Die Prekarisierten melden sich zu Wort
Auf dem Tribunal gegen Armut und Elend blieben die Betroffenen weitgehend unter sich


von
Peter Nowak
03/06

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onlinezeitung

„So hättet Ihr uns gerne – so wollt Ihr uns sehen, uns junge, alte Frauen. Unauffällig, fast unscheinbar, bescheiden, an Armut gewohnt“. Im grauen Mantel blickt die Frau verschämt in die Runde. Doch schon wenige Sekunden später hat sie den Mantel gegen eine trendige Jacke ausgetauscht. „So seht Ihr und auch -. hinter dem Jugendlichkeitswahn herhechelnd“, wirft die Frau selbstbewusst in die Runde, bevor sie abermals die Rolle wechselt.  „Da wir weder Zukunftsforschungsinstitute noch ein Wirtschaftsinstitut als Lobby hinter uns haben, klagen wir die Regierung und die ignoranten Teile der Republik an, die für die Vermehrung unserer Armut verantwortlich sind.“

Mit dem „kurzen Akt in 3 Kostümen“ eröffnete Eva Willig am Donnerstagabend im Rathaus Neukölln das von der Erwerbsloseninitiative Neukölln (Erwin) organisierte Tribunal gegen Armut und Elend“. Angeklagt ist die Bundesrepublik Deutschland wegen der Verletzung der Verfassung, sowie der EU- und UN-Menschenrechtskonvention.  Wie bei einem richtigen Prozess wurden ZeugInnen und Sachverständige geladen und der Erwerbslosen-Aktivist Rainer Urban ging in der Rolle des Richters sichtlich auf. Bei der Mitteilung, dass die Angeklagte keinen Vertretung geschickt hat und auf die Aufforderung zur Stellungnahme nicht einmal reagierte, bekam seine Stimme einen tadelnden Unterton.

In dem vollbesetzten Rathaussaal hatte sich der Querschnitt der ErwerbslosenaktivistInnen versammelt, die im Jahr 2004 gegen Hartz IV auf  die Straße gegangen waren. Die meisten von ihnen haben sicher nichts neues gehört, als die Sachverständigen und ZeugInnen über wachsende Armut in Deutschland berichteten. Im Mittelpunkt stand die Altersarmut.

Auch Hans Klingbeil von der Bundesversicherungsanstalt konnte keine optimistischen Prognosen bieten. Für seinen halb scherzhaft gemeinten Tipp das Geld für die Alterssicherung in Dubai anzulegen, erntete er allerdings Widerspruch aus dem Publikum.

Man wolle sich nicht individuell durchwursteln sondern Widerstandsperspektiven entwickeln. Deswegen hat man sich auch mit Betroffeneninitiativen in 5 anderen Städten vernetzt, die ebenfalls ein Tribunal organisieren. Aus Erfurt, wo das Tribunal am vergangenen Samstag tagte, überbrachte ein Vertreter der“ Initiative gegen Billiglohn“ neben solidarischen Grüße auch einen Preis. Der ging allerdings an die in Berlin ansässige Sicherheitsfirma Gegenbauer, das als unsoziales Unternehmen mit der Goldenen Nase ausgezeichnet wurde. Sie habe Gewerkschaftler entlassen und zahle extrem niedrige Löhne, hieß es in der Laudatio. Die Firma ignorierte die Preisverleihung. Doch zumindest die von der Linkspartei gestellten SenatorInnen ignorierten die Betroffenen nicht. Als Vertreterin des Wirtschaftssenators hörte sich Katina Schubert und für die Sozialsenatorin Pia Maier die Sorgen und Ängste der Erwerbslosen an.  Besonders das Fehlen von Neuköllner BezirkspolitikerInnen sorgte bei den OrganisatorInnen des Tribunals für Unmut. „Wir müssen doch wieder auf die Straße gehen, hörte man öfter. Dazu wird es in Neukölln in der nächsten Zeit Gelegenheit geben. Am 11.April plant die Freie ArbeiterInnen Union (FAU) eine Kundgebung vor der Neuköllner Arbeitsagentur. Am 28.April ist ein Aktionstag gegen Hartz IV und Zwangsräumungen mit einer Videokundgebung vor dem Neuköllner Rathaus in Vorbereitung. Am ersten Mai schließlich wird die erste Berliner Euro-Mayday-Parade von Kreuzberg nach Neukölln ziehen. Dieser in Protestevent hat seine Wurzeln in Italien und Spanien und wurde dort von den Prekarisierten organisiert. Das ist das moderne Wort für Menschen mit unsicheren Lebens- und Beschäftigtenverhältnissen. Schade das die OrganisatorInnen nicht schon mit Titel diese aktuellen Debatten mit aufgenommen haben. Denn bei den Begriffen Armut und Elend denken viele Menschen doch noch zu stark an Zilles Hinterhofmilieu und Suppenküche.

Andererseits war es auffällig, dass jene Linken, die heute so viel von Prekarisierung reden und gar das Prekariat ausrufen wollen, auf dem Tribunal fehlten. Dabei hätten sie mal die Gelegenheit gehabt, zu sehen, dass das prekäre Armuts- und Lebensverhältnisse wahrlich nichts Neues sind. Neu ist lediglich, dass sich diese prekären Verhältnisse mittlerweile ausgebreitet haben und Kreise betroffen sind, die es sich noch vor Jahren nicht vorgestellt hätten. Dabei sollen aber die Menschen nicht vergessen werden, die schon lange prekär leben und arbeiten. Das Tribunal in Neukölln hat ihnen ein Forum gegeben. Weitere Tribunale sind geplant: am 21. März in Marburg, am 24.25.03.06 in Nürnberg und Mitte April in Frankfurt/Main.

Mehr Infos zum Tribunal gegen Armut und Elend finden sich unter:
http://www.pariser-kommune.de/llx/berliner_tribunal_gegen_armut_und_elend.html

Editorische Anmerkungen

Der Artikel wurde uns vom Autor am 19.3.2006 zur Verfügung gestellt.