Brasilien
Schröder-Amigo Cardoso wütend über UNO-Kritik an Hunger, Sklavenarbeit, Rassismus und Bürgerkriegsgewalt
Schweizer UNO-Sonderberichterstatter Jean Ziegler"verrückt, unehrlich, tendenziös"
03/02
 
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Bundeskanzler Gerhard Schröder hatte bei seiner Februar-Visite Brasiliens Staatspräsident Fernando Henrique Cardoso fest zugesagt, dessen Mitte-Rechts-Regierung beim Bemühen um einen ständigen Sitz im UNO-Sicherheitsrat kräftig zu unterstützen. Daß nun ausgerechnet jene Vereinten Nationen nur einen Monat später dem Kandidaten Brasilien fehlenden politischen Willen zur Lösung gravierender Hunger-und Menschenrechtsprobleme vorwerfen, kam daher mehr als ungelegen.

FU-Berlin-Ehrendoktor Cardoso, von Schröder als persönlicher Freund und "fortschrittlicher Regierungschef" eingestuft, hatte den schweizerischen UNO-Sonderberichterstatter Jean Ziegler zu Beginn von dessen achtzehntägiger Inspektionsreise zu einem ausführlichen und "freundschaftlichen" Gespräch empfangen. Ziegler, so nahm die gesamte Regierung danach an, würde nun der üblichen, von Rot-Grün übernommenen Cardoso-Argumentationslinie folgen: Zweifellos hat die achtgrößte Wirtschaftsnation noch bestimmte soziale Probleme, löst diese indessen in raschem Tempo, erzielte gerade die letzten Jahre enorme Fortschritte. Ziegler war jedoch vor allem wegen Beschwerden von Menschenrechtsgruppen und der Landlosenbewegung MST, Bischöfen, befreiungstheologischen Pastoralen der katholischen Kirche ins Land gekommen, die allesamt nahezu einstimmig Cardosos Argumentation als "Propaganda, gedacht besonders für Länder der Ersten Welt", anprangern. Ziegler sah infolgedessen sehr vieles, was ihm die Mitte-Rechts-Regierung lieber vorenthalten hätte: Über zweihundert jugendliche Straftäter, in Brasiliens reichster Stadt Sao Paulo eingepfercht in eine Zelle für höchstens zwanzig Personen; außerdem in Recife fünf Mädchen, die nach der Vergewaltigung durch Polizisten schwanger geworden waren. Und selbst in Brasiliens touristischem Aushängeschild Rio de Janeiro gravierende Fälle von Hunger, Verelendung an der rasch wachsenden Slumperipherie - fast völlig von den global agierenden, mit der Politik vernetzten Verbrechersyndikaten neofeudal beherrscht.

"Frankreich und Somalia in einem Land"

Welche Bilanz Ziegler daher vergangenes Wochenende vor vierundfünfzig Geistlichen und freiwilligen kirchlichen Sozialarbeitern in einem Slumviertel Rios zog, konnte daher bestenfalls noch Cardosos Mitte-Rechts-Regierung überraschen: Brasilien und Südafrika sind die UNO-Mitgliedsstaaten mit den gravierendsten sozialen Unterschieden, Ungerechtigkeiten - oder von Ziegler anschaulicher ausgedrückt - in einem einzigen Lande ein Frankreich, ein Deutschland, doch auch ein Somalia nebeneinander. Dies sei "skandalös". Nicht nur Sao Paulos Gefängnisse, so der UNO-Sonderberichterstatter seien "die Hölle" - die Justiz funktioniere nicht, der Rassismus habe gravierende Folgen, drücke die Dunkelhäutigen auf ein Niveau von etwa zwanzig Prozent unterhalb der Armutsgrenze. Rund ein Drittel der 170 Millionen Landesbewohner sei unterernährt, was laut Ziegler bedeutet, daß Brasilien das Basis-Menschenrecht auf angemessene Ernährung verletzt, entsprechende internationale Abkommen nicht einhält. Im Gegensatz zu afrikanischen Ländern wie Niger gebe es genügend fruchtbaren Boden, dazu Tropenklima - Hunger sei daher Folge völlig ungerechter Strukturen, daher absolut nicht zu tolerieren. Wer vor Hunger sterbe, werde Opfer eines Gewaltakts, betonte Ziegler. Gerade in Rio de Janeiro erlebte er aus der Nähe eine Welle von Attentaten, Feuergefechten, Schießereien mit, wies deshalb auf bürgerkriegsähnliche Zustände, wählte zudem den Begriff "Guerra social", sprach von einem "sozialen Krieg der Klassen". Zu den Gründen zähle auch das Hungerproblem. "Für die UNO sind jährlich 15000 Gewalt-Tote in einem Land ein Hinweis auf Krieg - doch in Brasilien werden selbst gemäß offiziellen Statistiken etwa vierzigtausend umgebracht." Alles bislang kein Thema für Claudia Roth & Co. - taucht Cardoso in Berlin auf, wird er von Rot-Grün, wie zuvor von Kohl, hofiert; Wirtschaftsinteressen gehen vor.

moralische Sanktionen, Maßregelungen

Als Folge seines für Juli angekündigten UNO-Berichts kündigte Ziegler Maßregelungen, moralische Sanktionen an. "Dies kann wirtschaftliche, finanzielle und politische Konsequenzen haben - ein Land, das die Menschenrechte nicht einhält, kann Kredit im Ausland verspielen." Gestützt auf Dossiers der katholischen Bodenpastoral, wird in dem Bericht auch das Problem der nach wie vor existierenden Sklavenarbeit ausführlich herausgestellt.

Die Cardoso-Regierung reagierte auf Zieglers Einschätzungen erwartungsgemäß mit wütenden Ausfällen. Ein mit ersten Rückweisungen beauftragter hoher Regierungsbeamter nannte den UNO-Sonderberichterstatter vor der Presse "verrückt, unehrlich und tendenziös" - der Agrarreformminister Raul Jungmann bezeichnete ihn danach als "ignorant, funktionellen Analphabeten, der Dummheiten rede", kündigte Beschwerde gegen Ziegler bei der UNO an. Nach dem Außenministerium, in etwas abgemildertem Tone, konterte schließlich Staatspräsident Cardoso selber: "Ziegler hat alle Grenzen überschritten."

Brasiliens führende Qualitätszeitungen stellten sich indessen sofort auf die Seite des UNO-Missionärs - dieser habe lediglich das Offensichtliche konstatiert, nicht mehr. Das angesehene "Jornal do Brasil" von Rio de Janeiro betonte, in Brasiliens unerklärtem Bürgerkrieg kämen pro Jahr annähernd soviele Menschen um wie nordamerikanische Soldaten während neun Jahren Vietnamkrieg.

Mehr Gewalt als in Nahost

Die Weltmedien, hieß es weiter, widmeten sich derzeit völlig übertrieben den Konflikten zwischen Israelis und Palästinensern - doch nach wie vor sei es in Ramallah oder Jerusalem ungefährlicher als in Brasiliens Großstädten. Allein im Januar und Februar seien im nahöstlichen Problemherd 185 Menschen umgekommen - doch nur in Rio de Janeiro weit über das fünffache, 1067 gemäß geschönter offizieller Statistik.

Cardoso, so die Zeitung, vergeude derzeit 180 Millionen Real(umgerechnet etwa neunzig Millionen Euro) für Medien-Regierungspropaganda, die "Erfolge" der Regierung preise, anstatt mit dieser Summe beispielsweise Kindern im Elend das Leben zu retten.
Wer wie die Cardoso-Regierung in Brasiliens "Frankreich" lebe, so stand in anderen Blättern, wolle verstecken, daß auch noch ein "Somalia" existiere - vor allem wie derzeit in Wahlkampfzeiten.

Klaus Hart

Editorische Anmerkungen:

Der Artikel wurde uns vom Autor am 20.3.2002 zur Veröffentlichung zugesandt.