Analyse & Kritik, Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 448

Internet als Praxisfeld

Interview mit nadir.org über neue Vernetzungen und Nutzungsformen im www

03/01
trdbook.gif (1270 Byte)
 
trend
online
zeitung
Briefe oder Artikel:
info@trend.partisan.net
ODER per Snail:
trend c/o Anti-Quariat
Oranienstr. 45
D-10969 Berlin

Die Nutzung des Internets ist ein wichtiger Bestandteil der neuen Welle antikapitalistischer Straßenprotesten seit Seattle und Prag. Dezentralität und Hierarchiefreiheit sind Stichworte, welche die Klammer zwischen dem Selbstverständnis der "Anti-Globalisierungsbewegung" und linken MedienaktivistInnen bilden, die das Internet als Aktionsort entdeckt haben. Mit indymedia.org ist mittlerweile ein internationales Netzwerk internetgestützter MedienaktivistInnen entstanden, die sich in zahlreichen lokalen Gruppen organisieren. In unserem Interview beschreibt die Hamburger Gruppe nadir.org ihre Praxis. Sie beteiligt sich am Aufbau von indymedia.org in Deutschland. Die erste größere Intervention von germany.indymedia.org kündigt sie für die Castor-Transporte nach Gorleben Ende März an.

Was ist nadir.org überhaupt?

nadir.org gibt es seit 1993, damals noch als Mailbox. Seit 1995 sind wir im Web vertreten. Wir wollten damals der Linken unter der Metapher "digitaler Infoladen" ermöglichen, Internet-Technologien für sich nutzbar zu machen. nadir bezog sich dabei explizit nur auf die Praxis linker Gruppen. Wir wollten Synergieeffekte herstellen, eine Plattform für innerlinke Auseinandersetzung sein, und durch die Konzentration verschiedener Projekte auf einer Website ermöglichen, dass eine Internet-Infrastruktur unter eigener Verwaltung entsteht. Die bei uns veröffentlichten Webseiten sollten einen Rahmen finden, unter dem sie überhaupt im Internet Beachtung finden. Die Leute, die damals nadir gegründet haben, kamen hauptsächlich aus der Antifa, sie sind aber mit dem Anspruch angetreten, eine strömungsübergreifende Vernetzung auch mit anderen linken "Szenen" zu Stande zu bringen.

1995 verfügten ja nur sehr wenige Menschen über die Möglichkeit das Internet zu nutzen. Heute informieren sich viele Linke fast nur noch über das Internet. Wie hat sich das in Eurer Praxis widergespiegelt?

Seit 1997 hat sich die Situation durch den ganzen Internethype grundlegend geändert: Zunehmend mehr linke Gruppen wollen sich im Internet präsentieren. Das hat uns ziemlich unter Druck gesetzt und zu einer Technisierung des Projekts geführt. Die Veröffentlichung von Artikeln und der Aufbau des Textarchivs erlahmten völlig, also all die Punkte, an denen nadir zuvor inhaltlich gearbeitet hatte. Das führte auch dazu, dass wir selber gar nicht mehr Teil irgendeiner Bewegung waren und der Kontakt zur Praxis der bei uns veröffentlichenden Gruppen ziemlich dünn war. Wir sind in die Rolle eines Dienstleisters gerutscht.

Ein Mischung aus politischen und persönlichen Zwistigkeiten hat zu dieser Zeit zu einer Spaltung des Projekts geführt. Einige von damals pflegen heute noch das nadir-Adressbuch. Wir anderen haben uns dann dafür entschieden, erst einmal wieder Kontakt zu linken Gruppen herzustellen, beispielsweise in dem wir mit Arranca! und FelS kooperieren. Im Rahmen von kein mensch ist illegal haben wir dann bei den antirassistischen Grenzcamps 1999 in Zittau und 2000 in Forst mitgemacht. Dadurch wollten wir die entstandene Distanz und unsere zunehmende Virtualisierung durch eine konkrete Teilnahme an Kampagnen überwinden. Wir wollten als Gruppe mehr sein als nur eine Plattform oder Wandzeitung. Wir wollten uns vielmehr mit den speziellen Fähigkeiten, die wir im Laufe der Zeit erworben haben, als politisch Handelnde in politische Bewegungen einbringen.

Dieser Schritt aus unserer "Virtualität" war insofern erfolgreich, als dadurch eine zum Teil intensive Zusammenarbeit mit für uns neuen, politisch aktiven Leuten und Gruppen zu Stande kam. Der nächste Schritt wäre nun die Vertiefung dieser Zusammenarbeit und ein Schritt hin zum ursprünglichen Anliegen von nadir, verschiedene politisch aktive Leute und Gruppen zusammenzubringen und eine gemeinsame Kommunikations- und Informationsstruktur aufzubauen und zu nutzen. Unsere Arbeit wird also durch drei Punkte charakterisiert: die Bezugnahme auf linke Strukturen, die strömungsübergreifende Vernetzung und der Anspruch, linke Veröffentlichungen und Diskussion über einen gemeinsamen Kanal publik zu machen. Dabei gibt es keine gezielte mediale Strategie. Über solche Dinge fangen wir gerade erst an, uns intensiv Gedanken zu machen.

Nun arbeitet Ihr in einem weiteren Projekt mit. germany.indymedia.org soll während der Castor-Transporte Ende März ans Netz gehen. Was steckt hinter germany.indymedia.org?

indymedia ist zum ersten Mal mit der Blockade des WTO-Treffens 1999 in Seattle in Erscheinung getreten. indymedia hat sich die Aufgabe gestellt, mit einem radikaldemokratischen Ansatz einen Kampf anzugehen, der mit härtesten Bandagen geführt wird: der Kampf um die Aktualität. Für die Linke ist u.E. der Kampf um Aktualität deshalb attraktiv, weil es so ist, dass der, der zuerst die Informationen liefert, in der pole position um die Einordnung des Geschehens im gesellschaftlichen Diskurs ist. Während der Seattle Proteste gelang indymedia dies zumindest ein Stück weit.

Die Idee, dass die, die politisch aktiv sind, auch die Nachrichten darüber produzieren, ist dabei nicht neu. Neu hingegen, und dies wurde ausschließlich durch das Internet möglich, ist die zeitgleiche Verfügbarkeit dieser Information zumindest in den Ländern, die vom Globalkapitalismus profitieren.

Die Kombination von "authentischen" Nachrichten in einer Welt, die dem Glauben an "Objektivität" immer skeptischer gegenübersteht, und sofortige Verfügbarkeit macht indymedia als Netzwerk mit Botschaften im Kongo, Chiapas, Finnland und sonst wo zu einem neuen Typ von Nachrichtenkanal.

Die politische Ausrichtung indymedias kann wohl am besten als "diffus links" beschrieben werden. Der einzige gemeinsame Nenner ist die Interessen der Unterdrückten zu formulieren. Kaderorganisationen haben durch den radikaldemokratischen Ansatz keine bessere Chance bei indymedia Aufmerksamkeit zu bekommen als Einzelpersonen.

Zeitgleich mit dem ersten großen Auftritt von indymedia in Seattle 1999, haben wir als nadir in einem viel kleineren Maßstab damit begonnen, in eine solche Richtung zu arbeiten. Seitdem haben wir die beiden antirassistischen Grenzcamps und den Flüchtlingskongress in Jena medial von vor Ort begleitet. Es gab also quasi eine Art Parallelentwicklung, wenn auch mit einem anderen Fokus: Einerseits zielte unser Campaigning de facto viel stärker auf die Linke - wenn auch zum Teil wider Willen. Zum anderen ging das eigentlich nur von nadir + friends aus.

Gerade mit dem letzten Grenzcamp und dem ganzen Medienrummel im staatlichen Antifasommer hat sich gezeigt, dass es richtig effektiv sein kann, Kampagnen neben der "klassischen Pressearbeit" mit aktuellen Webseiten zu begleiten. Was uns vom indymedia-Konzept unterscheidet, ist, dass indymedia sehr viel aktiver versucht hat, allen möglichen Leuten eine Plattform zu bieten, während unser Anliegen eher ist, die politischen Aussagen und Positionen der AktivistInnen darzustellen - oder besser: durch diese selbst darstellen zu lassen. Das Medium www ist für uns ein Mittel zum Zweck, was bei indymedia etwas anders aussieht. Dort ist auch das Kommunikationsmodell als solches Bestandteil des Konzepts.

indymedia ist bisher - mal abgesehen von ihren lokalen Technikzentren - ein event-bezogenes Mittel, mit dem superkurzfristig von AktivistInnen produzierte Informationen weltweit gestreut werden. Der protestierenden (Hyper-)Gesellschaft wurde mit indymedia zum ersten Mal ein Mittel in die Hände gelegt, mit der sie sich selbst in ihrer eigenen Geschwindigkeit abbilden konnte. Noch nie war es so einfach, Teil einer Jugendbewegung zu sein. indymedia bietet dieser Meute ihre Spiegelung im narzisstischsten Sinn.

Ihr meint also, dass es für Linke absolut notwendig ist, sich auf diesem Kampfterrain zu bewegen?

Das affektive Verhältnis zur Aktualität hat für uns ein strategisches Moment. Damit soll zum einen den Mediengiganten der Platz im Kampffeld "Aktualität" streitig gemacht, und zum anderen können so die verbreiteten Informationen unter dem Banner der Aktualität als Virus dienen. Attraktiv ist natürlich auch, dass dadurch Informationen "von unten für unten" auf recht prominenter Ebene kursieren. Eine Aufgabe könnte dabei für indymedia sein, den Schnittpunkt von Aktionismus und längerem politischen (Medien-)Engagement in eine Linie zu verlängern.

Des weiteren beeinflusste z.B. in Prag die massive Präsenz von Medien die Proteste. Die Präsenz von Medienmenschen auf Aktionen sichert unserer Meinung nach diese Aktionen. In den beiden Bedeutungen des Wortes: Als - zugegeben begrenzter - Schutz vor Übergriffen, aber auch als Schutz vor dem gezielten Totschweigen.

In den USA ist die "Medialität" des Lebens fortgeschrittener als in Europa, d.h. die Medien sind weiter und tiefer in den Alltag verzahnt. Europa unterscheidet sich darin signifikant. Im kulturellen Bewusstsein der Europäer haben Kameralinsen noch nicht den Status von "menschlichen" Organen wie in den USA. indymedia kann hier - und mit unserer Einflussnahme - beim weiteren unvermeidlichen Verschmelzen der Dichotomien Realität/Virtualität Terrain sichern, das politisch von immenser Bedeutung werden kann.

Eine große Hoffnung, die mit indymedia verbunden wird, besteht darin, dass unter diesem Label weniger eine spezielle linksradikale Szene verstanden wird und somit auch faktisch neue Leute angesprochen und aktiviert werden können. Allerdings vollzieht sich eine derartige Öffnung auch immer mit einem diffuseren politischen Profil. Dessen sind wir uns bewusst.

Pragmatisch gesehen ist indymedia ein brauchbares Netzwerkmodell von MedienaktivistInnen. Es ist dezentral, nicht-hierarchisch und solidarisch. Das Web sorgt hier für die Übertragung seines Netzcharakters vom Virtuellen ins Reale. Konkretes Ergebnis davon kann die bessere Verfügbarkeit von Videoproduktionen oder Fotos für Gruppen oder Redaktionen sein.

Uns ist es dabei wichtig, dass ein auf Kontinuität angelegtes MedienaktivistInnennetzwerk mit germany.indymedia entsteht, das sich sowohl auf lokaler, als auch auf einer eher kampagnenbezogenen Ebene bundesweit etabliert. indymedia bietet dazu auch noch die nicht zu vernachlässigende Möglichkeit zur internationalen Zusammenarbeit mit anderen MedienaktivistInnen. Konkret für nadir heißt das, dass wir uns auf das konzentrieren können, wozu wir in der Lage sind, und uns in indymedia einbringen, wenn wir selbst eine Kampagne politisch für sinnvoll halten und dann hoffentlich gleich einen Rahmen vorfinden, indem wir uns mit anderen organisieren können.