Vor fünf Jahren, am 22. Februar 2002, wurde seitens der
»rotgrünen« Bundesregierung die Hartz-Kommission (HK)
eingesetzt. 14 Tage später schrieb ich dem Vorsitzenden Peter
Hartz einen Brief: »Wird hier nicht die sattsam bekannte ›Reform
von oben‹ betrieben? Warum ist kein Angehöriger der
gesellschaftlichen Gruppe in der Kommission, um die es doch im
Kern geht? Woher wollen Sie Ihr empirisches Wissen über die
reale Lage der Arbeitslosen beziehen?« Auf eine Antwort warte
ich bis heute. Kürzlich interviewte ich das HK-Mitglied Heinz
Fischer, damals Personalvorstand Deutsche Bank. Er pflichtete
mir in der Kritik am Ausschluß von Arbeitslosenvertretern bei.
Im Spätsommer 2002 legte die Kommission ihr Arbeitsergebnis vor:
13 »Innovationsmodule«. Damit sollte die Zahl der Arbeitslosen
bis 2005 halbiert werden? »Schaumschlägerei«, polterte Hermann
Scherl von der Uni Erlangen. Um von der wahren Absicht
abzulenken, ist hinzuzufügen. Zwei Täuschungsmodule mit dem
Etikett »Senkung der Arbeitslosenzahl um eine Million« gingen
zunächst als Großtaten durch, verschwanden dann in der
Versenkung: die »PersonalServiceAgenturen« und die »Ich-AGs«.
Aus 4296000 Arbeitslosen im Februar 2002 wurden 5216000 im
Februar 2005. Im vergangenen Januar waren es 4247000. Von
welcher Absicht aber sollte abgelenkt werden?
Unter Tage
Dringlichster Auftrag des Bundeskanzlers Gerhard Schröder war
die Durchsetzung eines rechtsfähigen Konstrukts, das Millionen
Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern garantierte
Menschenrechte aberkennt. Heute ist dieses Konstrukt einschlägig
bekannt unter dem blockhaften, grammatikalisch geschlechtslosen
Namen »Hartz IV«.
Artikel 5 Abs. 2 der EU-Charta der Grundrechte: »Niemand darf
gezwungen werden, Zwangs- oder Pflichtarbeit zu verrichten.« – »Hartz
IV« basiert auf Zwangsarbeit. Artikel 13 Abs. 1 Grundgesetz:
»Die Wohnung ist unverletzlich.« – »Hartz IV«-Inspektoren
durchsuchen Arbeitslosenwohnungen. Artikel 8 Abs. 1 der
EU-Charta der Grundrechte: »Jede Person hat das Recht auf Schutz
der sie betreffenden personengebundenen Daten.« – »Hartz IV«
bricht sogar das Arztgeheimnis. Artikel 2 Abs. 1 Grundgesetz:
»Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner
Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und
nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz
verstößt.« – »Hartz IV« basiert auf Verfolgungsbetreuung.
Artikel 11 Abs. 1 Grundgesetz: »Alle Deutschen genießen
Freizügigkeit im ganzen Bundesgebiet.« – »Hartz IV« basiert auf
Präsenzpflicht. Artikel 21 Abs. 1 Grundgesetz billigt allen
Bürgern das Recht auf »politische Willensbildung« zu. – »Hartz
IV« schließt Millionen Menschen aus dem politischen
Willensbildungsprozeß aus. Der Großunternehmer Götz Werner
bringt den sozialen Status der Hartz-Selektierten auf den Punkt:
»Freigänger im Strafvollzug.«
In seinem neuen Roman »Kali« verdichtet Peter Handke die
Situation der Ausgestoßenen zu einer beklemmenden Metapher: Sie
vegetieren in einem Bergwerk. Hannah Arendt charakterisiert die
Lage der Menschenrechtlosen in modernen Menschenrechtsstaaten in
ihrem Hauptwerk »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft«.
»Egal, ob sie in Internierungslagern oder in Freiheit sich
bewegen«, schreibt die Politikwissenschaftlerin, »sie haben die
Bezüge zu der von den Menschen errichteten Welt und zu allen
jenen Bezirken menschlichen Lebens, die das Ergebnis gemeinsamer
Arbeit sind, verloren.« Der wesentliche Grund dieser Ausgrenzung
ist laut Arendt kein ökonomischer. Berechnungen des besagten
Großunternehmers Götz Werner, des thüringischen
Ministerpräsidenten Dieter Althaus oder der brasilianischen
Regierung scheinen das zu bestätigen: Ein bedingungsloses
Grundeinkommen für jeden Bürger wäre auch ökonomisch sinnvoll,
bei aller Entschärfung der Konkurrenz. Welchen Grund gibt es
dann für die Ausgrenzung?
1998 von einer Sympathiewelle Andersdenkender an die Macht
gespült, verwandelten sich die Schröders und Fischers schnell in
neoliberale Verfechter eines deutschen Dominanzstaates. Die
kampferprobten Alternativen, zu denen sie einst gehörten,
begannen, politische Alternativen zu entwickeln. Bald dämmerte
es den Regierenden, daß ihren Gegenspielern aus den
radikaldemokratischen Milieus im Westen und den sozialistischen
im Osten auf keinen Fall die Millionen von arbeitslosen
Arbeitern und Angestellten zuströmen durften. Diese Verlierer
von Globalisierung und »Reichseinheit« mußten paralysiert, d. h.
der Fähigkeit zur politischen Artikulation beraubt werden. Die
Verhinderung eines nach innen und außen wahrhaft demokratischen
Deutschland war die eigentliche Agenda des Bundeskanzlers.
»Na bitte.«
Die »rotgrüne« Regierung folgte dabei einem Gesetz von
universeller Gültigkeit. Hannah Arendt: »Seit den Römern ist uns
bekannt, daß ein hochentwickeltes öffentliches Leben (...) eine
Art Groll gegen das (entwickelt), was Menschen nicht gemacht
haben und nicht machen können und von dem sie doch immer
abhängig bleiben; politisch äußert sich dieser Groll am
deutlichsten in dem Unbehagen daran, daß ein jeder von uns ist,
wie er ist, einzigartig, unnachahmlich, unveränderbar. Die
zivilisierte Gesellschaft hat all dies in ihr Privatleben
verwiesen, weil diese gegebene Einzigartigkeit alles
menschlichen Daseins eine dauernde Bedrohung des öffentlichen
Lebens darstellt.« Die grollenden Schröders und Fischers haben
dieses Gesetz auf die Spitze getrieben, indem sie den
Widerspruch zwischen dem Zivilisatorischen und Barbarischen, der
jedes Mitglied einer Zivilgesellschaft konstituiert, in eine
personelle Aufteilung zwischen Zivilisierten und Barbaren
transformierten. Damit wurden sie zu blinden Werkzeugen einer
gefährlichen Regression, in der eine »zivilisatorische Welt
Barbaren aus sich selbst heraus produziert, indem sie in einem
inneren Zersetzungsprozeß ungezählte Millionen von Menschen in
Lebensumstände stößt, die essentiell die gleichen sind wie die
(…) außerhalb aller Zivilisation lebender Barbaren«.
Bleibt folgender Nachtrag: Zwölf der ehemaligen Mitglieder der
Hartz-Kommission ersuchte ich um eine Stellungnahme zur Arbeit
des Gremiums. Fünf reagierten. Zwei gewährten mir ein Interview,
eines gewährte mir ein Interview mit einem Mitarbeiter, eines
verwies mich auf eine Publikation, eines verweigerte jegliche
Auskunft. Von den drei Gesprächen war das mit Jobst Fiedler,
Seminardirektor der Hertie School of Governance, das
produktivste. Wir kamen rasch zum Thema ›Selbsttätigkeit der
Individuen‹ und begannen mit der Auslotung gesellschaftlicher
Gegenentwürfe zu »Hartz IV«.
Ingesamt gab es damals 15 HK-Mitglieder. Nur eines war eine
Frau. Kein Mitglied stammte aus einer Familie von Einwanderern.
Von den zwei Gewerkschaftsvertretern ist einer inzwischen auf
die Unternehmerseite übergelaufen. Nach Ablieferung der 13
»Innovationsmodule« an den Bundeskanzler haben sich die
HK-Mitglieder nie wieder getroffen. Angesichts der ständigen
Überprüfung der Kommissionsvorgaben durch staatliche und
gesellschaftliche Institutionen unserer Demokratie sei das auch
nicht erforderlich, äußerte der Leiter der Abteilung
Arbeitsmarkt, Tarifpolitik und Arbeitsrecht des Zentralverbandes
des Deutschen Handwerks, Jan Dannenbring, im Interview. »Wäre es
nicht produktiv, wenn sich die 15 Mitglieder anläßlich des
fünften Jahrestages der Kommissionsgründung zwecks kritischer
Aufarbeitung zu einem Streitgespräch träfen und danach die
interessierte Öffentlichkeit informierten?« fragte ich. »Kennen
Sie eine Kommission, die nach Abschluß ihrer Tätigkeit noch mal
zusammengekommen ist?« »Nein.« »Na bitte.« Wir lachten. »Aber
wäre das nicht mal eine wirkliche Innovation?« Die
Systemdemokratie der vierten deutschen Republik muß durch eine
experimentelle Demokratie ergänzt werden, oder sie wird keinen
Bestand haben.
Editorische Anmerkung
Der Artikel wurde uns vom Autor zur
Verfügung gestellt.