Ausnahmezustand
am Bosporus
Delegationsbericht vom Komitee gegen Isolationshaft
03/02
 
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Am Samstag, den 23. Februar begab sich eine Delegation, die vom Komitee gegen Isolationshaft Hamburg (IKM) und dem TAYAD-Komitee Bielefeld organisiert wurde und dort sich eine Woche lang über die aktuelle Situation im Todesfasten der politischen Gefangenen in der Türkei informierte, nach Kücükarmutlu. Hier führten entlassene Todesfastende und Mitglieder der Angehörigenorganisation TAYAD ihr Todesfasten außerhalb der Gefängnisse.

Im November letzen Jahres veranstalte der türkische Staat zwei Massaker um das Todesfasten in Kücükarmutlu zu beenden. Hier bei wurde nachweislich sogar Nervengas eingesetzt und vier Menschen umgebracht. Seitdem wird versucht dem Stadtteil, der eine Hochburg der Revolutionäre ist, mit militärischer Belagerung den Gar auszumachen. Von einiger Entfernung sieht der ca. 3000 Einwohnerzählende Gecekondu, abgesehen von seiner wunderschönen Lage direkt auf einem Hügel am Bosporus, ganz normal aus. Dieser Stadtteil Istanbuls wurde in den 80 Jahren unter der Organisation von Revolutionären aufgebaut. Seit seiner Gründung versucht die türkische Regierung, eben wegen seiner schönen Lage ihn abzureißen und dort eine Siedlung für Reiche aufzubauen.

Näher man sich dem Viertel muss man die erste Polizeisperre passieren. Gelingt einem das, fährt man eine steile Strasse hinauf und befindet sich dann auch schon in Kücükarmutlu.
Als erstes fallen einem die von der Polizei übermalten Solidaritätsbekundungen, der Einwohner mit den Revolutionären, an den Hauswänden auf.

An der Ecke steht ein Haus, dass gerade von einem Mann wieder aufgebaut wird. Dieses Haus war eins derer, in denen das Todesfasten geführt wurde, es wurde beim Massaker vollkommen ausgebrannt und später von einem Polizeipanzer halb abgerissen. Der Mann der es wieder aufbaut ist der Ehemann einer im Todesfasten Gefallener. Er erzählt uns, wie die Polizei immer wieder versuchte zu verhindern, dass er das Haus wieder aufbaut. Die Polizei will, dass die Einwohner täglich an das Massaker erinnert werden. Erst durch den Druck einer belgischen Parlamentarier-Delegation bekam er die Erlaubnis zum Wiederaufbau. Beim Abholen dieser Erlaubnis bot man ihm umgerechnet 50000€, wenn er sich wo anders in Istanbul ein neues Haus suchen würde, und man drohte ihm.

Um Kücükarmutlu und seinen Bewohnern den Gar auszumachen hat die Polizei zusätzlich zur Belagerung eine neue Taktik. Bestimmte, politische, Personen sind im Visier der Polizei. Sie und ihre Häuser werden ständig überwacht Besucher werden Fotografiert. Eine dieser Menschen ist seit über einer Woche im Gefängnis, weil sie bei einer Kontrolle vor ihrer eigenen Haustür keinen Ausweis dabei hatte.

Man versucht durch Einschüchterung der restlichen Bevölkerung diese Personen zu isolieren. Die Leute werden angehalten und angeschrieen, was sie mit diesen Leuten zutun haben.
Zum anderen werden Spitzel in der Bevölkerung gesucht, was zumindest in einem Fall geklappt hat. Besonders diejenigen die schon vor der Besetzung durch die Revolutionäre hier ihr Land von der Grundstücksmafia erwarben, sind dafür anfällig.

Die Einwohner werden auf schlimmste Weise unterdrückt und schikaniert. Überall gibt es bewaffnete Kontrollpunkte. Es gibt willkürliche Verhaftungen. Die Leute werden gedemütigt in dem sie beispielsweise Idiotentests auf der Wache machen müssen. Die Frauen und Mädchen werden sexuell belästigt. Besonders Jugendliche und politisch Aktive werden Regelmäßig von der Polizei zusammengeschlagen.

Mehrere Leute erzählen uns, dass Kameras das Viertel filmen. Überall laufen Zivilpolizisten.
Beim Massaker wurde das Haus einer behinderten Frau beschlagnahmt und zu einem Polizeirevier umfunktioniert. Dort stehen jetzt Unmengen an schwer bewaffneten Polizisten und sogar zwei richtige Kriegspanzer. Fünf kleinere Panzer fahren ständig Streife, besonders zum Abend hin. Sie schrammen mit Absicht oft die Ecken der Häuser und sie fahren sehr schnell, ohne Rücksicht auf die Kinder die auf der Strasse spielen. Bei einer früheren Besetzung der Polizei wurde hier schon ein Kind vom Panzer überfahren. Nach ihm ist ein Spielplatz in Kücükarmutlu benannt. Auf genau diesem plant die Polizei momentan eine fünfstöckige Polizeizentrale für das ganze Gebiet zu errichten! Sollte das wirklich passieren ist auch der Abriss des Viertel nicht mehr weit. Die Einwohner versuchen momentan alle Möglichkeiten sich, auch rechtlich, gegen die Besatzung und die Baupläne zuwehren. Sie sind weit davon entfernt aufzugeben, aber ohne Hilfe, auch besonders aus Europa steht ihr Schicksal in den Sternen.

Die Delegation, die sich über die aktuelle Lage in der Türkei informiert hat, ist zurückgekehrt.

Es wurden viele Interviews geführt, die allerdings noch übersetzt werden müssen. Somit geben wir hier erst mal eine Übersicht von dem was passiert ist:

1.Tag: Anreise, Gespräch mit einem 75 Jahre alten Mann der wegen zwei kritischen Briefe, trotz seiner Haftunfähigkeit, für vier Jahre ins Gefängniss soll.
2.Tag: Gespräche mit Mitgliedern der Föderation der türkischen StudentInnenvereine TÖDEF, der revolutionären Wochenzeitung Vatan und der Angehörigenorganisation TAYAD.
3.Tag: Besuch des Idil Kulturvereins. Dort wurden Gespräche Mit Mitgliedern der Grup Yorum und ehemaligen Todesfastenden, die durch Zwangsernährung verkrüppelt wurden, geführt. Es wurden auch Gespräche über das Massaker am 19. Dezember und die Massaker in Kücükarmutlu geführt. Weiter wurden die Filme "Boran" und "Pardon", die die Problematik des Verschwindenlassens und der Folter thematisieren, gezeigt. Am Abend: Gespräch mit Ahmet Kulaksiz, dessen beide Töchter im Todesfasten gefallen sind und dessen Buch darüber verboten wurde. Gespräch mit Haydar Bozkurt. Er war im Todesfasten und verbrannte sich beim Massaker in Kücükarmutlu, zum Schutz der Anderen selbst. Um ihn zu Foltern und demütigen löschte ihn die Polizei, übergoß ihn mit Benzin und zündete ihn erneut an.
4.Tag: Gespräch mit der Besitzerin des, von der Polizei geschlossenen, Terapiezentrums für durch Zwangsernährung geschädigte Gefangene (Sevgi Klinik). Besuch im, immernoch besetzten, Kücükarmutlu und Gespräch mit einer Zwangsernährten die das Massaker miterlebte.
5.Tag: Gedenkzeremonie, für die Gefallenen im Todesfasten und aller Revolutionäre weltweit, auf einem Istanbuler Friedhof, wo mehrere Gefallene begraben liegen. Anwesend waren dabei Angehörige der Gafallenen, Zwangsernährte und andere FreundInnen und GenossInnen der Gefallenen.
6.Tag: Besuch des Büros der Rechtsanwälte des Volkes (HHB) und des Idil Kulturvereins.
7.Tag: Besuch in Kücükarmutlu und Gespräche mit Bewohnern über die aktuelle Situation.
8.Tag: Abreise

Editoriale Anmerkung:

Am 25. Feb. 2002 schickte uns noisolation@ninebyte.de diesen Delegationsbericht.
Er stammt von der Website des IKM (Izolasyon Iskencesine Karsi Mücadele Komitesi) - Komitee gegen Isolationshaft: www.noisolation.de