Putins Sozialreformen
Wie man ein sozialstaatliches Kassenwesen auf eine nationale Lohnsumme gründet, die das nicht hergibt. Die Arbeit an der sozialen Frage im neuen Russland

Von Theo Wentzke
03/05

trend
onlinezeitung
Seit Beginn der 90er Jahre ist nach den Statistiken eines American Enterprise Institute das russische Bevölkerungswachstum in einen Bevölkerungsschwund umgekippt und das Volk um 3,5 Millionen dezimiert worden. Die durchschnittliche männliche Lebenserwartung ist unter das Niveau von vor vierzig Jahren gesunken. Der Economist berichtete darüber unter dem Titel "Russland scheint Selbstmord zu begehen" (Oktober, 2004) und meinte, dass uns das insofern etwas angehe, als es die Frage aufwerfe, ob ein so "großes entvölkertes Gebiet" nicht irgendwann einmal "unregierbar" wird.

So offenherzig, wie der Artikel Auskunft gibt über den Humanismus in westlichen Redaktionen, die fürs russische Volk sogar eine Daseinsberechtigung in der Funktion ausmachen können, die russische Landmasse unter Kontrolle zu halten, so vieldeutig und unentschieden ist er in der Auskunft über Gründe der demographischen Kurve. Zwar ist das Datum, ab dem das russische Bevölkerungswachstum ins Negative umschlägt, das der Einführung von Demokratie und Marktwirtschaft. Dass es aber der Übergang zu dieser herrlichen Gesellschaftsordnung sein könnte, der einen Bevölkerungsschwund hervorruft wie sonst allenfalls "Massenemigration oder Krieg", an so einen Zusammenhang mag man doch gar nicht erst denken. Sogar der systemneutrale Titel "Armut" kommt den Analytikern da schon zu verfänglich vor, ist jedenfalls "nur ein Teil der Erklärung", ein anderer ist der Alkohol, der allerdings selber nur als "Symptom" eines Seelenzustands, der sich aus dem "desorientierenden Zusammenbruch des Kommunismus" ergibt. AIDS und Tuberkulose gibt es schließlich auch noch.

Wirkung der Marktwirtschaft

Der Kommunismus war aber seinerzeit nicht nur für die Orientierung der russischen Seele zuständig, sondern auch für die Wirtschaft. Auch wenn die Fachwelt sich dumm stellt: Die Liquidierung des alten Systems hat höchst folgerichtig auch das überleben der Leute in Frage gestellt. Und was dessen "Zusammenbruch" betrifft - einfach nur so kollabiert ist es auch nicht. Es war schon der Beschluss, die politische Tat der regierenden Partei, dieses Wirtschaftssystem zu beseitigen und durch das westliche zu ersetzen. Der Grund der demographischen Krise Russlands besteht eben darin, dass es die sowjetischen, später russischen Führer mit ihrem Beschluss, alles, was sie für die Erfolgsmethode des Westens hielten, zu kopieren und darüber die Herrschaft des Privateigentums einzuführen, soweit gebracht haben, ihre bisherige Produktionsweise schlichtweg zu ruinieren und damit ihren Volksmassen die Existenzgrundlage zu entziehen.

Ihre hoffnungsfrohe Erwartung dagegen, mit der Marktwirtschaft einen Ersatz einzuführen, und zwar einen weitaus effizienteren; die Absicht, mit der Trennung von Staat und Wirtschaft so viel private Geschäftsinitiative freizusetzen, dass der Staat nicht nur von der Aufgabe entlastet würde, die Versorgung der Bevölkerung zu organisieren, sondern selbst mit reichlichen Mitteln versorgt werden würde - die hat sich nicht erfüllt. Das private Bereicherungsinteresse, dem die Bewirtschaftung der Nation überstellt worden ist, will sich weder als Quelle allseitiger Beschäftigung noch als Hebel für Volksversorgung betätigen. Es würdigt nur einen Bruchteil des Volks einer rentablen Anwendung. Mit einer solch durchschlagenden Wirkung der Marktwirtschaft hatte man in den russischen Führungsetagen nicht gerechnet; und auch heute noch herrscht eine gewisse Verständnislosigkeit gegenüber den Verhältnissen, die man eingerichtet hat:

"Es stellt sich heraus, dass die Reichen immer reicher werden und die Armen nicht. Die Lage ist natürlich viel besser als im letzten Jahrzehnt, als die Armen ärmer und die Reichen reicher wurden. Aber all das passt nicht in die 'Superidee' der politischen Macht, eine Gesellschaft aufzubauen, in der sowohl die Armen als auch die Reichen reicher werden." (Iswestija, 5.8.04) An einen Rückruf ist aber keineswegs gedacht. Im Gegenteil: Gegen sinkende Lebenserwartung, eine schwindende Bevölkerung und überhaupt hilft nur: Mehr Reichtum für die Reichen.

"Wir müssen das Sterblichkeitsniveau reduzieren und die Lebensdauer der Menschen vergrößern. Wir müssen den demographischen Rückgang überwinden (...) Es ist offensichtlich, dass die Anstrengungen des Staates und des Business auf eine weitere Schaffung von Arbeitsplätzen, insbesondere in den Regionen mit stagnierender Arbeitslosigkeit, auf die Entwicklung des kleinen und mittleren Business, auf eine effektive Anwendung von Maßnahmen der gezielten sozialen Hilfe gerichtet sein müssen. Aber nur das wirtschaftliche Wachstum kann eine tatsächlich zuverlässige Grundlage für eine langfristige Lösung der sozialen Probleme, auch für die Armutsbekämpfung geben." (Ansprache des Präsidenten Russlands, W. W. Putin, an die Föderative Versammlung der Russischen Föderation, Moskau, Kreml, 26. Mai 2004)

Entschieden bekräftigt wird damit das russische Bekenntnis zum Kapitalismus, an dem der Präsident trotz bzw. wegen aller Verheerungen, die dessen Einführung in Russland verursacht hat, nur den einen Mangel entdecken will, dass es davon in Russland zu wenig gibt. In diesem Sinne macht sich die russische Politik unter Putin an die Bewältigung der sozialen Frage.

Armut ist genug vorhanden

Große Teile der erwerbsfähigen Bevölkerung erhalten erst gar keine Gelegenheit, sich einen Lohn zu verdienen. Und wo "Beschäftigung" stattfindet, ist nicht ausgemacht, ob überhaupt gezahlt wird, ob halbwegs regelmäßig gezahlt wird, ob ein Lohn offiziell in Erscheinung tritt oder die Beschäftigten zur Vermeidung einer Erfassung durch die Finanzbehörden unter der Hand mit ein paar Rubeln oder anderen Gratifikationen oder gleich in Naturalform abgespeist werden. "Es zeichnet sich die Tendenz ab, dass weite Teile des Landes von der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung abgekoppelt werden, da die dortige Bevölkerung, die weitgehend als Selbstversorger und von Tauschwirtschaft lebt, in den Statistiken weder als Produzenten noch als Konsumenten erfasst wird. Ein weiterer Sektor ist die Schattenwirtschaft mit einem Anteil von immer noch 25 Prozent der Umsätze." (Stiftung Wissenschaft und Politik, Arbeitskreis Russische Außen- und Sicherheitspolitik, Bericht über die 12. Plenartagung 6/2004, S. 21)

Insofern ist man in Russland schon ziemlich fortgeschritten, was die Herstellung der einen Grundlage eines modernen Sozialstaats betrifft: Armut ist in großem Ausmaß vorhanden, da gäbe es allerhand zu tun. Andererseits ist für die Einrichtung und Alimentierung eines Sozialstaats die Armut auch wieder viel zu groß, respektive: Es fehlt an produktiv gemachter Armut, die überhaupt die Bedingungen dafür mitbringt, dass man sie für die allfälligen Lebensrisiken haftbar machen könnte.

Sozialabgaben runter

Was nicht heißt, dass sich das nicht in Angriff nehmen ließe. So hat die neuere russische Staatskunst durchaus Größen zur Regelung des Lohnarbeiterdaseins in die Welt gesetzt, einen prozentual auf den Lohn abzuführenden Posten Sozialabgaben, die im Prinzip staatliche Kassen für den Unterhalt einer nationalen Arbeiterklasse im Falle von Krankheit, Arbeitslosigkeit und Alter auffüllen sollten. Wegen des notorischen Mangels an kapitalistisch produktiver Beschäftigung im Land wird an diesen Größen aber unentwegt weiter herumreformiert, mit der eindeutigen Ausrichtung, die an die Lohnzahlung geknüpften staatlichen Bedingungen und Kostenfaktoren fortschreitend zu relativieren, um durch solche und andere Angebote die Arbeitgeber aus ihrem schattenwirtschaftlichen Dasein heraus- und überhaupt zum Zahlen von Steuern und Löhnen anzulocken. Im Juni 2004 hat die Duma ein Gesetz verabschiedet, das "den Höchstsatz der vom Arbeitgeber abzuführenden einheitlichen Sozialabgaben von 35,6 auf 26 Prozent des Bruttolohneinkommens senkt. Mit den Sozialabgaben werden das öffentliche Gesundheitssystem, die (teilweise nach dem Kapitaldeckungsverfahren gestaltete) Altersvorsorge und die (allerdings minimale) Arbeitslosenversicherung finanziert. (...) Mit der Einführung der vernünftig tiefen 'Flat Tax' reagierten die Wirtschaftsreformer auf die notorisch schlechte Steuermoral in der Bevölkerung. Die nun erfolgte weitere Senkung der Sozialabgaben mindert wirtschaftsfreundlich nicht nur die Lohnnebenkosten, sondern schafft nebst verschärften Sanktionsdrohungen für die Arbeitgeber einen weiteren Anreiz, von der verbreiteten Praxis Abstand zu nehmen, große Teile der Löhne an den Steuerbehörden vorbei 'schwarz' zu zahlen." (NZZ, 24.6.04)

Die zuständigen Politiker haben sich also einleuchten lassen, dass zur Förderung der Staatsfinanzen vor allem die Pioniere der russischen Marktwirtschaft behutsamer Pflege bedürfen, dass deren Inanspruchnahme für den Bedarf der restlichen Gesellschaft gar nicht "vernünftig tief" genug sein kann und dem Einsatz von Arbeitskraft kaum die Rücksicht auf die daran hängenden Existenzen aufgebürdet werden darf. Das bestätigt die russische Regierung auch auf die Weise, dass sie die 2002 im neuen Arbeitsgesetzbuch beschlossene Bindung von Minimallöhnen an ein Existenzminimum wieder aufgehoben hat. In eben diesem Sinne kündigt der Präsident in der Rede zum Antritt seiner zweiten Amtsperiode höchst offiziell "die Notwendigkeit" an, "die soziale Einheitssteuer zu reduzieren. Wir müssen einen bedeutenden Teil der Entlohnung aus der 'Schattenwirtschaft' herausholen, die sozialen Rechte der Arbeiter schützen und die Bürger dazu anspornen, sich um ihre Rentenversorgung zu kümmern, indem wir die Steuerlast für das Business herabsetzen".

Die offizielle Kürzung der Sozialabgaben und der Schutz der sozialen Rechte der Arbeiter passen in Putins Logik so zusammen, dass der Staat ja überhaupt erst dann, wenn der Lohn so weit herabgesetzt worden ist, dass für schattenwirtschaftliche Unternehmungen der übertritt in legale Verhältnisse attraktiv wird, auf die sozialen Rechte der Arbeiter aufpassen kann. Worin die dann bestehen, ist eine andere Frage. Auch die Wirkung auf die Renten lässt sich als Dienst am Arbeitsvolk betrachten, nämlich als "Ansporn", sich um sich selbst zu "kümmern". Allerdings hat die Verschlankung der Sozialabgaben wiederum arithmetische Folgen für ein anderes Gesetzesprojekt, mit dem Bürger zur vorausschauenden Selbstversorgung angehalten werden sollten: die "kapitalgedeckte Rente".

Rentenalter rauf

Die staatliche Rentenkasse und neu zugelassene private Versicherungen sollten Rentengelder anlegen und Zinsen erwirtschaften dürfen. Dieses prächtige Angebot ist jetzt erst einmal für alle vor 1966 geborenen Beitragszahler wieder aus dem Verkehr gezogen worden, nachdem feststeht, dass sich aus den bisherigen und den künftigen gekürzten Rentenbeiträgen gar keine solchen Summen abzweigen lassen, aus denen sich bis zum absehbaren Rentenalter dieser Generation irgend etwas Nennenswertes erwirtschaften ließe:

"Da man kürzlich die Sozialabgaben der Arbeitgeber, die so genannte einheitliche Sozialsteuer, gesenkt hat, gehen dem Rentenfonds Gelder in Millionenhöhe verloren, die den Bürgern auf ihren Rentenkonten gutgeschrieben werden sollten. Alle Bürger, die im Jahre 1966 oder früher geboren wurden, werden an dem neuen System nun nicht mehr teilhaben und sind weiter allein von der staatlichen Basisrente abhängig (...) Die durchschnittliche Rente beträgt derzeit 60 Euro. Das reicht kaum für die nötigsten Lebensmittel." (FAZ, 12.8.04)

Die Frage ist nur, ob da nun echte Gelder verloren gehen oder nicht eher die Löhne erst gar nicht gezahlt werden, aus denen Rentenbeiträge abgeführt werden könnten, die auch nur annähernd für einen Lebensunterhalt der Rentner ausreichen würden. Die einschlägige Gesetzgebung lässt sich insofern also durchaus als fortlaufendes Experiment verstehen: als Test, ob der russische Kapitalismus überhaupt einen Lohn verträgt, von dem sich dessen Bezieher ein durchschnittliches Leben lang ernähren können.

So ist von anderen Vorschlägen in Sachen Rentenreform zu hören, nach denen "das Rentenalter für Männer von 60 auf 68 Jahre und für Frauen von 55 auf 63 Jahre" angehoben werden sollte. "Doch das wird sich kaum durchsetzen lassen in einem Land, in dem die durchschnittliche Lebenserwartung der Männer gerade einmal 58 Jahre beträgt. Der durchschnittliche Russe stürbe dann nämlich zehn Jahre, bevor er ins Rentenalter käme." (FAZ, 12.8.04)

Wieso der Konjunktiv, wenn der Indikativ schon ein Beitrag zur Entlastung der Rentenkasse ist? Außerdem lässt sich die gute Idee, das Rentenalter endgültig jenseits der landesüblichen Sterbegrenze anzusiedeln, ja auch auf freiwilliger Basis verwirklichen. Der Finanzminister arbeitet an einem Gesetzentwurf, "der die Bürger Russlands auffordert, sich selbst um die Höhe ihrer künftigen Rente zu kümmern. Die einfachste Variante für die Lösung dieses Problems wäre eine Anhebung des Rentenalters. Diese auf der Oberfläche liegende Idee wurde aber abgelehnt."

Damit liegt die Alternative auch schon auf der Hand: "In einer erweiterten Kollegiumssitzung der beiden Wirtschaftsministerien wurde vor einem Monat ein milderes Schema als Grundlage ins Auge gefasst, das dazu bestimmt ist, Russlands Bürger materiell zu stimulieren, auch nach dem überschreiten des Rentenalters weiter zu arbeiten. Wie Alexej Kudrin schätzte, würde ein Bürger, der fünf Jahre über das Rentenalter hinaus arbeitet, eine Rente bekommen, die um 50 bis 65 Prozent höher sein soll als diejenige, die ihm ursprünglich zustehen würde." (Wremja Nowostej, 20.4.04)

Alle "Probleme" der russischen Sozialgesetzgebung spiegeln allein die Tatsache wieder, dass die effektive nationale Lohnsumme das Kassenwesen, das auf ihr errichtet werden soll, eine solche staatliche Organisation der Überlebensbedürfnisse der vorhandenen Bevölkerung nicht trägt. Insofern handelt es sich dabei nur um verschiedene Ausdrucksweisen dafür, dass das russische Volk vom Lohnarbeiterdasein, auf das es nunmehr verpflichtet ist, nicht leben kann.

Reform des Gesundheitswesens

Auch beim Umkrempeln des Gesundheitssektors haben die neuen Rechnungsweisen längst ihre Wirkung getan, so dass dort viele Leistungen, die der Gesetzeslage nach eigentlich noch kostenlos verabreicht werden müssten, gar nicht mehr oder nur noch gegen Bestechungsgelder zu haben sind. Nachdem also die alte "Zugänglichkeit" unter den Bedingungen der Marktwirtschaft kaputtgemacht worden ist, präsentieren sich die regierenden Reformer als Freund und Helfer:

"Das Hauptziel der Modernisierung des russischen Gesundheitswesens besteht darin, die Zugänglichkeit und die Qualität der medizinischen Hilfe für breite Bevölkerungsschichten zu verbessern. Garantien der kostenlosen medizinischen Betreuung tragen oft einen deklarativen Charakter. Die Menschen wissen nicht, was sie kostenlos bekommen können und wofür sie zahlen müssen." (Putin) Da kann Abhilfe geschaffen werden - durch die staatliche Festlegung, für was alles in Zukunft auf gesetzlicher Basis gezahlt werden muss. Selbstverständlich - "nur" - für "zusätzliche medizinische Hilfe und erhöhten Komfort". "Gleichzeitig muss man Anreize für die Entwicklung von freiwilliger medizinischer Versicherung schaffen." (Putin)

Schließlich soll auch in dieser Sphäre ein kapitalistisches Geschäft überhaupt erst in Gang gebracht werden. Und weil die Herrschenden nur allzu gut wissen, wie wenig die Zahlungsfähigkeit der Benutzer des Gesundheitswesens für solche Geschäfte vorerst hergibt, tritt der Staatshaushalt als Abnehmer für die Pharmaindustrie in Erscheinung: "Russlands Pharmamarkt kann im nächsten Jahr um 50 Prozent statt der geplanten zehn Prozent wachsen (...) Einen solchen Durchbruch soll ein 'Föderationsprogramm zur Arzneimittelversorgung einzelner Kategorien von Bürgern' sichern, für das der Staat 1,8 Milliarden Dollar aus dem Föderationshaushalt bereitstellen will. Wie ein Vertreter des Pressedienstes des Finanzministeriums gegenüber Wedomosti mitteilte, wird die Föderationsbehörde für die Aufsicht im Gesundheitswesen der Endabnehmer sein." (Wedomosti, 26.8.04)

Bauen und Wohnen

Im Wohnungssektor ist die russische Politik darauf gestoßen, dass die dort geltenden rechtlichen Regelungen der Umwandlung zur Geschäftssphäre entgegenstehen. Und mit derselben Entschiedenheit, die Lebensnotwendigkeiten ihrer Untergebenen so weit umzuwälzen, bis sie zum Inventar einer ergiebigen Marktwirtschaft taugen, werden auch die Hindernisse angegangen. Die argumentative Reihenfolge, die der Präsident wählt, geht allerdings genau umgekehrt und beweist zielstrebig, dass ohne die Zugriffsmöglichkeiten einer Klasse, die damit ihr Geld vermehrt, Bauen und Hausen eigentlich gar nicht geht.

Putin: "Für eine der wichtigsten Aufgaben halte ich die Versorgung der Bürger mit Wohnungen. Das ist immer noch ein großes Problem (...) Die Schlussfolgerung ist offensichtlich: Die alten Methoden und Herangehensweisen haben dieses Problem auch früher nicht gelöst, heute funktionieren sie ganz einfach nicht. (...) Und wir müssen die Möglichkeit schaffen, dass man sich Wohnungen über den Markt besorgen kann. (...) Wir brauchen finanzielle Mechanismen, die es ermöglichen, Wohnraum nicht nur auf der Grundlage von vorhandenem Einkommen und Ersparnissen zu kaufen, sondern auch auf Kredit. Wir brauchen klare rechtliche Bedingungen für langfristige Wohnungskredite sowohl für Privatleute als auch für professionelle Bauherren. Die Hypothek soll auch für Menschen mit durchschnittlichen Einkünften ein Mittel zur Lösung dieser Probleme werden."

Bauherren und Banken müssen endlich am Wohnungswesen verdienen können - darin besteht der neue Hebel zur Versorgung, die dann allerdings auch nicht mehr viel mit Versorgung zu tun hat: "Bisher war die Hypothek infolge von Widersprüchen im russischen Recht nicht effektiv. So hat es das Gesetz nicht zugelassen, dass Menschen aus ihren Wohnungen exmittiert werden. Diese Norm dient dem sozialen Wohl. Keine Bank würde aber einen Kredit gewähren, wenn sie das gebaute Haus bzw. die erworbene Wohnung nicht als Pfand dafür bekommen darf. Ein entsprechender Abänderungsvorschlag liegt bereits dem Parlament vor." (RIA-Nowosti)

Denn wenn es darum geht, Kredit für Wohnungskäufe locker zu machen, für den dann wiederum die Wohnungen als Pfand dienen sollen, dann stehen die jetzigen Bewohner ein bisschen im Weg. D. h. die unter Jelzin geschaffene Rechtslage bei der Privatisierung der Wohnungen, bei der sich die Bewohner für wenig Geld das Eigentum an ihren Wohnungen verschaffen konnten. Damit also Wohnungen überhaupt in nennenswertem Ausmaß als käufliche Gegenstände in Erscheinung treten können, gilt es, die "formalen Eigentümer" von ihrem Eigentum freizusetzen: "Viele russische Wohnungen gelten formal als Eigentum der Bewohner, diese müssen aber für die kommunalen Dienstleistungen bezahlen. Veränderungen im Wohnungsgesetz ermöglichen es seit dem 1. April 2004, Wohnungen zu räumen, wenn die Bewohner kommunale Dienstleistungen wie Telefon, Gas, Elektrizität usw. nicht bezahlen." (Sergej Gerasin: Das russische Bodenrecht in Gesetz und Praxis. Russlandanalysen 30/04)

Erfüllt von der neuen sozialen Verantwortung, Kapital auch in der Kommunalwirtschaft zu vermehren, Leute fair aus der Wohnung zu werfen - einen schöneren Dienst an der Zukunft des Vaterlands kann es für einen Unternehmer im modernen Russland gar nicht geben.

Editorische Anmerkungen

Der Text wurde uns zur Verfügung gestellt von

G E G E N S T A N D P U N K T A K T U E L L
------------------------------------------------------------
Der eMail-Kurier für die aktuellen GEGENSTANDPUNKT-Analysen
------------------------------------------------------------
Ausgabe 08/09-05 vom 06. Mrz. 2005
------------------------------------------------------------
Herausgeber: MSZ - Mailversand für sozialistische Zeitkritik
c/o Vic Dorn, Marburg, msz-werderhof@gmx.net