Täuschungsmodule
Agenda Ausgrenzung: Zum fünften Jahrestag der Einsetzung der Hartz-Kommission

von Antonin Dick

03/07

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Vor fünf Jahren, am 22. Februar 2002, wurde seitens der »rotgrünen« Bundesregierung die Hartz-Kommission (HK) eingesetzt. 14 Tage später schrieb ich dem Vorsitzenden Peter Hartz einen Brief: »Wird hier nicht die sattsam bekannte ›Reform von oben‹ betrieben? Warum ist kein Angehöriger der gesellschaftlichen Gruppe in der Kommission, um die es doch im Kern geht? Woher wollen Sie Ihr empirisches Wissen über die reale Lage der Arbeitslosen beziehen?« Auf eine Antwort warte ich bis heute. Kürzlich interviewte ich das HK-Mitglied Heinz Fischer, damals Personalvorstand Deutsche Bank. Er pflichtete mir in der Kritik am Ausschluß von Arbeitslosenvertretern bei.

Im Spätsommer 2002 legte die Kommission ihr Arbeitsergebnis vor: 13 »Innovationsmodule«. Damit sollte die Zahl der Arbeitslosen bis 2005 halbiert werden? »Schaumschlägerei«, polterte Hermann Scherl von der Uni Erlangen. Um von der wahren Absicht abzulenken, ist hinzuzufügen. Zwei Täuschungsmodule mit dem Etikett »Senkung der Arbeitslosenzahl um eine Million« gingen zunächst als Großtaten durch, verschwanden dann in der Versenkung: die »PersonalServiceAgenturen« und die »Ich-AGs«. Aus 4296000 Arbeitslosen im Februar 2002 wurden 5216000 im Februar 2005. Im vergangenen Januar waren es 4247000. Von welcher Absicht aber sollte abgelenkt werden?

Unter Tage

Dringlichster Auftrag des Bundeskanzlers Gerhard Schröder war die Durchsetzung eines rechtsfähigen Konstrukts, das Millionen Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern garantierte Menschenrechte aberkennt. Heute ist dieses Konstrukt einschlägig bekannt unter dem blockhaften, grammatikalisch geschlechtslosen Namen »Hartz IV«.

Artikel 5 Abs. 2 der EU-Charta der Grundrechte: »Niemand darf gezwungen werden, Zwangs- oder Pflichtarbeit zu verrichten.« – »Hartz IV« basiert auf Zwangsarbeit. Artikel 13 Abs. 1 Grundgesetz: »Die Wohnung ist unverletzlich.« – »Hartz IV«-Inspektoren durchsuchen Arbeitslosenwohnungen. Artikel 8 Abs. 1 der EU-Charta der Grundrechte: »Jede Person hat das Recht auf Schutz der sie betreffenden personengebundenen Daten.« – »Hartz IV« bricht sogar das Arztgeheimnis. Artikel 2 Abs. 1 Grundgesetz: »Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.« – »Hartz IV« basiert auf Verfolgungsbetreuung. Artikel 11 Abs. 1 Grundgesetz: »Alle Deutschen genießen Freizügigkeit im ganzen Bundesgebiet.« – »Hartz IV« basiert auf Präsenzpflicht. Artikel 21 Abs. 1 Grundgesetz billigt allen Bürgern das Recht auf »politische Willensbildung« zu. – »Hartz IV« schließt Millionen Menschen aus dem politischen Willensbildungsprozeß aus. Der Großunternehmer Götz Werner bringt den sozialen Status der Hartz-Selektierten auf den Punkt: »Freigänger im Strafvollzug.«

In seinem neuen Roman »Kali« verdichtet Peter Handke die Situation der Ausgestoßenen zu einer beklemmenden Metapher: Sie vegetieren in einem Bergwerk. Hannah Arendt charakterisiert die Lage der Menschenrechtlosen in modernen Menschenrechtsstaaten in ihrem Hauptwerk »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft«. »Egal, ob sie in Internierungslagern oder in Freiheit sich bewegen«, schreibt die Politikwissenschaftlerin, »sie haben die Bezüge zu der von den Menschen errichteten Welt und zu allen jenen Bezirken menschlichen Lebens, die das Ergebnis gemeinsamer Arbeit sind, verloren.« Der wesentliche Grund dieser Ausgrenzung ist laut Arendt kein ökonomischer. Berechnungen des besagten Großunternehmers Götz Werner, des thüringischen Ministerpräsidenten Dieter Althaus oder der brasilianischen Regierung scheinen das zu bestätigen: Ein bedingungsloses Grundeinkommen für jeden Bürger wäre auch ökonomisch sinnvoll, bei aller Entschärfung der Konkurrenz. Welchen Grund gibt es dann für die Ausgrenzung?

1998 von einer Sympathiewelle Andersdenkender an die Macht gespült, verwandelten sich die Schröders und Fischers schnell in neoliberale Verfechter eines deutschen Dominanzstaates. Die kampferprobten Alternativen, zu denen sie einst gehörten, begannen, politische Alternativen zu entwickeln. Bald dämmerte es den Regierenden, daß ihren Gegenspielern aus den radikaldemokratischen Milieus im Westen und den sozialistischen im Osten auf keinen Fall die Millionen von arbeitslosen Arbeitern und Angestellten zuströmen durften. Diese Verlierer von Globalisierung und »Reichseinheit« mußten paralysiert, d. h. der Fähigkeit zur politischen Artikulation beraubt werden. Die Verhinderung eines nach innen und außen wahrhaft demokratischen Deutschland war die eigentliche Agenda des Bundeskanzlers.

»Na bitte.«

Die »rotgrüne« Regierung folgte dabei einem Gesetz von universeller Gültigkeit. Hannah Arendt: »Seit den Römern ist uns bekannt, daß ein hochentwickeltes öffentliches Leben (...) eine Art Groll gegen das (entwickelt), was Menschen nicht gemacht haben und nicht machen können und von dem sie doch immer abhängig bleiben; politisch äußert sich dieser Groll am deutlichsten in dem Unbehagen daran, daß ein jeder von uns ist, wie er ist, einzigartig, unnachahmlich, unveränderbar. Die zivilisierte Gesellschaft hat all dies in ihr Privatleben verwiesen, weil diese gegebene Einzigartigkeit alles menschlichen Daseins eine dauernde Bedrohung des öffentlichen Lebens darstellt.« Die grollenden Schröders und Fischers haben dieses Gesetz auf die Spitze getrieben, indem sie den Widerspruch zwischen dem Zivilisatorischen und Barbarischen, der jedes Mitglied einer Zivilgesellschaft konstituiert, in eine personelle Aufteilung zwischen Zivilisierten und Barbaren transformierten. Damit wurden sie zu blinden Werkzeugen einer gefährlichen Regression, in der eine »zivilisatorische Welt Barbaren aus sich selbst heraus produziert, indem sie in einem inneren Zersetzungsprozeß ungezählte Millionen von Menschen in Lebensumstände stößt, die essentiell die gleichen sind wie die (…) außerhalb aller Zivilisation lebender Barbaren«.

Bleibt folgender Nachtrag: Zwölf der ehemaligen Mitglieder der Hartz-Kommission ersuchte ich um eine Stellungnahme zur Arbeit des Gremiums. Fünf reagierten. Zwei gewährten mir ein Interview, eines gewährte mir ein Interview mit einem Mitarbeiter, eines verwies mich auf eine Publikation, eines verweigerte jegliche Auskunft. Von den drei Gesprächen war das mit Jobst Fiedler, Seminardirektor der Hertie School of Governance, das produktivste. Wir kamen rasch zum Thema ›Selbsttätigkeit der Individuen‹ und begannen mit der Auslotung gesellschaftlicher Gegenentwürfe zu »Hartz IV«.

Ingesamt gab es damals 15 HK-Mitglieder. Nur eines war eine Frau. Kein Mitglied stammte aus einer Familie von Einwanderern. Von den zwei Gewerkschaftsvertretern ist einer inzwischen auf die Unternehmerseite übergelaufen. Nach Ablieferung der 13 »Innovationsmodule« an den Bundeskanzler haben sich die HK-Mitglieder nie wieder getroffen. Angesichts der ständigen Überprüfung der Kommissionsvorgaben durch staatliche und gesellschaftliche Institutionen unserer Demokratie sei das auch nicht erforderlich, äußerte der Leiter der Abteilung Arbeitsmarkt, Tarifpolitik und Arbeitsrecht des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks, Jan Dannenbring, im Interview. »Wäre es nicht produktiv, wenn sich die 15 Mitglieder anläßlich des fünften Jahrestages der Kommissionsgründung zwecks kritischer Aufarbeitung zu einem Streitgespräch träfen und danach die interessierte Öffentlichkeit informierten?« fragte ich. »Kennen Sie eine Kommission, die nach Abschluß ihrer Tätigkeit noch mal zusammengekommen ist?« »Nein.« »Na bitte.« Wir lachten. »Aber wäre das nicht mal eine wirkliche Innovation?« Die Systemdemokratie der vierten deutschen Republik muß durch eine experimentelle Demokratie ergänzt werden, oder sie wird keinen Bestand haben.
 

Editorische Anmerkung

Der Artikel wurde uns vom Autor zur Verfügung gestellt.