Le Monde Diplomatique

Marcos` großer Marsch

Von Ignacio Ramonet

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Am 24. Februar verließ der Chef der Zapatistischen Nationalen Befreiungsarmee (EZLN) Subcomandante Marcos erstmals sein Versteck im lacandonischen Regenwald von Chiapas und trat, die bekannte Skimaske übergezogen, seinen friedlichen Marsch auf Mexiko-Stadt an, wo er am Sonntag, den 11. März triumphal empfangen worden ist. Die über 3 000 Kilometer lange Route führte ihn durch zwölf der ärmsten Bundesstaaten. Unterwegs nahm er, vom 1. bis 4. März, am Dritten Nationalen Indigenen Kongress teil, der in Nurio im Bundesstaat Michoacan stattfand.

In Begleitung von 23 anderen Comandantes und Comandantas sowie einer Reihe befreundeter Persönlichkeiten aus aller Welt (darunter der Nobelpreisträger José Saramago, der Filmemacher Oliver Stone, der Gewerkschafter José Bové, der Schauspieler Robert Redford, der Schriftsteller Manuel Vázquez Montalbán und die französische Präsidentenwitwe Danielle Mitterrand) zog Subcomandante Marcos auf demselben Weg nach Mexico-Stadt, den während der mexikanischen Revolution von 1911 der berühmte Rebell Emiliano Zapata genommen hatte - ein symbolträchtiges Arrangement. Auf dem riesigen Zócalo-Platz im Zentrum der Hauptstadt hielt der Subcomandante vor etwa zweihunderttausend Zuhörern eine Rede, um im Namen der 10 Millionen Indios zu verkünden: "Dies ist die Stunde der indianischen Völker. Mexiko, erlaube nicht, dass noch einmal die Sonne aufgeht, ohne dass in deiner Flagge ein Platz für uns ist, für uns, die wir die Farbe der Erde tragen."

Einige Tage vor dem Marsch empfängt uns Marcos, im Beisein von Comandante Tacho und Major Moises, 1 000 Kilometer südlich von Mexiko-Stadt in dem kleinen Dorf La Realidad (450 Einwohner), unweit von seinem geheimen Hauptquartier in 1 500 Meter Höhe an den regnerischen Hängen des Hochlands von Chiapas. Wie stets vermummt in seine Skimaske, eine abgewetzte Kappe von undefinierbarer Farbe auf dem Kopf, das Satellitentelefon an der Seite und die alte Maschinenpistole auf dem Rücken, erklärt er, warum die Zapatisten in die Hauptstadt marschieren: "Dies ist nicht der Marsch von Marcos, es ist auch nicht der Marsch der EZLN: Dieser Marsch ist ein Marsch aller Indio-Völker. Er soll zeigen, dass die Zeit der Angst vorbei ist. Unser Hauptziel ist die Anerkennung der indigenen Völker als kollektives Rechtssubjekt durch das mexikanische Parlament. Der Staat soll eingestehen, dass Mexiko aus verschiedenen Völkern besteht. Dass diese indigenen Völker ihre eigenen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Organisationsformen haben. Und dass sie eine starke Beziehung zu ihrer Erde, zu ihrer Gemeinschaft, zu ihren Wurzeln und zu ihrer Geschichte haben. Wir fordern keine Unabhängigkeit. Wir wollen keine Maya-Nation ausrufen oder das Land in eine Vielzahl indigener Länder zersplittern. Wir wollen die Anerkennung der Rechte eines bedeutenden Teils der mexikanischen Gesellschaft, eines Teils, der seine eigenen Organisationsformen besitzt und der verlangt, dass diese Formen als legitim akzeptiert werden. Unser Ziel heißt Frieden. Ein Frieden, der auf einem ernsthaften Dialog beruht, einem Dialog, der die Grundlagen für den Wiederaufbau von Chiapas schafft und die Eingliederung der EZLN in das normale politische Leben fördert. Frieden wird nur möglich sein, wenn die Autonomie der indigenen Völker anerkannt wird. Diese Anerkennung ist eine Vorbedingung dafür, dass die EZLN die Waffen endgültig niederlegt, den Untergrund verlässt und offen am politischen Leben mitwirkt, auch um sich dem Kampf gegen die gefährlichen Projekte der Globalisierung zu widmen."

Neun Monate hatte Marcos nichts von sich hören lassen. Als er dann am 2. Dezember letzten Jahres, unmittelbar nach dem Amtsantritt des neuen mexikanischen Präsidenten, den Marsch ankündigte, schlug die Neuigkeit wie eine Bombe ein. Die gesamte politische Klasse wurde von dieser mutigen Initiative kalt erwischt. Der Zeitpunkt war geschickt gewählt. Am 2. Juli 2000 hatte die seit über siebzig Jahren regierende Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) die Präsidentschaftswahlen verloren, und der Sieg von Vicente Fox, dem Kandidaten der rechtsgerichteten Partei der Nationalen Aktion (PAN) galt allgemein als getreuliches Abbild des Wählerwillens. Während auf seinen beiden Vorgängern Carlos Salinas (1988-1994) und Ernesto Zedillo (1994-2000) der Verdacht der Wahlfälschung und Korruption lastete, hat Mexiko mit Fox, der sein Amt am 1. Dezember 2000 antrat, zum ersten Mal seit langem einen Präsidenten, dessen Legitimität von niemandem angezweifelt wird.

Marcos selbst schrieb in einem offenen Brief an den neuen Präsidenten: "Herr Fox, im Gegensatz zu Ihrem Vorgänger Zedillo, der auf verbrecherischem Weg und durch die monströse Korruption, die das System der Staatspartei bildet, an die Macht gelangt war, treten Sie dank der Ablehnung, die sich die PRI in der Bevölkerung mit Fleiß erworben hat, an die Spitze der bundesstaatlichen Exekutivgewalt. Es wird Ihnen klar sein, Herr Fox, die Wahl haben zwar Sie gewonnen, aber diese Niederlage haben nicht Sie der PRI zugefügt, sondern die Bürger. Und nicht nur die Bürger, die gegen die Staatspartei stimmten, sondern alle bisherigen und derzeitigen Generationen, die auf die eine oder andere Weise Widerstand leisteten gegen das System des Autoritarismus und des straffreien Verbrechens, das von PRI-Regierungen in den letzten 71 Jahren kultiviert wurde."(1)

Im Wahlkampf hatte Vicente Fox versprochen, das Zapatisten-Problem "innerhalb einer Viertelstunde" auf friedlichem, politischem Wege zu lösen. Nun überrascht ihn der Marsch von Subcomandante Marcos während seiner "Schonfrist" und zwingt ihn, das heikle Dossier zur indigenen Frage unverzüglich in Angriff zu nehmen. "Der Marsch ist ein Geniestreich", schreibt der Schriftsteller Carlos Monsivais, der sich vor kurzem selbst länger mit Marcos unterhalten hat.(2) "Dem Staat bleibt keine andere Wahl, als den Zeitplan der Verhandlungen zu akzeptieren, den Marcos vorgibt. Damit hat Marcos die Initiative zurückgewonnen. Und Fox ist gezwungen, das Verhandlungsangebot zu akzeptieren, nicht nur wegen des nationalen und internationalen Drucks, sondern auch weil ihm nicht entgehen kann, dass Marcos, indem er zu Gesprächen in die Hauptstadt kommt, die Legitimität der neuen Regierung anerkennt, während er Salinas und Zedillo, die in den Augen der Zapatisten und eines Großteils der Mexikaner korrupte Betrüger und Usurpatoren waren, zu keiner Zeit als Verhandlungspartner akzeptierte." Und der Anthropologe André Aubry, Leiter des Diözese-Archivs in San Cristóbal de Las Casas und Vertrauter des ehemaligen Bischofs Monsignore Samuel Ruiz, fügt hinzu: "Schließlich verlangt Marcos nichts Unmögliches. Mit seinem Marsch will er Präsident Fox dazu bringen, seine Vorstellungen von einer künftigen mexikanischen Nation darzulegen. Marcos fordert nur, dass die Indios als Teil dieser Nation Anerkennung finden."

Als der Überraschungseffekt vorüber war, machte Präsident Fox gute Miene zum Spiel und äußerte sich positiv zu dem angekündigten Marsch der Zapatisten. Zunächst beruhigte er einige aufgeregte Gemüter im eigenen Lager - etwa den Gouverneur des Bundesstaats Queretaro, der die zapatistischen Comandantes als "Verräter" beschimpft und mit dem Tod bedroht hatte - und räumte sodann ein, dass der Marsch "eine Hoffnung für Mexiko" darstelle. Es blieb ihm wohl auch nichts anderes übrig, nachdem der kolumbianische Präsident Andrés Pastrana am 8. Februar dieses Jahres mit dem legendären Rebellenführer Manuel Marulanda, genannt Tirofijo, in dem von der Guerilla kontrollierten Gebiet zu einem Gespräch unter vier Augen zusammengekommen war.

Auf dem Davoser Weltwirtschaftsforum am 26. Januar versuchte Fox auch potenzielle Investoren zu beruhigen: "Niemand braucht sich wegen des Marsches der EZLN auf Mexiko-Stadt Sorgen zu machen. Wir dürfen keine Angst davor haben, alle Mexikaner in ein Projekt einzubinden, das Entwicklung für alle bedeuten soll. Der Marsch wird friedlich vonstatten gehen, und wir müssen zu einem Friedensabkommen für Chiapas gelangen."(3)

In den Tagen danach entwickelte sich Fox zu einem regelrechten Propagandisten des Marschs: "Meine Regierung befürwortet den Marsch. Wir müssen der EZLN Glauben schenken und ihr die Gelegenheit geben zu beweisen, dass sie wirklich Frieden will. Es geht hier auch um unsere gerade erst entstehende Demokratie, wir müssen zeigen, dass sie die Beweglichkeit besitzt, unterschiedliche Denkweisen einzubinden, auch die radikalsten."(4) Schließlich machte sich Fox gar die Argumente der Zapatisten zu Eigen und erinnerte an das skandalöse Schicksal der Indios: "Fünfhundert Jahre der Niedertracht sind genug! Wir dürfen die Indigenen nicht länger ignorieren und uns unfähig zeigen, die Armen und die marginalisierten Bevölkerungsgruppen zu integrieren. Die mexikanischen Indios wurden rassistisch gedemütigt, sie wurden in Staat und Wirtschaft ausgegrenzt, man verwehrte ihnen Bildung und Entwicklung und hinderte sie daran, sich als freie und gleichberechtigte Bürger zu äußern."(5)

Die Eilfertigkeit, mit der sich Fox für den Marsch stark machte, ging Marcos schließlich auf die Nerven: "Der Präsident versucht nun, den Marsch der Zapatisten vor den eigenen Karren zu spannen, und würde ihn am liebsten als seinen eigenen Marsch verkaufen. Diese Strategie zielt nur darauf ab, die EZLN unter Druck zu setzen und der Weltöffentlichkeit weiszumachen, dass der Friede bereits beschlossene Sache sei und ein Scheitern der Verhandlungen allein die Schuld der Zapatisten wäre. Das ist schlicht und einfach ein Erpressungsmanöver: Die EZLN soll bedingungslos kapitulieren. Dabei weiß er ganz genau, dass wir vor dem Beginn der eigentlichen Verhandlungen drei bescheidene Zeichen seines guten Willens verlangen: die Freilassung aller zapatistischen Gefangenen, den Rückzug der Armee aus sieben strategischen Positionen und die Ratifizierung des Abkommens von San Andrés über die Rechte der indigenen Völker, das von der Regierung 1996 unterzeichnet wurde, seither aber toter Buchstabe blieb."

Als der Marsch am 24. Februar begann, hatte die Regierung erst sechzig der rund einhundert zapatistischen Gefangenen freigelassen, die Streitkräfte hatten sich nur aus vier der sieben Stellungen zurückgezogen, und das Abkommen von San Andrés harrte noch immer der Ratifizierung. "Wenn Fox nicht in der Lage ist, die drei Bedingungen der Zapatisten zu erfüllen", meint André Aubry, "dann heißt das, dass er nicht wirklich die Macht besitzt, dass er nicht das Kommando und nicht das Sagen hat, dass die Armee über ihm steht. Schließlich ist es in Mexiko seit 1920 Tradition, politische Probleme auf militärischem Wege zu lösen. Mit diesen Mitteln versuchten vor Fox schon die Präsidenten Salinas und Zedillo mit den Zapatisten fertig zu werden. Sie sind damit gescheitert. Wenn Fox Erfolg haben will, wenn er wirklich Frieden will, wie er ständig beteuert, dann muss er zeigen, dass er wirklich der Präsident ist, dass er die Armee befehligt und dass er als Zeichen des guten Willens die drei Bedingungen der Zapatisten akzeptiert. Die Zapatisten beweisen ihren Friedenswillen doch schon dadurch, dass sie ihre Rückzugsgebiete verlassen und unbewaffnet nach Mexiko-Stadt gehen. Marcos hat dem Präsidenten bis zum Ende des Marschs am 11. März Zeit gegeben, die drei Bedingungen zu erfüllen. Der Präsident sollte sich einen Ruck geben, schließlich geht es um die Lage der Indios, und da hat Mexiko eine große Schuld zu begleichen."

In den vergangenen 500 Jahren wurde die indigene Bevölkerung gejagt und ausgerottet, gedemütigt und ausgebeutet und zu einem Leben unter entsetzlichen Bedingungen gezwungen. Es waren die Chiapas-Indios, die der berühmte Dominikaner und Bischof von San Cristóbal, Bartolomé de Las Casas, vor Augen hatte, als er 1522 seinen "Kurzgefassten Bericht von der Verwüstung der Westindischen Länder" schrieb - ein erschütterndes Dokument, das den Albtraum beschwört, den die Conquistadores über die Indios brachten.

Auch nach der Unabhängigkeit Mexikos im Jahre 1810, ja selbst nach der Revolution von 1911, deren Devise immerhin "Land und Freiheit" lautete, besserte sich das Los der Indios nicht. Marginalisierung, Ausbeutung und Verachtung trafen sie nach wie vor, und ihre langsame Ausrottung ging weiter, nunmehr unter der Regie der Plantagenbesitzer, unter tätiger Mithilfe bezahlter Mörderbanden und der paramilitärischen Milizen. Noch immer finden die indigenen Völker, die 10 Prozent der Bevölkerung ausmachen, in der mexikanischen Verfassung keine Anerkennung. Unter dem Vorwand, dass die Mehrheit aus Mestizen besteht, stellt sich Mexiko offiziell als Nation von Mestizen dar und will von der Existenz der Indios nichts wissen.

Marcos erklärt: "Die Indios sind die Vergessenen Mexikos. Sie gelten als Bürger zweiter Klasse, als Störfaktor. Aber wie sind kein Abfall. Wir gehören zu jenen Völkern, die eine tausendjährige Geschichte, tausendjährige Weisheit vorweisen können, die mit Füßen getreten und vergessen wurden, aber noch nicht tot sind. Und wir wollen als Bürger anerkannt werden wie alle anderen auch, wir wollen ein Teil Mexikos sein, ohne unsere Eigenheiten zu verlieren, ohne unsere Kultur aufgeben zu müssen, kurz: ohne auf unsere Existenz als Indigene zu verzichten. Mexiko steht in unserer Schuld. Eine zweihundert Jahre alte Schuld, die das Land nur durch die Anerkennung unserer Rechte begleichen kann."

Die Indios sind Opfer einer Art stillen Ethnozids. Von der Welt vergessen, für die Welt "unsichtbar", sind sie verdammt, dem unaufhaltsamen Sterben ihrer Sprachen und Wertvorstellungen zuzusehen. Gegen diese Schicksalhaftigkeit begehrt die EZLN, begehrt Marcos auf.

In den grünen Bergen von Chiapas und den Regenwäldern nahe der Grenze zu Guatemala verwurzelt, weisen die Zapatisten seit nunmehr sieben Jahren auf die dramatischen Lebensumstände der indigenen Gemeinschaften hin. "Als Indio in Mexiko zu leben heißt nicht nur, eine bestimmte Physiognomie zu haben", schreibt Carlos Montemayor, Schriftsteller und Autor eines Buchs über die Ursachen und Hintergründe des zapatistischen Revolte(6). Indio sein heißt auch, "eine Indio-Sprache sprechen, im Land der Urahnen leben, die traditionellen Bräuche praktizieren und sich den jahrtausendealten Werten der Gemeinschaft verbunden fühlen, in der man lebt. Die indigenen Völker machen ein Drittel der Gesamtbevölkerung von Chiapas aus, über eine Million Menschen. Mit Ausnahme der Zoques, die mit den Popolucas und Mixes verwandt sind, gehören die meisten Indio-Gruppen zur mexikanischen Maya-Familie, zu den Tzotziles, Tzeltales, Choles, Tojolabales, Lacandones, Mames, Mochos, Kakchikeles. Insgesamt verzeichnet man zwölf verschiedene Sprachgruppen. Allerdings hat sich die soziale, ideologische und politische Zusammensetzung in den verschiedenen Unterregionen des lacandonischen Regenwaldes - der wichtigsten sozialen Basis der EZLN - durch die jüngsten Migrationsbewegungen nachhaltig verändert. Schätzungen zufolge wird die EZLN in Chiapas von mindestens 200 000 Indios verschiedener Ethnien unterstützt."

Chiapas ist ein sehr reicher Bundesstaat, hier finden sich die bedeutendsten Erdöl- und Erdgasvorkommen des Landes, aus Chiapas bezieht Mexiko 40 Prozent der Energie aus Wasserkraft, die es dem Land ermöglichte, Elektrizität in die Vereinigten Staaten zu liefern, als in Kalifornien im vergangenen Dezember akuter Strommangel herrschte. "Trotz seines enormen Reichtums", schreibt der Soziologe Hermann Bellinghausen, einer der besten Kenner des Zapatisten-Aufstandes, "besuchen in Chiapas noch immer ein Drittel aller Kinder keine Schule, und nur knapp ein Prozent der Schüler schafft den Sprung an die Universität. Die Analphabetenrate übersteigt unter den Indigenen 50 Prozent, und die Sterblichkeitsziffer liegt um 40 Prozent höher als in der Hauptstadt."

Symbolische Revolten gegen die Globalisierung

Aus Protest gegen das Schicksal der Indios und um die Weltöffentlichkeit darauf aufmerksam zu machen, begann am 1. Januar 1994 der Aufstand der EZLN unter Subcomandante Marcos. Nach verlustreichen Kämpfen - man zählte an diesem Tag Dutzende von Toten - hatten die Zapatisten vier wichtige Städte in Chiapas besetzt, darunter San Cristóbal de Las Casas (50 000 Einwohner).

Bellinghausen fährt fort: "Gleichzeitig jedoch - und darin liegt die Einzigartigkeit dieser Bewegung - war sich Marcos im Klaren, dass die Zeit der traditionellen Guerillas, wie sie die Geschichte Lateinamerikas in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts prägten, vorbei ist. Dass das Ende des Kalten Kriegs, der Fall der Berliner Mauer 1989, der Untergang der Sowjetunion 1991 und die Offensive der Globalisierung die geopolitischen Bedingungen ebenso radikal verändert haben wie die Machtstrukturen. Dass andere Kräfte als nur die Politik nun das Schicksal der Staaten steuern, in erster Linie die Finanzmärkte und die Logik des Freihandels, wie sie unter anderem im Nordamerikanischen Freihandelsabkommen (Nafta) zum Ausdruck kommt."

Aus diesem Grund begannen die Zapatas ihren Aufstand am 1. Januar 1994, als ebendieses Freihandelsabkommen zwischen Mexiko, den Vereinigten Staaten und Kanada in Kraft trat. Marcos trat also an jenem Tag nicht nur für die Sache der Indios ein, sondern war gewissermaßen auch Urheber der ersten symbolischen Revolte gegen die Globalisierung. Mit der internationalen Mobilisierung gegen das Multilaterale Abkommen über Investitionen 1998, den Demonstrationen gegen die Welthandelskonferenz in Seattle 1999 und den Aktionen gegen die "Mächtigen der Welt" beim Weltwirtschaftsforum in Davos nahmen die neuen Revolten gegen die Globalisierung ihren Aufschwung. Marcos war der Erste, der den Versuch unternahm, den Zusammenhang zwischen Globalisierung und Marginalisierung theoretisch zu verarbeiten.

"Nach dem Fall der Berliner Mauer", analysiert Marcos, "trat eine neue Super-Macht auf den Plan und entwickelte sich, stimuliert durch die neoliberale Wirtschaftspolitik. Die großen Gewinner des Kalten Kriegs, der als Dritter Weltkrieg gelten kann, sind die Vereinigten Staaten, doch unmittelbar über dieser Hegemonialmacht zeichnet sich ab, was man als Finanz-Supermacht bezeichnen könnte, eine Macht, die nun beginnt, aller Welt Befehle zu erteilen. Das Ergebnis ist das, was wir allgemein als Globalisierung bezeichnen. Das Ideal der Globalisierung lautet, die ganze Welt in ein Großunternehmen zu verwandeln, dessen Aufsichtsrat aus dem Internationalen Währungsfonds (IWF), der Weltbank, der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), der Welthandelsorganisation (WTO) und dem Präsidenten der Vereinigten Staaten besteht. Die Regierenden der anderen Länder sind in diesem Zusammenhang nur noch Vertreter dieses Aufsichtsrats, gewissermaßen dessen Verwalter vor Ort. Und das, was Sie von Le Monde diplomatique völlig zutreffend als ,Einheitsdenken' beschrieben haben, dient als ideologischer Kitt, der alle Welt davon überzeugen soll, dass an der Globalisierung kein Weg vorbeiführe und jeder anders lautende Vorschlag eine unrealistische Utopie, ein Hirngespinst sei. Die große Schlacht, die derzeit geschlagen wird - und die man als Vierten Weltkrieg bezeichnen könnte - sieht auf der einen Seite die Verfechter der Globalisierung und auf der anderen Seite all jene, die diese Entwicklung auf die eine oder andere Weise aufhalten wollen. Heute ist alles, was sich der Globalisierung in den Weg stellt, von Vernichtung bedroht."

In welchem Zusammenhang diese Entwicklung mit der dramatischen Situation der indigenen Völker steht? "In ihrem hegemonialen Furor", fährt Marcos fort, "sucht die Globalisierung kulturelle Elemente zu vereinnahmen. Sie will globale kulturelle Homogenität. In gewisser Weise bedeutet wirtschaftliche Globalisierung nichts anderes als die Globalisierung der amerikanischen Lebensweise. Die Werte des Markts beanspruchen heute allgemeine Geltung. Sie beherrschen nicht mehr nur die Arbeit der Regierungen, sondern auch die Funktionsweise der Medien, der Schule, ja sogar der Familie. Einen Platz in der Gesellschaft hat heute nur noch, wer verwertbar ist und Kaufkraft besitzt. Damit eliminieren die Marktkriterien jenen Teil der Menschheit, der sich als nicht rentabel erweist. Und dieser Sachverhalt betrifft alle indigenen Völker Lateinamerikas. Die Globalisierung verlangt ihre Abschaffung. Wenn nötig durch einen offenen, wenn möglich durch einen leisen Krieg. Und dies unter dem Vorwand, die Indios seien für die Dynamik der Globalisierung nicht zu gebrauchen, sie wüssten sich nicht zu integrieren und könnten sich aufgrund ihres Aufstandspotenzials womöglich zu einem schwer wiegenden Problem entwickeln."

Marcos analysiert seine konkrete Kampfpraxis im Zusammenhang der geopolitischen Verhältnisse und der derzeitigen Globalisierung.(7) Er ist eine Art praktischer Idealist, ein Medienstratege, der sich des Internets wie einer Waffe bedient und seine Kommuniqués, seine Texte, Analysen, Geschichten, Parabeln und Gedichte in alle Winde streut. Der solidarische Beziehungen mit Hunderten von Bürgervereinigungen und Dutzenden von Minderheitenrechtlern knüpft. Dessen mediale Schlagkraft weit origineller und wirkungsvoller ist als die des mexikanischen Staats. Bereits am 12. Januar 1994, kaum elf Tage nach dem Beginn des Aufstands, legte Marcos die Waffen nieder. Keinen einzigen Schuss sollten die Zapatisten fortan abfeuern, und so eroberten sie mit ihrer gewaltlosen Strategie die Herzen und Köpfe der internationalen Öffentlichkeit.

Ein neuer Stil der politischen Aktion

Wir mexikanischen Indios", erklärte Subcomandante Marcos beim Aufbruch aus San Cristóbal de Las Casas in der ihm eigenen Sprache, die Poesie und Politik, Bilder und Botschaften zusammenführt, "wir sind Indios, und wir sind Mexikaner. Und wir wollen sowohl Indios als auch Mexikaner sein. Aber der Mann, der den Mund zu voll nimmt und die Ohren verschließt, der Mann, der regiert, bietet uns nur Lügen und keine Fahne. Unser Marsch ist der Marsch der Würde der Indigenen. Der Marsch derer, die die Farbe der Erde haben, und der Marsch all derer, die all die Farben aus dem Herzen der Erde tragen. Vor sieben Jahren hat die indigene Würde einen Platz unter der Fahne Mexikos eingefordert. Und wir, die wir von der Farbe der Erde sind, haben dies mit Feuer gefordert. Und Feuer und Lügen waren die Antwort des dzul, des Mächtigen, der das Geld besitzt, das die Farbe der Erde verpestet. Wir dagegen sahen andere Stimmen und hörten andere Farben."

"Wir marschieren heute, weil die mexikanische Fahne die Unsere werden soll, aber stattdessen bietet man uns das zerfetzte Tuch des Schmerzes und des Elends. Wir marschieren heute für eine gute Regierung, aber man bietet uns Zwietracht. Wir marschieren heute für die Gerechtigkeit, aber man bietet uns Almosen. Wir marschieren heute für die Freiheit, aber man bietet uns die Versklavung durch Schulden. Wir marschieren heute für das Ende des Sterbens, aber man bietet uns einen Frieden der betäubenden Lügen."

"So wie unsere Vorfahren Widerstand gegen die Feldzüge der Eroberung geleistet haben, so haben wir Widerstand gegen die Feldzüge des Vergessens geleistet. Unser Widerstand ist noch nicht zu Ende, aber er ist nicht mehr allein. Millionen Herzen, in ganz Mexiko und in allen fünf Erdteilen, sind mit uns, und wir marschieren im gleichen Schritt. Und gemeinsam mit ihnen werden wir bis in die Hauptstadt ziehen, die auf uns lastet und uns verachtet. Wir werden mit ihnen ziehen, mit ihnen und mit der Fahne Mexikos."

Aber Marcos hat nicht nur einen neuen Stil politischer Aktion erfunden, frei von Arroganz und Selbstgefälligkeit, Marcos zeigt sich auch als Schriftsteller voller Humor und Komik, der gerne seine Lieblingsautoren zitiert, die wie Gramsci Pessimismus in der Theorie, aber Optimismus in der Praxis verkündeten: Cervantes, Lewis Carroll, Bertolt Brecht, Julio Cortázar, Borges. Verständlich, dass Marcos mit seinem Marsch auf die Hauptstadt nicht die Macht im Sinn hat. "Das Problem besteht nicht in der Eroberung der Macht", erklärt er mit einem Lächeln. "Der Ort der Macht ist bekanntlich leer. Und der Kampf um die Macht ist ein Kampf um die Lüge. Was wir heute in der Zeit der Globalisierung brauchen, sind neue Beziehungen zwischen Staat und Bürger. Wenn das Friedensabkommen unterzeichnet wird, hört die EZLN mit ihrer bisherigen Politik auf. Sie wird dann anders Politik machen, ohne Skimaske, ohne Waffen, aber im Dienst derselben Ideen. Denn wir haben gelernt, dass wir eine Art Spiegel sind, dass wir auf unsere Weise andere Widerstandsbewegungen in der Welt widerspiegeln. Deshalb sind wir mit anderen Kämpfen solidarisch. Beispielsweise mit den Kämpfen der Homosexuellen und der Lesben, die ebenfalls Opfer von Verfolgung und Diskriminierung sind. Oder mit den Kämpfen der Emigranten, gegen die überall rassistische Maßnahmen ergriffen werden. Man will erreichen, dass die Menschen ihre Eigenheiten verleugnen, ihre Hautfarbe, ihre Herkunft, ihr Geburtsland. Man will ihnen zu spüren geben, dass es ein Verbrechen ist, so geboren zu sein, mit dieser Hautfarbe, an diesem Ort. Und dass sie dafür Bestrafung verdienen."

Wann wird er die Skimaske ablegen? "An jenem Tag", hatte er Régis Debray geantwortet, der ihm 1996 dieselbe Frage stellte(7), "an dem ein Indigener überall in der Republik dieselben Rechte genießt wie ein Weißer. An jenem Tag, an dem das System der Staatspartei beseitigt ist und Wahlen nicht mehr gleichbedeutend sind mit Wahlbetrug." Die zweite Bedingung hat sich bereits erfüllt,so unglaublich dies vor kurzem auch scheinen mochte, und die erste wird sich bald erfüllen, wenn man Fox glauben darf.

Als es zu dämmern und zu regnen beginnt und La Realidad, wo es noch keinen Strom gibt, langsam in der Dunkelheit versinkt, stelle ich ihm also dieselbe Frage: "Sicher ist jedenfalls, dass wir die Skimaske und die Waffen so bald wie möglich ablegen wollen. Weil wir mit offenem Gesicht Politik machen wollen. Aber wir werden die Skimaske nicht auf bloße Versprechungen hin ablegen. Vorher müssen die Rechte der Indios anerkannt sein. Wenn der Staat sich weigert, werden nicht nur wir wieder zu den Waffen greifen, sondern auch andere, weit radikalere, unduldsamere, verzweifeltere und gewalttätigere Bewegungen werden das tun. Denn die ethnische Frage kann hier wie anderswo zur Entstehung fundamentalistischer Bewegungen führen, die zu allen mörderischen Verrücktheiten bereit sind. Wenn aber alles nach Wunsch läuft, wenn die Rechte der Indios schließlich doch noch anerkannt werden, wird Marcos nicht mehr der Subcomandante oder Führer oder Mythos sein. Dann wird deutlich werden, dass die wichtigste Waffe der EZLN nicht das Gewehr war, sondern das Wort. Und wenn sich der Staub gelegt haben wird, den unser Aufstand aufgewirbelt hat, dann werden die Menschen eine grundlegende Wahrheit entdecken: dass Marcos in diesem Kampf, diesem Widerstand und dieser Reflexion nur ein Kämpfer unter vielen anderen war. Deshalb sage ich immer: Wenn du wissen willst, wer Marcos ist, wer sich unter der Skimaske verbirgt, nimm einen Spiegel und sieh dich an; das Gesicht, das du dort siehst, ist das Gesicht von Marcos. Denn wir alle sind Marcos."

Es ist Nacht in La Realidad. Myriaden von Glühwürmchen flimmern im Dunkel. Mit Marschvorbereitungen beschäftigt, verschwinden Marcos und seine beiden zapatistischen Kampfgefährten im Wald. Die Zukunft der Indio-Völker von Mexiko hängt zu einem Großteil vom Erfolg dieses Marsches ab. José Saramago äußerte anlässlich des Marsches seine Hoffnung mit folgenden Worten: "Die Zapatisten haben ihr Gesicht bedeckt, um sichtbar zu werden, und in der Tat haben wir sie endlich wahrgenommen. Nun marschieren sie auf die Hauptstadt Mexikos. Wenn sie am 11. März dort einziehen, wird Mexiko-Stadt die Hauptstadt der Welt sein."

dt. Bodo Schulze

Fußnoten:
(1) "Brief von Subcomandante Marcos an den mexikanischen Präsidenten vom 2. Dezember", http://www.ezln.org/archive/ezln001202b.html.
(2) La Jornada, Mexiko-Stadt, 8. Januar 2001.
(3) Proceso, Mexiko-Stadt, 4. Februar 2001.
(4) Excelsior, Mexiko-Stadt, 18. Februar 2001.
(5) La Jornada, Mexiko-Stadt, 15. Februar 2001.
(6) Carlos Montemayor, "Chiapas, la rebellion indigène du Mexique", Paris (Syllepse), erscheint im Mai 2001.
(7) Siehe Subcomandante Marcos, "Desde las montañas del Surest mexicano", Mexico-Stadt (Plaza y Janés) 1999.
(8) Régis Debray, "La guérilla autrement", Le Monde, 14. Mai 1996.