetze.

Diese technische "Welt ist —— generell für alle Menschen vorhanden, und jeder Teil von ihr gilt für alle. Das zeigt sich ...darin, daß die Gegenstände dieser Welt, ihre geistigen und ihre körperliche konkretiserten, wenn irgendwo ... entdeckt ... sich wie durch eine selbstverständliche, notwendige Wellenbewegung über die ganze Welt verbreiten und überall ... Anwendung finden, - sofern nur der Gesel Ischattsprozef! dorf soweit entwickelt ist, um sie. aufzunehmen ... Die Univerbalität der technischen Entdeckungen Ist bekinr»." (A. Web. , "Prinzipien der Geschichts- und Kultursoziologie", Piper-Verlag, München 1951, S. 57).

Diese Universalität betreffe alle sachlichen und geistigen Bereiche der Zivilisation, alle Verarbeitungsverfahren, das Verkehrs- und Nachrichtenwesen, die logisch-rechenhafte Versfandestätigkeit und das dieser Seite unseres Denkens entspringende wissenschaftliche Weltbild.

Nach so viel Argumenten des Rückzugs bürgerlicher Gesellschaftslehren vor dem Marxismus kommt dann das große "Aber": Aber das ist doch nicht alles. Es bleiben noch die höheren geistigen, kulturellen Bereiche, die das eigentlich Menschliche bilden. Und dafür würden diese Gesetze nicht gelten. Mehr noch: dieses geistige Leben des Menschen bestimme dessen Kultur-Entwicklung.

Es wird die Tatsache zugegeben, daß es in der Geschichte offensichtlich Wiederholungen, Gleichartigkeit und damit Gesetzmäßigkeit gibt: die grundlegenden Gesellschaftsordnungen der Urgesellschaft, Sklaverei, des Feudalismus, Kapitalismus und Sozialismus haben, wo sie entstanden, überall gewisse grundlegende Gemeinsamkeiten: ob heute oder vor 150 Jahren, ob in Japan, England oder Amerika, ob in heißen oder gemäßigten Zonen, ob bei weißen oder farbigen Völkern: nirgends gab oder gibt es Sklaverei ohne Sklaven und Sklavenhalter, Kapitalismus ohne Lohnarbeiter und Kapitalisten. Überall entspricht einem gewissen Grundtypus des Wirtschaftslebens ein Grundtypus des geistigen, politischen, kulturellen Lebens. Wo es freie Konkurrenz von Privatkapitalisten gibt, entsteht eine bürgerlich-demokratische Strömung oder sogar eine bürgerlich-demokratische Staatsordnung. Das ist von Rasse, Nation, Kulturtradition unabhängig. Und wo produktions- und machtbeherrschende Riesenunternehmen - Monopole - bestimmen, entstehen reaktionäre, freiheitsfeindliche, schließlich faschistische Bewegungen und Staatsordnungen. Auch das ist kein nationales oder rassisches oder kulturelles Problem. Solche Ideen und ihre Gegenströmungen werden - unabhängig von Rasse, Nation, Klima usw. "populär", weil sie gewissen Interessenlagen entsprechen. Und woher stammen diese Interssenlagen? Was ist der einzige, gemeinsame, in der Vielfalt der rassischen, nationalen, kulturtraditionellen, klimatischen, geografischen und sonstigen Erscheinungen sich jeweils wiederholende, gleichartige Faktor? Was ist folglich jene Erscheinung, die gesetzmäßig das gesellschaftliche Leben, auch die Kulturbewegung bestimmt? Es gibt nur einen solchen Faktor: die gleiche - in unseren Beispielen: kapitalistische! - Wirtschaftsweise. Doch darauf werden wir später genauer zu sprechen kommen.

Daß Weber, Lamprecht und all jene anderen unrecht haben, die behaupten, die Geschichte würde durch unser geistiges Leben bestimmt, zeigt auch folgende Überlegung:

Die Menschen handeln, indem sie Ziele anstreben, die sich vorher in ihrem Denken, Fühlen, Wollen herausgebildet haben. Aber nur selten geschieht das Gewollte. In den meisten Fällen durchkreuzen und widerstreiten sich die vielen gewollten Zwecke, sind diese von vornherein undurchführbar oder die Mittel unzureichend. So führen die Zusammenstöße der zahllosen Einzelwillen und -handlungenauf geschichtlichem Gebiet einen Zustand herbe', bei dem zwar die Zwecke der Handlungen gewollt sind, "aber die Resultate, die wirklich aus den Handlungen folgen, sind nicht gewollt, oder soweit sie dem gcwoliten Zweck zunächst doch zu entsprechen scheinen, hcbsn sie schließlich ganz andere als die gewollten Folgen." (Friedrich Engels, ebenda, i. 4;/2).

Es geht hierbei nicht nur um solche "Mißerfolge" bei der Verwirklichung angestrebter Ziele, wie jener, der dem Mönch Be r t ho l d Schwarz passierte, der Gold schaffen wollte und dabei das Schießpulver erfand; oder der,dem Böttcher bei der Verfolgung des gleichen Zieles unterlief, als ihm die Porzellan-Erzeugung gelang. Es geht vielmehr gerade auch um die großen Staatsaktionen: Robespisrre, Merat, Saint J us t und andere strebten, als sie nach 1789 die Große Französische Revolution vorantrieben, mit reinem Herzen Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkiet für alle Menschen an und räumten dabei - unbewußt natürlich - doch nur die Hindernisse aus dem Feld, die zur Entwicklung des Kapitalismus in Frankreich noch im Wege standen. Von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit für alle Menschen kann aber im Kapitalismus gar keine Rede sein.

Engels schreibt darum mit vollem Recht:

"Die Menschen machen ihre Geschichte, wie diese auch immer ausfalle, indem jeder seine eigenen, bewußt gewollten Zwecke verfolgt, und die Resultante dieser vielen in verschiedenen Richtungen agierenden Willen und ihrer mannigfachen Einwirkung auf die Außenwelt ist eben die Geschichte. Es kommt also auch darauf an, was die vielen einzelnen wollen. Der Wille wird bestimmt durch Leidenschaft oder Überlegung. Aber die Hebel, die wieder die Leidenschaft oder die Überlegung unmittelbar bestimmen, sind sehr verschiedener Art. Teils können es äußere Gegenstände sein, teils ideelle Beweggründe, Ehrgeiz, 'Begeisterung für Wahrheit und Recht1, persönlicher Haß oder auch rein individuelle Schrullen aller Art. Aber einerseits haben wir gesehen, daß die in der Geschichte tätigen Einzelwillen meist ganz andere als die gewollten - oft geradezu die entgegengesetzten - Resultate hervorbringen, ihre Beweggründe also ebenfalls für das Gesamtergebnis nur von untergeordneter Bedeutung sind. Andererseits fragt es sich weiter, welche treibenden Kräfte wieder hinter diesen Beweggründen stehen, welche geschichtlichen Ursachen es sind, die sich in den Köpfen der Handelnden zu solchen Beweggründen umformen?' (Engels, ebenda, S. 42)

Es ist also völlig richtig, daß alles, was die Menschen in Bewegung setzt, vorher durch ihren Kopf hindurch muß. Darum gibt es keine geschichtlichen Ereignisse, die nicht an Ideen geknüpft wären. Jedoch entsprachen die großen geschichtlichen Ergebnisse des Handelns nur selten den ideellen Zwecken oder Beweggründen. Wenn dies doch der Fall ist, dann nur, wenn die Ideen dem wirklichen geschichtlichen Verlauf angemessen sind. Das bedeutet aber, daß neben den geistigen Antrieben in der Geschichte noch stärkere, andere Kräfte wirken und sich durchsetzen: in "Übereinstimmung" mit den Ideen, wenn diese dem wirklichen Gang der Geschichte entsprechen - gegen die Ideen, sofern diese der Wirklichkeit nicht entsprechen. Diese Triebkräfte hinter den Ideen sind also stärker als die Ideen, müssen folglich erforscht werden, wenn man die Geschichte verstehen will. "Nicht darin liegt die Inkonsequenz, daß ideelle Triebkräfte anerkannt werden, sondern darin, daß von diesen nicht weiter zurückgegangen wird auf ihre bewegenden Ursachen." (Engels, ebenda, S. 42/3.) Die Frage muß also untersucht werden:

WAS IST URSPRÜNGLICH, DAS SEIN ODER DAS BEWUSSTSEIN?

Woher kommen die Gedanken, auf deren Grundlage die Menschen handeln? Welche Umstände bewirken es, daß die hinter unseren geistigen Triebkräften wirkenden Kräfte in dem einen Kopf diese, im anderen völlig andere Gestalt annehmen? Der philosophische Idealist steht auf dem Standpunkt, daß diese geistigen Triebkräfte menschlichen Handelns, das Ideelle, das Ursprungliche seien und keiner weiteren Erklärung bedürfen außer ihrer Entstehung aus anderen Ideen und Gedanken, die voraufgegangen seien. Der philosophische Materialist hält das für ungenügend und sagt, daß das Ideelle das im Menschenkopf sich widerspiegelnde Materielle sei. (Siehe hierzu den Lehrbrief: "Was ist die Grundfrage der Philosophie?")

Untersuchen wir das etwas genauer:

Während des Mittelalters war die herrschende Idee die katholische Religion. Die Welt wurde als Schöpfung eines außerweltlichen Gottes verstanden, der sich den Menschen durch die Bibel offenbart habe. Will der Mensch etwas über die Welt wissen, so braucht er nur die Bibel zu studieren. Das Studium der Natur, der Schöpfung Gottes, vermittelt nach dieser Anschauung weit weniger Wissen, als das Studium des Originals, des Wortes Gottes. Und wenn es darin hieß, daß Josua die Sonne stillstehen ließ, so war eben durch "Gottes Wort" erwiesen, daß sich die Sonne um die Erde drehe. Es könne also nicht umgekehrt sein. Folglich irrten jene, die durch das Studium der Natur zu entgegengesetzten Auffassungen kämen. Denn unmöglich könne die Natur, Gottes Geschöpf, dem Worte Gottes widersprechen. So argumentierte noch Luther gegen Kopernikus .

Im 17. Jahrhundert begannen verschiedene Denker in den wirtschaftlich am weitesten entwickelten Ländern die Idee zu vertreten, daß die Wissenschaft von solchen religiösen Fesseln zu befreien sei.

Es habe nur das zu gelten, was vor dem Richtstuhl der Vernunft und auf Grund natürlicher Beweise von Experimenten, Naturbetrachtungen und Erfahrungen bestehen könne.

Woher kommt es, daß gerode um diese Zeit und gerade in diesen Ländern neue Ansichten entstanden? Waren denn die großen Denker des Mittelalters schwächer an Geisteskraft? Das war gewiß nicht der Fall. Man kann diese Wandlungen nicht erklären, wenn man nur die Entwicklung der Ideen verfolgt. Es handelt sich vielmehr darum, daß damals gesellschaftliche Umwälzungen vor sich gingen. Es entstand das kapitalistische Wirtschaftssystem. Kapitalismus bedeutet Streben nach höchstmöglichem Profit, Ausnutzung aller "diesseitigen" Produktionsmöglichkeiten zu diesem Zweck also gründliche Erforschung dieses Diesseits: Der Naturgesetze - um Maschinen konstruieren, neue Produktionsverfahren ausfindig machen zu können; der See- und Landwege, der Erde mit ihren Bodenschätzen und sonstigen Reichtümern, um Produktion und Handel möglichst rasch entwickeln zu können usw. Hierzu brauchten die den Kapitalismus vorantreibenden Kräfte neue Ideen, die auf das Diesseits, auf die Erforschung der Welt gerichtet waren und mit den mittelalterlichen religiösen Dogmen brachen.

Diese Ideologen des sich entfaltenden Bürgertums wurden von der Kirche, die auf der Seite des Feudalismus stand, mit Feuer und Schwert verfolgt. Giordano Bruno wurde verbrannt, Galilei entging diesem Schicksal nur, weil er die Ergebnisse seines Forschens öffentlich verleugnete. Die Schriften des Kopernikus standen bis in die Mitte des vergangenen Jahrhunderts auf dem Index (einer Liste kirchenamtlich verbotener Literatur)!

Kein Wunder, daß die bürgerlichen Ideologen sich gegen die Theologen wandten und ihre geistigen Vorbilder unter den großen Denkern und Dichtern suchten, des griechisch-römischen Altertums. Deren Welt wollten sie wiedergewinnen, und sie glaubten, das gelinge durch die Wiedererweckung (Renaissance) des griechischen Geisteslebens. Wenn nun wirklich der Geist die bestimmende Kraft der geschichtlichen Entwicklung wäre, so hätte der Renaissance antiken Denkens eine Wiedergeburt der antiken Wirklichkeit entspringen müssen. Das war aber absolut nicht der Fall: geboren wurde der moderne Kapitalismus, weil nicht geistige, sondern andere Prozesse in der Geschichte bestimmend sind.

In der Frühzeit der menschlichen Gesellschaft, als die menschliche Arbeit noch so unergiebig war, daß der Mensch kaum das erzeugte, was er verzehrte, hatte es keinen Sinn, Menschen als Sklaven arbeiten zu lassen. Sie hätten im besten Falle das erzeugt, was sie selbst zum Leben brauchten; ihre Arbeit hätte niemandem als Quelle der "Bereicherung" gedient. In dieser Zeit wurden dort, wo die Nahrungsquellen knapp waren, Gefangene aufgefressen.

Als sich die Ergiebigkeit der menschlichen Arbeit erhöhte, so daß Gefangenenarbeit nutzvoll wurde, wurde die Idee selbstverständlicher, daß der Kannibalismus unmenschlich sei. Mit der weiteren Entwicklung der Arbeit erweiterte sich die Idee der Menschlichkeit bis hin zu unseren heutigen Vorstellungen vom Humanismus, von menschlichen Beziehungen und einer menschlichen Ordnung, die frei ist von solchen Erscheinungen wie der Ausrottung, der Ausbeutung und der Unterdrückung des Menschen durch den Menschen. Die Idee des Humanismus entwickelte sich also in Abhängigkeit von der Entwicklung des gesellschaftlichen Lebens der Menschen. ;

Die idealistische Auffassung der Geschichte wird auch durch solche Tatsachen widerlegt: manche J Ideen hatten weite Verbreitung gefunden, wurden von Dutzenden oder gar Hunderten von Millionen Menschen als "vernünftig", "gerecht" usw. anerkannt. Dennoch konnten sie sich nicht durchsetzen, konnten sie keine durchgreifenden praktischen Wirkungen erzielen. Nehmen wir die christliche Idee der brüderlichen Liebe unter den Menschen. Die amerikanische Regierung rühmt sich so gern ihrer christlichen Grundsätze. Ein Blick nach Vietnam beweist, wie wenig wirksam diese Grundsätze sind, wo materielle Interessen auf dem Spiel stehen. Zweitausend Jahre christlicher Predigt von Menschenliebe haben im vielgepriesenen christlichen Abendland nicht vermocht, Unterdrückung und Ausbeutung, die schreiendsten Gegensätze von Elend und Überfluß und selbst das gegenseitig ' betriebene (christlich gesegnete!) Massenmorden in blutigen Kriegen zu verhindern.

Die Geschichte zeigt uns eine ungeheure Zahl von Ereignissen und Bemühungen, in denen sich Menschen Ziele stellen und sie mit großer Energie anstreben, ohne sie jedoch erreichen zu können. Als die Maschinen aufkamen und von den Kapitalisten eingesetzt wurden, da sahen die Arbeiter nur die schweren Nachteile, die der kapitalistischen Ausnutzung von Maschinenarbeit entspringen: Verlängerung der Arbeitszeit bis zur Grenze der körperlichen Erschöpfung, Einführung schrecklicher Formen von Kinderarbeit, Verlust von Arbeitsplätzen, geisttötende, mechanische, abstumpfende Arbeiten.

Da erwacht in den Arbeitern die "Idee": daran ist die Maschine schuld - man muß sie vernichten. Die erste Periode der Arbeiterkämpfe beginnt, die Periode der Maschinenstürmerei. Sie "zerschlagen die Maschinen, sie stecken die Fabriken in Brand, sie suchen, die untergegangene Stellung des mittelalterlichen Arbeiters wieder zu erringen." (Marx/Engels, "Manifest der Kommunistischen Partei", Berlin 1964, S. 52) Aber ihre Idee war undurchführbar, weil die Maschine das Ergebnis der gesetzmäßig voranschreitenden Entwicklung der Gesellschaft ist. Die gesellschaftlichen Gesetze sind stärker als Ideen, die dieser Entwicklung zuwiderlaufen.

Offenbar genügen Ideen, seien sie auch noch so "verführerisch", nicht, um die Gesellschaft so zu gestalten, daß sie den angeblichen oder wirklichen Zielen entspricht, die durch diese Ideen angestrebt oder auch verhüllt werden. Man kann also den Verlauf der Geschichte nicht dadurch erklären, daß man den Schlüssel in den Ideen sucht. Von diesem idealistischen Standpunkt aus läßt sich nicht einmal erklären, warum in bestimmten Zeiten ganz bestimmte Ideen herrschen, in anderen Zeiten jedoch andere, warum manche dieser Ideen sich im Leben verwirklichen lassen, andere aber nicht. Die idealistische Betrachtung der Gesellschaft sieht nicht, daß sich in den Gedanken nur die Wirklichkeit abspiegelt und daß man darum zwar nicht die Wirklichkeit aus den Gedanken ihrer Zeit, aber diese Gedanken aus der Wirklichkeit ihrer Zeit verstehen kann.

"Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, daß ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt", hatte darum Marx gesagt. ("Zur Kritik der Politischen Ökonomie", Berlin 1951, S. 13)

Selbstverständlich entstehen nicht alle Ideen aus der Wirklichkeit ihrer Zeit, können Ideen von Generationen zu Generation weitergegeben werden. Darum gibt es in einer Zeit auch veraltete Ideen: zum Beispiel gibt es heute noch Ideen des Rassenhasses, Ideen nationaler Überheblichkeit. Aber auch diese Ideen verdanken ihren Ursprung und nicht selten ihr Fortbestehen oder ihre Aktivierung recht handfesten Interessen gesellschaftlich mächtiger Gruppen.

Es gibt auch phantastische Ideen. Diese scheinen der Wirklichkeit gar nicht zu entstammen. Aber wenn man die Ideen von Heinzelmännchen, abergläubische Auffassungen, die phantastischen Erscheinungen der Märchen genau untersucht, so sieht man, welche geheimen Sehnsüchte, Ängste, Sorgen der Menschen und welche gesellschaftliche Bedingungen und geschichtliche Perioden sich darin widerspiegeln.

WIE IST ES MIT DEN IDEEN DER GROSSEN PERSÖNLICHKEITEN?

Die Auffassung, daß ideelle Triebkräfte die letzte Ursache der geschichtlichen Entwicklung seien, erscheint uns oft in der Behauptung, das Denken und Handeln der angeblichen oder auch wirklichen großen Männer mache die Geschichte. (Auf die wirkliche Rolle und Bedeutung der großen Persönlichkeiten wird in den Lehrbriefen "Welche Rolle spielen die Ideen in der Geschichte" und "Machen große Männer die Geschichte" eingegangen werden. Hier genügt der Hinweis auf die oben angeführten Beispiele (Robespierre usw.) um zu zeigen, daß auch aus dem Handeln solcher Menschen bisher meist etwas anderes entsprungen ist, als sie vorher sich zum Ziel gesetzt hatten. So wichtig also ohne Zweifel die Erforschung des Denkens, des Charakters großer Persönlichkeiten ist, so verdienstvoll es ist, die Lebenserinnerungen, den Briefwechsel usw. solcher Menschen zu studieren, so reicht das dennoch alles nicht aus, um den Ablauf der Geschichte wirklich zu begreifen. Darum bemerkte Engels in der schon mehrfach zitierten Schrift über Ludwig Feuerbach:

"Wenn es also darauf ankommt, die treibenden Mächte zu erforschen, die - bewußt oder unbewußt, und zwar sehr häufig unbewußt - hinter den Beweggründen der geschichtlich handelnden Menschen stehn und die eigentlichen letzten Triebkräfte der Geschichte ausmachen, so kann es sich nicht so sehr um die Beweggründe bei einzelnen, wenn auch noch so hervorragenden Menschen handeln, als um diejenigen, welche ganze Massen, ganze Völker und in jedem Volk wieder ganze Volksklassen in Bewegung setzen; und auch dies nicht momentan zu einem vorübergehenden Aufschnellen und rasch verlodernden Strohfeuer, sondern zu dauernder, in einer großen geschichtlichen Veränderung auslaufender Aktion. Die treibenden Ursachen zu ergründen, die sich hier in den Köpfen der handelnden Massen und ihrer Führer - der sogenannten großen Männer - als bewußte Beweggründe klar oder unklar, unmittelbar oder in ideologischer, selbst in verhimmelter Form widerspiegeln - das ist der einzige Weg, der uns auf die Spur der die Geschichte im ganzen und großen, wie in den einzelnen Perioden und Ländern beherrschenden Gesetzen, führen kann." (Engels, ebenda, S. 43).

WODURCH WIRD DIE GESELLSCHAFTLICH ENTWICKLUNG BESTIMMT?

Wir haben gesehen, daß die geistigen Antriebe unseres Handelns nicht die letzten Triebkräfte der Geschichte sein können, daß vielmehr hinter diesen geistigen Antrieben noch mächtigere Kräfte wirken, daß die geistigen Beweggründe erst richtig verstanden werden können, wenn wir sie in ihrem Ursprung aus diesen noch möchtigeren Kräften und Bedingungen gesellschaftlicher Entwicklung verstehen. Diese noch mächtigeren Triebkräfte existieren außerhalb unseres Denkens, Fühlens, Wollens, kurz: außerhalb unseres Bewußtseins und unabhängig von ihm. Solche Erscheinungen der Natur und Gesellschaft, die außerhalb und unabhängig von unserem Bewußtsein existieren, nennt die Philosophie; materielle Erscheinungen. Und die Auffassung, die in materiellen Ursachen dif letzten Triebkräfte der Geschichte sieht, ist die materialistische Geschichtsauffassung, auch historischer Materialismus genannt. Sie wurde von Karl Marx und Friedlich Engels geschaffen, und einige Fragen der materialistischen Geschichtsauffassung haben wir eigentlich bereits diskutiert.

Der Kern der materialistischen Geschichtsauffassung ist der Klärung der Frage gewidmet, welche der zahlreichen materiellen Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens - geografische und klimatische Verhältnisse, Bevölkerungsdichte, biologische Faktoren, die Produktion der Lebensmittel im weitesten Wortsinne - denn nun die geschichtliche Entwicklung bestimmen. Diese Frage kann nur durch wissenschaftliche Untersuchung der Geschichte selbst beantwortet werden.

WELCHE ROLLE SPIELEN GEOGRAFISCHE UND KLIMATISCHE BEDINGUNGEN?

Es ist ganz klar, daß Leben ohne geeignete geografische und klimatische Bedingungen nicht möglich ist. Auf dem Mond, so, wie er ohne Einwirkung des Menschen beschaffen ist, ist irdisches Leben nicht möglich. Aber die Menschen wollen dorthin. Noch in diesem Jahrzehnt werden sie d'ort sein, hat der sowjetische Kosmonaut Leonow gesagt. Was tun? Die Menschen werden sowohl bestimmte klimatische und somit geografische Bedingungen auf dem Mond schaffen ("Transport" von Sauerstoff, Wasserstoff usw. im Laufe der Zeit) und zuvor in geeigneten Schutzanzügen mit mifgeführtem "Klima" dort leben und arbeiten.

Was folgt aber aus dieser.' Beispiel? Nachdem auf der Erde Leben und im Entwicklungsprozeß des Lebens Menschen entstanden sind und die gesellschaftliche Entwicklung eine bestimmte Höhe erreicht hat, sind geografische und klimatische Bedingungen des Lebens so wenig für die geschichtliche Entwicklung bestimmend, daß der Menschen selbst sie beeinflussen und zum Teil bereits künstlich schaffen kann.

Früher war freilich der hemmende oder fördernde Einfluß des Klimas und der geografischen Lage auf die Lebensweise der Menschen und deren Entwicklung größer. Für die Entwicklung Europas war es ohne Zweifel förderlich, daß die Menschen - zum Erwerb der Nahrung - mehr arbeiten mußten als in gewissen geografischen Gebieten, daß sie sich um Kleidung sorgen mußten, daß Arbeit in unserem gemäßigten Klima weit weniger ermüdend ist, als in heißen Zonen, daß wir jedoch auch nicht unter Bedingungen des ewigen Eises den harten "Kampf ums Dasein" führen müssen, daß Europa verhältnismäßig reich an grundlegenden Rohstoffen (Kohle, Eisen) ist und eine reich gegliederte Küste, mit vielen natürlichen Häfen, kleineren Meeren entlang der Küste (Ostsee, Nordsee, Biskaja, Mittelmeer, Schwarzes Meer) besitzt, die der Entwicklung der Seefahrt förderlich waren.

Dennoch zeigt eine nüchterne Untersuchung, daß diese - in unserem Fall fördernde Wirkung der geografischen und klimatischen Bedingungen gesellschaftlicher Entwicklung - nicht die letztlich bestimmende historische Triebkraft gewesen sein kann; auch nicht in jener früheren Zeit, da die Menschheit noch mehr als heute von solchen Naturbedingungen des Lebens direkt abhängig war:

Italien (das alte Rom) war einst die erste Weltmacht, ist es heute aber nicht mehr, obwohl es unter im wesentlichen gleichen klimatischen und geografischen Bedingungen existiert. Italien besitzt keine Kohlen und ist auch sonst arm an Bodenschätzen. Dennoch hat sich dort der Kapitalismus entwickelt.

Im Weltmaßstab betrachtet zeigt sich: die Gesellschaft entwickelt sich sehr viel rascher als Klima und Geografie. Die größte Beschleunigung erhielt die Geschichte in den letzten Jahrunderten, obgleich es in dieser Zeit keine merkliche klimatische oder geografische Veränderung gegeben hat. Auch dehnt sich die moderne Produktion und Lebensweise auf alle klimatischen und geografischen Bereiche aus.

Aus alledem folgt: das, was sich viel langsamer als die Gesellschaft entwickelt, Klima und Geografie, kann - bei allem unbestreitbar hemmenden oder fördernden Einfluß auf die gesellschaftliche Entwicklung - nicht die bestimmende Triebkraft der Geschichte sein.

WIRD DIE GESCHICHTE DURCH DIE BEVÖLKERUNGSVERMEHRUNG BESTIMMT?

Im Grunde genommen gilt die gleiche Argumentation auch für die Fragen, welche Einwirkung die Bevölkerungsdichte und Bevölkerungsbewegung auf die Geschichte hat. Allgemein bekannt ist, daß es einen gewissen Zusammenhang zwischen Armut und Bevöikerungsvermehrung gibt. Arme Schichten und arme Völker vermehren sich rascher als wohlhabende. Mit der Entwicklung eines gewissen Wohlstandes geht die Tendenz zur Bevölkerungsvermehrung zurück, obgleich nun mehr Lebensmittel - im weitesten Wortsinne - vorhanden sind, also mehr Esser ernährt werden könnten. Das weist auf eine Abhängigkeit der Bevölkerungsvermehrung von gesellschaftlichen Verhältnissen hin und nicht umgekehrt.

Es ist auch eine unbestreitbare Tatsache, daß sich unter den Völkern der gleichen Gesellschaftsordnungen solche mit hoher und solche mit geringer Bevölkerungsdichte befinden. Im kapitalistischen Schweden leben - bei hohem Lebensstandard - 17 Menschen je Quadratkilometer, im kapitalistische! Holland - ebenfalls bei hohem Lebensstandard - 356, dagegen im kapitalistischen Griechenland - bei niedrigem Lebensstandard - 64 Menschen je Quadratkilometer. In der sozialistischen DDR entfallen - bei hohem Lebensstandard - 158 Menschen auf den Quadratkilometer, im sozialistischen Albanien - bei niedrigem Lebensstandard - nur 60.

Es läßt sich also kein gesetzmäßiger Zusammenhang der Art entdecken, daß eine größere oder geringere Bevölkerungsdichte Bedingung eines höheren oder niedrigeren Lebensstandards oder des Lebens unter kapitalistischen oder sozialistischen Verhältnissen wäre. Die Gesetze der Bevölkerungsvermehrung sind nicht wesentlich für die geschichtliche Entwicklung. Darum ist auch die Losung vom "Lebensraum" eines Volkes demagogisch. Manche Völker mit geringer Bevölkerungsdichte benötigen "Entwicklungshilfe", manche Länder mit hoher Bevölkerungsdichte dagegen nicht, weil letztere, im Unterschied zu enteren, eine hochentwickelte Industrie besitzen.

WELCHE ROLLE SPIELEN BIOLOGISCHE, RASSISCHE BEDINGUNGEN?

In dem Lehrbrief "Wie der Mensch zum Menschen wurde" wurde gezeigt, daß der Mensch sich vom Tier durch die Arbeit unterscheidet. Durch die Arbeit, durch den Gebrauch und - vor allem - die Herstellung von Werkzeugen bildet sich der Mensch gleichsam neue, künstliche Organe, eine "künstliche" Umwelt, nämlich die Gesellschaft, die mit ihren eigenen Gesetzen die natürliche Umwelt, die biologische Naturgrundlage des menschlichen Lebens Überlagert. Welche Gesetze sind nun, letzten Endes, fUr die geschichtliche Entwicklung bestimmend? Waren zum Beispiel die alten römischen Welteroberer von anderer Rasse als die heutigen Italiener, die keine Welteroberer mehr sind? Die nordischen Wikinger waren gefürchtete Seeräuber, ihre heutigen schwedischen und norwegischen Nachfahren sind ein friedliches Volk. Lohnarbeiter und Unternehmer, Intellektuelle und Künstler, unterdruckende oder unterdruckte Klassen und Nationen, Unterdrücker und Freiheitskämpfer, das gibt es in allen Rassen. Die moderne Lebensweise kennt keine rassischen, keine biologischen Schranken. Die gesellschaftliche Entwicklung ist also ganz offensichtlich auch nicht durch biologische Gesetze bestimmt - die sich, im Gegensatz zur Gesellschaft, ohnehin "seit Adam und Eva" nicht wesentlich verändert haben -, sondern folgt eigenen, gesellschaftlichen Gesetzen und Triebkräften.

WELCHE ROLLE SPIELT DIE PRODUKTIONSWEISE?

So bleibt von den eingangs genannten materiellen Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens nur noch die materielle Produktion Übrig. In der Tat besteht die Grundbedingung menschlichen Lebens und folglich das von Marx entdeckte Entwicklungsgesetz der menschlichen Geschichte darin, "daß die Menschen vor allen Dingen zuerst essen, trinken, wohnen und sich kleiden müssen, ehe sie Politik, Wissenschaft, Kunst, Religion usw. treiben können; daß also die Produktion der unmittelbaren materiellen Lebensmittel, und damit die jedesmalige ökonomische Entwicklungsstufe eines Volkes oder eines Zeitabschnittes die Grundlage bildet, aus der sich die Staatseinrichtungen, die Rechtsanschauungen, die Kunst und selbst die religiösen Vorstellungen der betreffenden Menschen entwickelt haben, und aus der sie daher auch erklärt werden müssen - nicht, wie bisher geschehen, umgekehrt." (Friedrich Engels, Aus der Rede am Grabe von Marx, in: Marx/Engels, Ausgewählte Schriften in zwei Bänden, Band 2, S. 156)

Wenn wir die Geschichte untersuchen, so sehen wir, daß die einzige materielle Bedingung des gesellschaftlichen Lebens, die sich im gleichen Maße wie die Gesellschaft selbst verändert, die materielle Produktion, die Art und Weise der Erzeugung der zum Leben notwendigen Güter ist. Wir sehen auch, daß es in der Geschichte der Gesellschaft deutlich voneinander getrennte Abschnitte gibt, daß jedoch fUr jeden dieser Abschnitte die gleiche Art und Weise der Produktion kennzeichnend ist. Das gilt unabhängig von klimatischen, geografischen, biologischen, rassischen und die Bevölkerungsbewegung betreffenden Verhältnissen. Also ist die Art und Weise der Produktion des materiellen Lebens der Gesellschaft die letztlich entscheidende, bestimmende Grundlage der geschichtlichen Entwicklung. .

WAS IST DIE PRODUKTIONSWEISE?

Um das zu gewinnen, was sie zum Leben brauchen, verwenden die Menschen Werkzeuge, Maschinen, kurz: Produktionsinstrumente. Zur Produktion - deren allgemeine Grundlage natürlich die Natur ist - gehören also Menschen und Produktionsinstrumente. Die Menschen müssen mit diesen Produktionsinstrumenten umzugehen verstehen, bestimmte Arbeitserfahrungen besitzen. Die Menschen mit ihren Produktionserfahrungen und die Produktionsinstrumente nennen wir die Produktivkräfte.

Natürlich waren die Produktionsinstrumente einmal primitiv, haben sie eine Entwicklung durchgemacht. Mit ihrer Entwicklung veränderte sich die Arbeit, wuchsen die menschlichen Arbeitserfahrungen, die Kenntnisse der Menschen von der sie umgebenden Umwelt. Es änderten sich aber nicht nur die Produktionsinstrumente, sondern auch die produzierenden Menschen, also die Produktivkräfte insgesamt.

Aber die Produktivkräfte allein bilden noch nicht die ganze Produktionsweise. "In der Produktion", sagt Marx, "wirken die Menschen nicht allein auf die Natur, sondern auch aufeinander. Sie produzieren nur, indem sie auf eine bestimmte Weise zusammenwirken und ihre Tätigkeiten gegeneinander austauschen. Um zu produzieren, treten sie in bestimmte Beziehungen und Verhältnisse zueinander, und nur innerhalb dieser gesellschaftlichen Beziehungen und Verhältnisse findet ihre Einwirkung auf die Natur, findet die Produktion statt." ('Lohnarbeit und Kapital" in Marx/Engels, Ausgewählte Schriften in 2 Bänden, Band l, S. 77, Berlin 1957).

Entsprechend einem bestimmten Entwicklungsstand der Produktivkräfte stellen die Menschen also in der Produktion untereinander bestimmte Beziehungen her. Das können Beziehungen der Zusammenarbeit, des Güteraustausches, des Handels, aber auch - auf der Grundlage des privaten Eigentums an entscheidenden Produktionsinstrumenten bzw. des Grundes oder der Bodenschätze - Beziehungen der Ausbeutung von Eigentumslosen sein usw.

Die Entfaltung der Produktion ermöglichte es auf einer ocsfiiv.mten Entwicklungsstufe, mehr zu erzeugen, als unbedingt zum Leben nötig ist. Das war die Voraussetzung dafür, andere Menschen für sich arbeiten zu lassen.

Alle diese gesellschaftlichen Beziehungen heißen Produktionsverhältnisse, wobei sich die Eigentums- und Besitzverhältnisse als die wesentlichen erweisen. Das Verhältnis von Sklaven und Sklavenhaltern im klassischen Altertum ist z.B. dadurch gekennzeichnet, daß die eine Klasse von Menschen, die Sklaven, als Eigentum der anderen Klasse, der Sklavenhalter, angesehen und verkauft werden konnte. Der adlige Feudalherr im Mittelalter war Eigentümer des Grund und Bodens und kraft dessen der Herr über alle darauf wohnenden Bauern, den Leibeigenen oder Hörigen. Dem Verhältnis von modernen Lohnarbeitern und Kapitalisten liegt die Tatsache zugrunde, daß die Kapitalisten die entscheidenden Produktionsmittel besitzen und die Arbeiter (oder Angestellten), um sich die Mittel zum Kauf ihrer lebensnotwendigen Güter erwerben zu können, gezwungen sind, ihre Arbeitskraft gegen Lohn (oder Gehalt) dem Kapitalisten zu verkaufen.

Das alles: Die Menschen mit ihren Arbeitserfahrungen sowie die Produktionsinstrumente, also die Produktivkräfte, sodann die Beziehungen, die die Menschen untereinander im Produktionsprozeß eingehen, also die Produktionsverhältnisse, bilden zusammen die Produktionsweise des materiellen Lebens.

WIE UND WARUM ÄNDERT SICH DIE PRODUKTIONSWEISE?

Die Untersuchung der Geschichte zeigt, daß einer Veränderung der Produktionsverhältnisse eine Veränderung der Produktionsinstrumente und damit der Menschen, eine Veränderung der Produktivkräfte, vorangegangen ist, der sich die Produktionsverhältnisse früher oder später anpassen. Mit den modernen Produktionsinstrumenten muß man auf andere Weise arbeiten als mit dem primitiven Faustkeil. Die Anpassung der Produktionsverhältnisse an neue Produktivkräfte stellt jedoch ein besonderes Problem dar.

Im Mittelalter gehörte das entscheidende Produktionsmittel, der Grund und Boden, der Klasse des Adels. Die Bauern saßen auf dem Boden, der ihnen nicht gehörte. Sie waren Leibeigene der Adligen. Sie "durften" den Boden bestellen, auf dem sie saßen, mußten dafür aber die Ländereien des Herren bearbeiten und außerdem noch Abgaben aus dem eigenen Aufkommen an den Herrn leisten. Als sich in einigen Gebieten der Kapitalismus mit seinen neuen "Maschinen" entwickelte, da brauchte er natürlich Arbeitskräfte. Aber die saßen als Leibeigene auf dem Lande. Die neu entstehenden Produktivkräfte des jungen Kapitalismus stießen mit den alten Produktions-, letztlich Eigentumsverhältnissen des Feudalismus zusammen. Daraus erwuchs ein die ganze Gesellschaft erfassender Konflikt, ein Kamp*fder bürgerlichen Klasse gegen die Klasse der adligen Grundherren. Schließlich führte dieser Klassenkampf zu großen Revolutionen in England, Frankreich, Deutschland und anderen Ländern.

Die Produktionsweise entwickelt sich also, weil die Menscher im ununterbrochenen Produktionsprozeß die Produktionsinstrumente verbessern, - neue Kenntnisse erwerben, kurz: weil sich neue Produktivkräfte bilden, die neue Produktionsverhältnisse notwendig machen. Diese neuen Produktionsverhältnisse bilden sich jedoch nicht automatisch, sondern im gesellschaftlichen Ringen der Menschen, unter den Bedingungen der Spaltung der Gesellschaft in Klassen, im Kampf dieser Klassen, der zu gesellschaftlichen Umwälzungen führt. Das ist der wesentliche Inhalt der Geschichte.

WIE WIRKT DIE PRODUKTIONSWEISE AUF DIE GESTALT DER GESELLSCHAFTLICHEN ORDNUNG UND DIE GESELLSCHAFTLICHE GEDANKENWELT EIN?

Die materialistische Geschichtsauffassung unterscheidet an der Gesellschaft den materiellen Unterbau oder Basis (das sind die Produktionsverhältnisse) und den sich darüber erhebenden Überbau an politischen Einrichtungen und gesellschaftlichen Ideen (Philosophie, Rechtsvorstellungen, Kunst, Moral, Religion usw.). Man nennt das auch den ideologisch-politischen Überbau. Innerhalb der Gesamtgesellschaft gehen die Veränderungen letzten Endes von der Bewegung der Produktivkräfte aus. Die Änderung der Produktivkräfte bewirkt zunächst die Umgestaltung der Produktionsverhältnisse. Das hat eine Veränderung des gesamten gesellschaftlichen Lebens zur Folge. Heute wird zum Beispiel die bürgerlich-demokratische Staatsform so gern als ein absoluter Wert hingestellt. Dabei wird oft vergessen, daß diese Staatsform in England im 17. und in Frankreich im 18. Jahrhundert das Licht der Welt erblickte. Sie durchzusetzen, waren schwere geistige und schließlich auch politische Kampfe nötig, in deren Verlauf viel Blut geflossen ist. Die Ideen der bürgerlichen Demokratie wollten durchaus nicht sofort jedermann einleuchten.

In Wirklichkeit ist diese Demokratie in ihren bürgerlichen Grenzen auch durchaus kein absoluter Wert. Ihr liegt vielmehr die Herausbildung des Kapitalismus, sein Kampf um die Freiheit der Menschen von feudalen Fesseln zugrunde. Allerdings bedeutete dessen konkreter Inhalt zweierlei: Freiheit des unmittelbaren Produzenten, der noch als Leibeigener auf dem Lande saß, in die Stadt ziehen und sich dort - als Mensch, der "frei" ist von Produktionsmitteln - der Ausbeutung durch den Kapitalisten unterwerfen zu können. Diese Freiheitslosung richtete sich gegen die Welt und die Vorstellungen des Mittelalters.

Dieser bürgerlichen Demokratie liegt weiter zugrunde, daß zwischen den Kapitalisten Beziehungen der freien Konkurrenz walten. Jeder ist sein eigener Herr, der im "freien Spiel der Kräfte" den Einsatz wagt. Solche Produktionsverhältnisse widerspiegeln sich in durchaus ehrlich gemeinten und verfochtenen politischen Ideen des Kampfes um politische Freiheit der Persönlichkeit, um bestimmte Grundrechte, um ihr Recht, über die staatlichen Geschicke selbst mitzubestimmen durch Wahlen usw., kurzum in der Idee der bürgerlichen Demokratie.

Trotz der durchaus handfesten materiellen Interessen, denen die bürgerliche Demokratie ihren Ursprung verdankt, stellt sie in der Geschichte der Menschheit einen großen Fortschritt und kulturellen Wert dar, den es mit ganzer Kraft gegen die Feinde der Demokratie zu verteidigen gilt. Zur Begründung dessen genügt ein Hinweis auf die schrecklichen Verhältnisse, die herrschten als das Großkapital 1933, aus Angst vor der Arbeiterbewegung, die Demokratie durch Hitler und die Nazipartei zerstören ließ.

Aber nicht nur die politischen und rechtlichen Zustände und Vorstellungen, sondern auch solche Bereiche der gesellschaftlichen Gedankenwelt, der Ideologie, die scheinbar mit den Produktionsverhältnissen sehr wenig zu tun haben, wie Wissenschaft, Kunst, religiöse Vorstellungen, auch die moralischen Lebensregeln ändern sich in Abhängigkeit von der Entwicklung der Produktionsweise, der ökonomischen Verhältnisse.

Man darf sich allerdings die materialistische Geschichtsauffassung nicht als ein einfaches Schema vorstellen, demzufolge diese ideologischen Formen unmittelbar aus wirtschaftlichen Prozessen entstammten. Auf all diesen Gebieten spielt natürlich ebenso, wie in der wirtschaftlichen und gesamten gesellschaftlichen Entwicklung das eine große Rolle, was in den verangegangenen Zeiten geschaffen wurde. In unseren heutigen Ideen wirken noch Ideen nach, die vor Jahrtausenden entstanden sind. Die Tatsache, daß bestimmte Ideen in einer bestimmten Zeit entstanden sind und einer bestimmten Klasse gedient haben mögen, besagt noch nicht, daß diese Ideen bloße Trugbilder waren und später einfach verschwinden werden. So stecken in unseren heutigen Ideen Rest alter Ideen, die richtig und solche, die falsch waren. Viele Gedanken sind nicht unmittelbar durch wirtschaftliche, sondern durch andere gesellschaftliche Verhältnisse und Einrichtungen hervorgerufen.

"Nach materialistischer Anschauung ist das in letzter Instanz bestimmende Moment in der Geschichte die Produktion und die Reproduktion des menschlichen Lebens. Mehr haben weder Marx noch ich je behauptet. Wenn nun jemand das dahin verdreht, das ökonomische Moment sei dos einzig Bestimmende, so verwandelt er jenen Satz in eine nichtssagende, abstrakte absurde Phrase. Die ökonomische Lage ist die Basis, aber die verschiedenen Momente des Überbaus - politische Formen des Klassenkampfes und seine Resultate -, Verfassungen, nach gewonnener Schlacht durch die siegende Klasse festgestellt usw., Rechtsformen und nun gar die Reflexe aller dieser wirklichen Kämpfe im Gehirn der Beteiligten, politischen, juristische und philosophische Theorien, religiöse Anschauungen und deren Weiterentwicklung zum Dogmensystem, Üben auch ihre Einwirkung auf den Verlauf der geschichtlichen mpfe aus und bestimmen in vielen Fällen vorwiegend deren Form. Es ist eine Wechselwirkung aller dieser Momente, worin schließlich durch all die unendliche Menge von Zufälligkeiten (d.h. von Dingen und Ereignissen, deren innerer Zusammenhang untereinander so entfernt oder so unerreichbar ist, daß wir ihn als nicht vorhanden betrachten und vernachlässigen können) als notwendig sich die ökonomische Bewegung durchsetzt. Sonst wäre die Anwendung der Theorie auf eine beliebige Geschichtsperiode ja leichter als die Lösung einer einfachen Gleichung ersten Grades." (Friedrich Engels, Briefen J. Bloch vom 21.9.1890, in Marx/Engels, Ausgewählte Werke in 2 Bänden, Bd. II, S. 458/9).

Materialistische Geschichtsauffassung bedeutet also nicht, zu einer Idee mechanisch eine wirtschaftliche Grundlage zu suchen. Es wäre zum Beispiel lächerlich, wollte man zu den religiösen Auffassungen, die teilweise Jahrtausende alt sind, in der heutigen Produktionsweise eine unmittelbare Grundlage suchen. Und selbst damals, als die religiösen Vorstellungen entstanden, lagen ihnen nicht nur ökonomische Verhältnisse zugrunde.

Engels nennt in seiner Schrift Über Feuerbach unter den Gründen für die Entstehung der Religion "gänzliche Unwissenheit" der Menschen "Über ihren eigenen Körperbau", "Traumerscheinungen", die die Vorstellung weckten, das "Denken und Empfinden sei nicht eine Tätigkeit ihres Körpers, sondern einer besonderen, in diesem Körper wohnenden und ihn beim Tode verlassenden Seele", "Personifikation der Naturmächte" usw. Das sind nun gewiß keine unmittelbar ökonomischen Wurzeln.

Oder betrachten wir die Ideen eines Kunstwerkes, etwa von Goethes "Faust". Faust, der Mensch, den die Erfüllung keines Wunsches befriedigt, der nur in der Vorahnung späterer Aus- • Wirkung seiner Tätigkeit Gluck empfindet, ist naturlich bis zu einem gewissen Grad die künstlerische Personifikation des fUr den aufsteigenden Kapitalismus kennzeichnenden rastlosen Strebens nach immer größerer Ausweitung. Aber es wäre unsinnig und geradezu ein Zerrbild der materialistischen Geschichtsauffassung, wollte man im "Faust" nur diesen einen Gedanken wirken sehen, wollte man die sich darin widerspiegelnde Fülle des damaligen gesellschaftlichen Lebens, das Nachwirken jahrtausende alter Gedanken sowie Vorahnungen künftiger Kenntnisse und künftiger menschlicher Lebensprobleme übersehen.

Es ist vielmehr so: alle das gesellschaftliche Leben bestimmenden Umstände sind letzten Endes auf die Entwicklung der materiellen Produktionsweise zurückzuführen. Nichts kann sich auf die Dauer behaupten, was dieser Entwicklung widerspricht. Darum ist die Haupttriebkraft der Geschichte die Produktionsweise der materiellen Güter, die sowohl die Produktivkräfte als auch die Produktionsverhältnisse umfaßt. Die Produktionsverhältnisse bilden die materielle oder reale Basis der Gesellschaft, auf der sich ein politisch-ideologischer Überbau erhebt. Die Produktionsweise bestimmt die gesamte gesellschaftliche Lebensweise, der auch die Denkweise der Menschen einer Zeit: Philosophie, Rechtsanschauung, Moral, Kunst, Religion entspricht. Die Entwicklung der Produktionsweise bestimmt die Entwicklung der ganzen Gesellschaft. Das ist die Grundlage, auf der sich die geschichtliche Gesetzmäßigkeit entfaltet.

Wirwollen nunabschließend jene berühmten Sätze zitieren, in denen Karl Marx eine knappe Zusammenfassung dieser neuen Geschichtsauffassung dargelegt hat:

"... Meine Untersuchung mündete in dem Ergebnis, daß Rechtsverhältnisse wie Staatsformen weder aus sich selbst zu begreifen sind noch aus der sogenannten allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern vielmehr in den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln, deren Gesamtheit Hegel, nach dem Vorgang der Engländer und Franzosen des 18. Jahrhunderts, unter dem Namen "bürgerliche Gesellschaft" zusammenfaßt, daß aber die Anantomie der bürgerlichen Gesellschaft in der politischen Ökonomie zu suchen sei. Die Erforschung der letzteren, die ich in Paris begann, setzte ich fort zu Brüssel, wohin ich infolge eines Ausweisungsbefehls des Herren Guizot übergewandert war. Das allgemeine Resultat, das sich mir ergab und, einmal gewonnen, meinen Studien zum Leitfaden diente, kann kurz so formuliert werden: In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaut. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt. Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um. In der Betrachtung solcher Umwälzungen muß man stets unterscheiden zwischen der materiellen naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen und den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konflikts bewußt werden und ihn ausfechten. Sowenig man das, was ein Individuum ist, nach dem beurteilt, was es sich selbst dünkt, ebensowenig kann man eine solche Umwälzungsepoche aus ihrem Bewußtsein aus den Widersprüchen des materiellen Lebens, aus dem vorhandenen Konflikt zwischen gesellschaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erklären. Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind. Daher stellt sich die Menschheit immer nur Aufgaben, die sie lösen kann, denn genauer betrachtet wird sich stets finden, daß die Aufgabe selbst nur entspringt, wo die materiellen Bedingungen ihrer Lösung schon vorhanden oder wenigstens im Prozeß ihres Werdens begriffen sind. In großen Umrissen können asiatische, antike, feudale und modern bürgerliche Produktionsweisen als progressive Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation bezeichnet werden. Die bürgerlichen Produktionsverhältnisse sind die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, antagonistisch nicht im Sinn von individuellem Antagonismus, sondern eines aus den gesellschaftlichen Lebensbedingungen der Individuen hervorwachsenden Antagonismus, aber die im Schoß der bürgerlichen Gesellschaft sich entwickelnden Produktivkräfte schaffen zugleich die materiellen Bedingungen zur Lösung dieses Antagonismus. Mit dieser Gesellschaftsformation schließt daher die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft ab." (Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, Vorwort, in Marx/Engels, Ausgewählte Schriften in 2 Bänden, Bd. l, Berlin 1957, S. 338/9).

Editorische Anmerkung

Marxistische Lehrbriefe, Serie E. Das moderne Weltbild, Nr. 1, Frankfurt a. M.  1968; Herausgeber: August-Bebel-Gesellschaft e. V.

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