Ökonomenlexikon
Mandel, Ernest
(Pseudonym: Germain, Pierre Gousset)

von Klaus O.W. Müller & Rolf Sieber

03/06

trend
onlinezeitung

Geboren am 4.4. 1923 in Frankfurt a.M.; belgischer neotrotzkistischer Ideologe, einer der führenden politökonomischen Vertreter des gegenwärtigen Linksradikalismus. (verstorben 20. Juli 1995 in Brüssel - red. trend)

M., der sich selbst als »flämischer Internationalist jüdischer Herkunft« bezeichnet, verlebte Kindheit und Jugend in Antwerpen. Während des zweiten Weltkrieges wurde er als Führer einer trotzkistischen Gruppe in Belgien von den Faschisten verfolgt, nach Deutschland verschleppt und bis April 1945 in Zuchthäusern und Konzentrationslagern gefangen gehalten. Nach dem zweiten Weltkrieg war er zunächst journalistisch tätig sowie von 1954 bis 1963 als wirtschaftswissenschaftlicher Sachverständiger beim belgischen Gewerkschaftsbund FGTB. M. schloß 1967 sein durch den Krieg unterbrochenes Studium der Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Univ. Sorbonne in Paris ab und promovierte 1972 an der Westberliner Freien Univ. zum Dr. phil. Er ist seit 1970 Prof. an der Univ. Brüssel. Verschiedene Berufungen an Univ. in der BRD oder Westberlin wurden aus politischem Gründen verhindert. Ein Einreiseverbot in die BRD vom Jahre 1972 wurde 1980 aufgehoben. M. ist führender Theoretiker der trotzkistischen IV. Internationale; 1977 erfolgte seine Aufnahme in das PEN-Zentrum der BRD.  M.s Einfluß als einer der führenden Ideologen des gegenwärtigen Linksradikalismus, einer pseudolinken politisch-ideologischen Strömung, wurde vor allem in den 70er Jahren nach dem Scheitern der Auffassungen der Repräsentanten der Frankfurter Schule" von der angeblich revolutionären Impotenz der Arbeiterklasse (Marcuse) im Ergebnis der machtvollen Streik- und Kampfaktionen der französischen Arbeiterklasse während des »Pariser Frühlings« vom Mai 1968 immer intensiver.

M. tritt als »wahrer« Marxist auf, und zwar in direkter Konfrontation zur Theorie und Praxis des Marxismus-Leninismus. Er bewegt sich auf pseudomarxistischen Positionen. Er ist prononcierter Gegner des real existierenden Sozialismus, den er, in Anlehnung an Leo Trotzki, als eine Art von Übergangsgesellschaft mit bürokratischem Wesen verketzert. Dem imperialistischen System tritt er ebenfalls kritisch gegenüber. M.s politökonomische Theorie stellt eine bunte Mischung von Elementen der traditionellen bürgerlichen und kleinbürgerlichen politischen Ökonomie, von Postulaten einer angeblich weiterentwickelten, aber in Wirklichkeit verfälschten und vulgarisierten marxistisch-leninistischen politischen Ökonomie und von zum Teil richtig rezipierten Bestandteilen der proletarischen politischen Ökonomie (gewichtige Aspekte der Imperialismuskritik, detaillierte Kultur- und Sozialkritik des heutigen Kapitalismus) dar.

Durch intensive Aktivitäten im politischen Kampf sowie auf propagandistischem Gebiet versucht M. seinen Einfluß insbesondere auf Kreise der Intellektuellen, aber auch in der Arbeiterbewegung (Gewerkschaften) in der »Dritten Welt« zu erweitern. Er versteht sich selbst als »Erneuerer« der politischen Ökonomie der Arbeiterklasse und glaubt, dafür eine »wahre« und »weiterentwickelte« marxistische politische Ökonomie zu liefern. Er verwendet zwar eine Fülle von Fakten sowohl aus der Entwicklungsgeschichte des Kapitalismus als auch aus der Gegenwart des Imperialismus, doch hinter manch realistischer Beschreibung und Analyse von Details und Vorgängen verbergen sich prinzipielle Schwächen und Fehler. Die einzelnen politökonomischen Kategorien bleiben voneinander isoliert, und ihr innerer Zusammenhang, der erst die Entwicklungsgesetze der kapitalistischen Produktionsweise bloßzulegen hilft und damit die Schranken des Kapitalismus aufzeigt, bildet nicht die logische Konsequenz der M.schen Darstellungsmethode. Den realen Sozialismus verketzert M. als »Gesellschaft der Übergangsperiode«, eine dem Wesen nach angeblich unbestimmte Situation der Menschheit, in der zwar der Kapitalismus zerstört sei, aber dieses Gebilde stelle auch noch keinen Sozialismus dar. Vor der Weltrevolution, so behaupten M. und andere moderne Trotzkisten, könne kein Sozialismus aufgebaut werden. Die Kritik M.s am »bürokratischen« Sozialismus zeigt, daß er die Dialektik der Entwicklung und die Kompliziertheit der Aufgaben beim Aufbau und der ständigen Vervollkommnung des realen Sozialismus, insbesondere bei der Schaffung der materiell-technischen Basis des Sozialismus und beim Übergang zum intensiven Typ der erweiterten sozialistischen Reproduktion, nicht begreift. M.s antisozialistische Polemik mündet in den bereits von manchen bürgerlichen Politökonomen begründeten angeblichen »Konflikt zweier antagonistischer Wirtschaftslogiken: der Logik des Planes und der Logik des Marktes« (Zehn Thesen zur sozialökonomischen Gesetzmäßigkeit der Übergangsgesellschaft, S. 20). M.s antisozialistisches Konzept ist untrennbar mit konterrevolutionären, Ideen und Forderungen verbunden.

Publikationen: Traite d'economie marxiste. 2 Bde., Paris 1962 (4 Bde., Paris 1969; dt.: Marxistische Wirtschaftstheorie. 2 Bde., Frankfurt a. M. 1968); La formation de la pensee economique de Karl Marx de 1843 jusqui ä la redaction du »Capital«, Paris 1967 (dt.: Entstehung und Entwicklung der ökonomischen Lehre von Karl Marx [1843-1863], Frankfurt a. M., Wien 1968); Die EWG und die Konkurrenz Europa-Amerika. 1968 (Reinbek b. Hamburg 1982 u.d.i.: Amerika und Europa: Widersprüche des Imperialismus); Initiation ä la Iheorie economique marxiste, Paris 1968 (dt.: Einführung in die marxistische Wirtschaftstheorie, Frankfurt a. M. 1969); Die deutsche Wirtschaftskrise: Lehren der Rezession 1966/67, Frankfurt a.M. 1969; Arbeiterkontrolle, Arbeiterräte. Arbeiter-Selbstverwaltung, Frankfurt a. M. 1971; Der Spätkapitalismus, Frankfurt a. M. 1972; Lenin und das Problem des proletarischen Klassenbewußtseins, Zürich 1972; Der Sturz des Dollars (Teils.), Berlin (West) 1973; Zehn Thesen zur sozialökonomischen Gesetzmäßigkeit der Übergangsgesellschaft zwischen Kapitalismus und Sozialismus. In: Probleme des Sozialismus und der Übergangsgesellschaften, hg. von P. Hennecke, Frankfurt a. M. 1973; Über die Bürokratie, Hamburg 1974; Politische Ökonomie der Übergangsperiode (Teils.), Hamburg 1974; Zur Theorie der Übergangsgesellschaft, Hamburg 1974; Die Rolle der Intelligen?, im Klassenkampf, Frankfurt a.M. 1975; Weltwirtschaftsrezession und BRD-Krise 1974/75 (mit W. Wolf), Frankfurt a. M. 1976; Ende der Krise oder Krise ohne Ende? Bilanz der Weltwirtschaftsrezession und der Krise in der Bundesrepublik, Berlin (West) 1977: Kritik des Eurokommunismus: revolutionäre Alternative oder neue Etappe in der Krise des Stalinismus? Berlin (West) 1978; Revolutionäre Strategien im 20. Jahrhundert, Wien 1978; Leo Trotzki: Eine Einführung in sein Denken. Berlin (West) 1981; Revolutionärer Marxismus heute, Frankfurt a.M. 1982. Literatur: H. Heininger/P. Hess/K. Zieschang: Marxistische Wirtschaftstheorie contra Mandel. In: Marxistische Blätter, Frankfurt a. M. 1969, H. 3; Bürgerliche Ökonomie ohne Perspektive, Berlin 1976; G. Krause/K. 0. W. Müller: Der »wahre« Marxismus des Ernest Mandel, Berlin 1980; Geschichte der politischen Ökonomie. Grundriß, Berlin 1985.

Editorische Anmerkungen

Der Text stammt aus: Krause, Werner; Graupner, Karl-Heinz & Sieber, Rolf (1989). Ökonomenlexikon. Berlin: Dietz. S. 277ff

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