Tage der Schande
Die "Reichskristallnacht" im Norden Nürnbergs

von RiJo
03/02
 
trend
onlinezeitung
Briefe oder Artikel info@trend.partisan.net ODER per Snail: trend c/o Anti-Quariat 610610 Postfach 10937 Berlin
Nürnberg im November 1938: "Des Deutschen Reiches Schatzkästlein" und "Stadt der Reichsparteitage", romantische mittelalterliche Gassen und Gauhauptstadt des schlimmsten antisemitischen Hetzers, Julius Streicher. Noch lebten etwa 5.500 von einstmals mehr als 10.000 jüdischen Bürger(inne)n hier, größtenteils Mitglieder alteingesessener Familien, deren Urgroßväter nach Aufhebung des Niederlassungsverbots für Juden aus den umliegenden fränkischen Dörfern in die aufstrebende Industriemetropole gezogen waren. Ihre Nachkommen, darunter viele renommierte Fabrikanten, Kaufleute, Ärzte und Rechtsanwälte, warteten jetzt darauf, daß sich die Situation in ihrem Heimatland nach fünf Jahren Naziherrschaft endlich beruhigen würde - oder auf die Auswanderung.

Die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 in Nürnberg war kalt und trocken. Am Abend hatte zum Gedenken an dem gescheiterten "Hitlerputsch" vor fünfzehn Jahren ein Fackelzug der SA durch die Stadt stattgefunden. Nach dem Ende dieser alljährlichen Demonstration ihrer Stärke hatten sich die meisten der Teilnehmer in ihre "Sturmlokale" begeben, um am Biertisch die ‘Bierkellerrevolution’ würdig zu begehen. Etwa um Mitternacht platzten in diese braune Idylle die motorisierten Melder der Nürnberger SA-Leitung, die den Alarmzustand und einen Generalappell verkündeten. Widerwillig machten sich die SA-Männer aus den warmen Wirtsstuben wieder auf zum zugigen Adolf-Hitler-Platz.

Einige ahnten bereits, was der Anlaß für diese nächtliche Mobilmachung war: Am 7. November hatte der Student Herschel Grünspan in Paris den deutschen Diplomaten vom Rath erschossen. Er nahm damit Rache für seine Eltern, die am 28. Oktober wie Tausende andere Juden mit polnischer Staatsangehörigkeit von den Nazis verhaftet und an die deutsch-polnische Grenze verschleppt worden waren, wo sie nun seit Tagen hilflos im Niemandsland herumirrten.

Der Befehl aus Berlin, der den Nürnberger SA-Männern in einer pathetischen Rede eröffnet wurde, war von brutaler Eindeutigkeit: Die jüdische Bevölkerung sollte für Grünspans Attentat büßen.

Auf dem Adolf-Hitler-Platz, der bis 1933 Hauptmarkt geheißen hatte, war auch der Oberscharführer Paul Trambauer mit seinen Mannen vom SA-Sturm 14/14 angetreten, denen das nördliche Stadtgebiet als ‘Aktionsfeld’ zugeteilt wurde. Nachdem er von der Gestapo zusammengestellte Listen mit den Wohnungen jüdischer Familien in diesen Stadtteilen erhalten hatte, keuchte die von Bier, Pathos und Tatendrang erhitzte Horde an der altehrwürdigen Kaiserburg vorbei bergauf in ihr Einsatzgebiet. Der SA-Sturm 14/14 trat seinen Weg durch den Nürnberger Norden an, an dessen Ende allein in diesem Bereich als Bilanz drei bestialisch Ermordete und Dutzende zerstörter Wohnungen und Geschäfte stehen sollten. Sein Weg war auch der Weg des deutschen Volkes zurück in eine zwölfjährige Barbarei.

Der Mord im Café Bamberger

Gegen 2 Uhr morgens erreichte ein SA-Trupp die in nächtlicher Ruhe daliegende Lindenaststraße. Sein Ziel war das jüdischen Familiencafé mit angeschlossener Pension der Familie Bamberger im Haus Nummer 21. Carl Bamberger und seine Frau Olga führten seit 1934 diesen Betrieb unweit der mittelalterlichen Stadtmauer als letztes Lokal, in dem sich Juden vor Pöbeleien sicher fühlen konnten. Sie hatten die Genehmigung zur Eröffnung nur unter der Auflage erhalten, daß die Pension auf Dauermieter beschränkt würde, vermutlich überwiegend ältere Menschen, die durch die Emigration ihrer Angehörigen allein in Nürnberg zurückgeblieben waren.

Als einer der letzten Orte, an denen den jüdischen Nürnbergerinnen und Nürnbergern ein Rest von Menschenwürde geblieben war, erschien den SA-Leuten das Familiencafé Bamberger als ein besonders verlockendes Ziel ihrer Zerstörungswut. Rücksichtslos verschafften sie sich Zutritt zu dem Anwesen. In wenigen Minuten glichen die Wohnung der Familie und das Lokal einem Trümmerfeld: das Büfett im Wirtschaftsraum wurde umgeworfen, die Möbel mit Beilen zerhackt, die wertvollen Ölgemälde zerschnitten, darunter ein echter Böcklin. Doch es blieb nicht bei der blindwütigen Vernichtung des Inventars. Der achtundfünfzigjährige Carl Bamberger hatte es gewagt, dem braunen Mob entgegenzutreten, seine Familie und seine Habe zu verteidigen. Mit unvorstellbarer Grausamkeit schlugen und trampelten die "Herrenmenschen" diesen Mann vor den Augen seiner Frau und seines Sohnes, die selbst schwer mißhandelt wurden, zu Tode.

Knapp neun Jahre später, im August 1947, fand vor der Ersten Strafkammer des Landgerichts Nürnberg-Fürth der Prozeß gegen die Mitglieder des SA-Sturms 14/14 statt. In den Polizeifotos der Angeklagten sucht man vergeblich jene Merkmale, die man landläufig dem Gesicht eines Mörders zuschreibt. Die Täter waren ganz normale Familienväter - so wie Carl Bamberger.

Für Olga Bamberger war die "Reichskristallnacht" erst der Beginn ihres Leidensweges. Im März 1942 wurde sie zusammen mit fünfhundert anderen Nürnberger Juden in das ostpolnische Lager Izbica deportiert und dort ermordet.

Unter den Stiefeln der SA

Wenige Straßenzüge weiter, im Haus Untere Pirkheimerstraße 9, wütete ein anderer Trupp. Dort drangen die Totschläger der "Sturmabteilung" in die Wohnung der Industriellenfamilie Astruck ein und zerschlugen das gesamte Mobiliar. In der Wiedergutmachungsverhandlung nach Kriegsende gab der Inhaber einer Möbelschreinerei, die mit der Beseitigung der Schäden beauftragt worden war, zu Protokoll: "So war von den vorhandenen 36 Stühlen gerade einer noch zu reparieren. Einer meiner Gesellen schnitt aus zerstörten Möbelteilen 7 Stunden lang Brennholz."

Der Haß der Nazis insbesondere auf die wohlhabenderen jüdischen Familien in Nürnberg hatte für die Bewohner der Unteren Pirkheimerstraße 9 noch schlimmere Folgen: Siegfried Astruck, Mitinhaber der 1908 gegründeten "Nürnberger Schildpatt- und Hornwarenfabrik Gustav Astruck", wurde von der Gestapo aus dem Bett heraus verhaftet und am folgenden Tag zusammen mit ungefähr 150 anderen Nürnberger Juden ins KZ Dachau gebracht.

Um ihren Mann aus dem Konzentrationslager freizubekommen, schrieb seine Frau Trude einen verzweifelten Bittbrief an die Polizei: "Ich habe also niemand, der mich in meinen schweren Tagen berät, wenn man mir meinen Mann nicht zurückgibt ... Ich bitte mir dieses Schreiben, das durch große Not einer verlassenen hilflosen Frau veranlaßt ist, nicht zu verargen und meinen Mann mir bald zurückgeben zu wollen." Nach Wochen voller Angst und Ungewißheit wurde Siegfried Astruck Mitte Dezember aus dem KZ entlassen. Der Unternehmer erinnerte sich später: "Ich hatte großes Glück, daß ich durch ältere Kriminalbeamte verhaftet wurde und nicht durch die SA, denn einige mir befreundete Herren wurden regelrecht von der SA totgeschlagen, so ein gewisser Herr Löb."

Der Kaufmann Simon Löb wohnte in der Nachbarschaft der Astrucks in der Mittleren Pirkheimerstraße 22. Wie Carl Bamberger war Löb, ein kräftiger Mann und mit dem Eisernen Kreuz II. Klasse ausgezeichneter Frontkämpfer des Ersten Weltkriegs, den Eindringlingen in den Weg getreten. Seinen Mut und seinen Glauben daran, daß sein deutsches Vaterland seine Veteranen ehren würde, mußte auch er mit dem Leben bezahlen. Eine Bekannte der Familie traf Simon Löbs Gattin Emilie wenige Tage nach dem Überfall. Sie schilderte ihr, wie die entfesselten Bestien ihren Mann die Haustreppe hinuntergeworfen und solange mit ihren schweren Stiefel auf ihn eingetreten hatten, bis er tot war. Als sich Emilie Löb schützend über ihren sterbenden Mann warf, bekam auch sie die Raserei der Braunhemden zu spüren: Sie zeigte der Bekannten ihre zertrümmerte Nase, von der ein Stiefeltritt einen Flügel soweit abgetrennt hatte. Die klaffende Wunde war so groß, daß sie die blutige Wattekompresse durch sie hindurch herausziehen konnte.

"Jetzt geht’s ‘raus!"

Insgesamt wurden während dieser Tage der Schande im November 1938 mindestens neun Nürnberger ermordet, so beispielsweise auch der frühere Inhaber des bekannten Juweliergeschäfts E. Lorch im pittoresken "Nassauer Haus", Fritz Lorch. Er befand sich nach einer Operation im jüdischen Krankenhaus der Nachbarstadt Fürth, als die SA auch dort hauste und den wehrlosen Rekonvaleszenten zu Tode quälte. Achtzehn jüdische Nürnbergerinnen und Nürnberger begingen in ihrer Verzweiflung Selbstmord. Im Verfahren gegen die Biedermänner des 14. Sturms der 14. SA-Standarte verstieg sich der Hauptangeklagte Trambauer zu dem Satz: "Wir waren sehr human den Leuten gegenüber."
Die Orgie der Gewalt in der "Reichskristallnacht" offenbarte den Betroffenen die ganze Brutalität des Naziregimes. Auch den jüdischen Nürnbergerinnen und Nürnbergern war nun endgültig klar, daß ein Teil ihrer Landsleute offenbar wahnsinnig geworden war und ihnen nach dem Leben trachtete, während vom Rest der "anständigen Deutschen" nur eine Minderheit mutiger Frauen und Männer dagegen aktiv zu werden gedachte, die Mehrheit es aber vorzog, einfach wegzuschauen.

Beispielhaft für die Wirkung der Ereignisse ist die Schilderung, die der Nürnberger Kaufmannssohn Arnold Friedmann von der Rückkehr seines Vaters aus der Gestapohaft gab: "Ungefähr drei Tage nach der Reichskristallnacht wurde mein Vater in seinem Büro von der Gestapo abgeholt. Drei Tage und Nächte wurde er im Nürnberger Gestapohauptquartier festgehalten. Als er zurückkehrte, war er um zehn Jahre gealtert und sagte nur diesen einen Satz: ‘Jetzt geht’s ‘raus!’"

Die Familie Astruck emigrierte im Mai 1939 nach London und gelangte von dort nach Peru. Emilie Löb, die Witwe Simon Löbs, verließ Deutschland am 4. April 1939. Einen Tag später meldete sich Alice, die Witwe des ermordeten Juweliers Fritz Lorch, beim Nürnberger Meldeamt in die USA ab.

Schuld ohne Sühne

In der Nachkriegszeit wurden in Nürnberg mehrere Beteiligte an den Verbrechen der "Reichskristallnacht" angeklagt. Der Prozeß gegen die ehemaligen Mitglieder des SA-Sturms 14/14, in dessen Bereich allein drei Morde stattgefunden hatten, war einer davon und in Verlauf und Ergebnis beispielhaft. Aus Mangel an Beweisen mußten Kriminalpolizei und Staatsanwaltschaft die Ermittlungen wegen Mordes einstellen. Es gab in Nürnberg für die Ereignisse fast keine jüdischen Zeugen mehr. Angesichts der ergebnislosen Suche der Polizei nach anderen aussagewilligen Augenzeugen muß der heutige Betrachter zu dem Schluß kommen, daß gerade in jener Nacht nahezu alle Bewohner der Straßen, in denen die SA gewütet hatte, nicht in ihren Wohnungen waren. Alle außer den jüdischen Opfern und ihren Peinigern.

Wie Hohn mußte es in den Ohren der Opfer klingen, wenn der Hauptangeklagte Trambauer einerseits fast schon bedauernd feststellte, "die restlose Zerstörung der Wohnungen ist mangels Zeit nicht geglückt", und andererseits frech (und ohne Widerspruch der Juristen) das Gericht belog: "Es ist kein Jude geschlagen worden."

Am Abend des 19. August 1947 verkündete die Erste Strafkammer des Landgerichts nach nur einem Verhandlungstag die Urteile: sechs ehemalige SA-Männer wurden wegen schweren Landfriedensbruchs zu Haftstrafen von zehn bzw. acht Monaten verurteilt, zwei wegen Landfriedensbruch zu einem halben Jahr, drei wurden freigesprochen.
 

Editoriale Anmerkung:

Der Artikel  ist eine Spiegelung von
http://home.t-online.de/home/RIJONUE/kristald.htm