Der Begriff der »Autonomie« wie er uns heute in der Politik einer
autonomen Bewegung in der BRD gegenübertritt, ist zweifellos durch die Praxis
der Studenten-, Arbeiter- und Jugendrevolten im Italien der 60er und 70er Jahre
beeinflußt. Die »Autonomia« erhielt ihre Bedeutung in einer von den
traditionellen Arbeiterorganisationen unabhängigen, subversiv-militanten Praxis
der dortigen Betriebs- und Stadtteilkämpfe ab Ende der 60er Jahre. Dabei fielen
in diesem Zeitraum Teile und Ausläufer der Studentenrevolte mit militanten
Arbeiterkämpfen vorwiegend in Norditalien zusammen. Die sichtbar gewordene
Verknüpfung der politischen Tätigkeit von studentischen Gruppen mit weiten
Teilen einer antikapitalistisch revoltierenden Arbeiterklasse übte in der
Folgezeit für einige linksradikale westdeutsche APO-Gruppen eine große
Faszination aus, die die italienische Entwicklung intensiv verfolgten und
diskutierten.
Was passierte in Italien in den 60er Jahren?
Die Arbeiter- und Studentenrevolten trafen in Italien in den Jahren 1968/69
auf ganz andere gesellschaftliche Bedingungen als in der BRD. Italien lag mit
seiner Wirtschaftsstruktur als ökonomisch schwächstes Glied der EG quasi an
der europäischen Peripherie. Der Staat nahm in der internationalen
Arbeitsteilung einen untergeordneten Rang ein. Darüber hinaus war das Land
strukturell in zwei Teile gespalten: Der an modernste kapitalistische
Produktions- und Arbeitsorganisationen orientierten ökonomischen Entwicklung in
Norditalien standen in Süditalien Verhältnisse mit zum Teil feudalistischen
Eigentumsstrukturen in der Landwirtschaft gegenüber.
Die Klassenkämpfe wurden gemeinsam von Gruppen aus der Studentenrevolte und
vorwiegend ungelernten Fließbandarbeitern aus den norditalienischen Großfabriken
getragen. Diese Klassenbewegung war bereits zu Beginn der 60er Jahre von einigen
Gewerkschaftlern und linken Intellektuellen im Umkreis der Kommunistischen
Partei Italiens (PCI) und der Sozialistischen Partei (PSI) in einer Reihe von
Analysen theoretisch vorweggenommen worden. Zu nennen sind in diesem
Zusammenhang inbesondere die Arbeiten und Schriften der Theoretiker Raniero
Panzieri, Mario Tronti, Roberto Alquati und Toni Negri, die zunächst in der
Zeit von 1961 bis 1964 in der Zeitschrift »Quaderni Rossi« und nach einer
Spaltung nachfolgend in der bis 1967 existierenden Theorieschrift »Classe
operaia« publizierten.
Nach dem Scheitern von Erneuerungsbestrebungen innerhalb der beiden
traditionellen Organisationen der italienischen Arbeiterklasse in der zweiten Hälfte
der 50er Jahre verlegten diese Intellektuellen den Schwerpunkt ihrer Arbeit auf
die außerinstitutionelle Ebene, um von dort aus ihre Kritik an den offiziellen
Apparaten der Arbeiterbewegung fortzusetzen. Ende 1959 ging Panzieri von der
Parteizentrale des PSI in Rom nach Turin, »um dort die Arbeiterklasse in der
Fabrik wiederzufinden« (Rieland). Die 1962 sich tagelang hinziehenden
militanten Auseinandersetzungen von tausenden von FIAT-Arbeitern in Turin auf
der Piazza Statuto konnte die Gruppe um Panzieri als Bestätigung für ihre
zuvor getroffenen theoretischen Annahmen eines Arbeiterkampfes ohne die
reformistische Vermittlung durch die Organisationen der Arbeiterbewegung nehmen:
Die Straßenschlachten anläßlich der Unterzeichnung eines Tarifvertrages
fanden ohne Unterstützung der Industriegewerkschaften statt, die sich zudem
noch entschieden davon distanzierten. In den Kämpfen tauchte ein neuer
Arbeitertyp auf, der nicht mehr die Merkmale des alten Facharbeiters aufwies.
Als vor kurzem aus dem Süden eingewanderter Fließbandarbeiter ohne
Qualifikation gehörten diese Demonstranten zur »Generation mit gestreiften
T-Shirts«. Die Auseinandersetzungen auf der Turiner Piazza Statuto drückten
erstmals auf politischer Ebene die Neuzusammensetzungsprozesse der
Arbeiterklasse in den norditalienischen Großfabriken aus.
Vom Marxismus zum Operaismus
Die bereits zu Anfang der 60er Jahre sich andeutende Entwicklung führte in
den theoretischen Diskussionen zu einer vollständig neuen Aufarbeitung und
Kritik der innerhalb der italienischen kommunistischen Bewegung vorherrschenden
Marxorthodoxie. Mit Hilfe einer Neulektüre des »Kapitals« und der »Grundrisse«
von Marx wurde den traditionellen Organisationen der Arbeiterbewegung (PCI, PSI
und Gewerkschaften) das Recht strittig gemacht, sich selbst als zentrales
Subjekt politischer Auseinandersetzungen zu begreifen. Nicht die
Vermittlungsorgane der Arbeiterbewegung wurden als bestimmend in den politischen
Kämpfen angesehen, sondern die Arbeiter in den Fabriken und im Stadtteil, und
zwar an den Orten des alltäglichen Klassenkampfes. Diese Theorieansätze wurden
zugleich mit Untersuchungen der konkreten Zusammensetzung der Arbeiterklasse in
einigen italienischen Großfabriken, so z.B. bei FIAT in Turin, verbunden.
Dieser Zweig der theoretischen marxistischen Diskussion wird später der »Operaismus«
genannt, der zu jener Zeit die radikalste Kritik von »links« an der herkömmlichen
Aufnahme der marxistischen Theorie in den Konzepten der traditionellen
Arbeiterorganisationen darstellt. Der Operaismus arbeitete in seinen Analysen
die Gewaltförmigkeit der alltäglichen kapitalistischen Maschinerie in der
Fabrik und im Stadtteil heraus. Dabei ging es diesem Theorieansatz nicht mehr um
die von den traditionellen Arbeiterorganisationen propagierte Teilhabe an der
kapitalistischen Entwicklung. Die vollständige Negation des Bestehenden wurde
als unverzichtbares Primat angesehen, um schließlich zu einer sozialistischen
Transformation der Gesellschaft zu gelangen. In diesem Kontext schlugen die
Operaisten eine »strategische Umkehr« in der Marxrezeption vor: Wurde die
Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaften bislang in der Beziehung
zwischen Kapital und Klasse als von den Kapitalbewegungen bestimmt betrachtet,
so gehen sie davon aus, daß die Kapitalbewegungen durch die Bewegungen der
Klasse bestimmt sind. Eine revolutionäre Strategie könne sich daher nur noch
auf den »subjektiven Faktor« der Arbeiterklasse stützen, da die Arbeitskraft
als einziges Element in der kapitalistischen Entwicklung nicht kontrollierbar
sei. Daraus folgt, daß der Kapitalismus nur durch den bewußten Akt des tätigen
Handelns der Arbeiterklasse überwunden werden kann.
»Die operaistische Interpretation Marxscher
Schriften setzt sich von der bis dahin vorherrschenden Interpretation des
Marxismus als 'realistische' Auffassung der Geschichte bzw. als Philosophie ab
und rückt die 'Kritik der politischen Ökonomie' in den Vordergrund. Ansätze,
die sich auf die Entfremdungsproblematiken in den philosophisch-ökonomischen
Manuskripten beziehen wie z.B. die Frankfurter Schule , werden im
allgemeinen als 'bürgerlich existentialistisches Denken' (Tronti) und als
'mystisch-magische Weltkonzeptionen' (Colletti), die die Relevanz des
Arbeiterantagonismus nicht zu erfassen vermögen, kritisiert. Das Verdienst
des 'Frankfurtismus' sei es allerdings, die Wichtigkeit des subjektiven
Faktors herausgearbeitet zu haben ... In der Betonung der kämpferischen
Subjektivität nicht des Individuums, sondern der 'Klasse' liegt der Schlüssel
zum Verständnis des 'operaismo'. Seine Revolutionsvorstellungen basieren auf
der 'Insubordination der Arbeiter', d.h. auf dem Widerspruch zwischen Kapital
und Arbeit: Konzeptionen, die sich auf den technologischen Fortschritt als
wichtigste Voraussetzung für die (allmähliche) Entwicklung zum Sozialismus
gründen, werden als 'objektivistische Ideologien' (Panzieri) abgetan«
(Bierbrauer).
In ihren theoretischen Arbeiten stützten sich die
Operaisten nicht mehr auf den qualifizierten Facharbeiter, sondern auf den
dequalifizierten und am Fließband ausgepreßten Massenarbeiter (operaio massa).
Daraus formulierten sie die Forderung nach einer Arbeiterkontrolle über den
kapitalistischen Arbeitsprozeß in der Fabrik als ein politisches Instrument zur
Herbeiführung eines revolutionären Durchbruches. Der Theorieansatz des
Operaismus verknüpfte sich in der Revolte 68/69 massenhaft mit den
unmittelbaren Erfahrungen der Fließbandarbeiter in den Großfabriken. Die
Klassenkampfaktionen führten auch aufgrund der besonderen sozialen
Ausgangsbedingungen in Italien (Nord-Süd-Konflikt, Tradition des militanten und
bewaffneten Widerstandes gegen den Faschismus, eine starke KP) zu historisch
bisher nicht gekannten Formen des Kampfes in der Fabrik und im Stadtteil. Die
Situation der Fließbandarbeiter war gerade in den Automobilfabriken bei FIAT
(dem »Herz des italienischen Kapitalismus«) dadurch gekennzeichnet, als
kleines Anhängsel einer gigantischen Maschinerie der Massenproduktion dazu
gezwungen zu sein, bis zur psycho-sozialen Erschöpfung in millionenfacher
Wiederholung ständig die gleichen primitiven Tätigkeiten auszuführen. Dabei
verlor die Arbeit jeden Sinn als produktive Tätigkeit, und so richtete sich der
ganze aufgestaute Haß der Arbeiter nicht nur allein gegen die Verfügungsgewalt
der Kapitalisten über die Produktionsmittel, sondern gleich direkt gegen die
Organisation der Arbeit. Zeitweise verloren die traditionellen
Arbeiterorganisationen jegliche Kontrolle über die revoltierenden Fließbandarbeiter,
die sich während ihrer Fabrikkämpfe autonom in überall gegründeten
Basiskomitees organisierten und Delegierte mit einem imperativen Mandat in die
Arbeitervollversammlungen entsendeten. Ihre Aktionen zeichneten sich durch eine
große Flexibilität, Unberechenbarkeit und Militanz aus: Es fanden wilde
Streiks statt, die zusammen mit einem enormen Ausmaß an gezielten
Sabotageaktionen weite Teile der Produktion lahmlegen konnten. Zudem waren die Kämpfe
von einem wachsenden Absentismus (Krankfeiern) in den Fabriken begleitet. Die
Fabrikkämpfe weiteten sich schließlich bis zum Herbst 1969 in einem ungeahnten
Ausmaß im Verlauf von Tarifauseinandersetzungen aus, auf deren Höhepunkt es zu
einem landesweiten Generalstreik mit einer am 25. September 1969 mit 600.000
Metallarbeitern durchgeführten Demonstration in Turin kam.
Von der Niederlage des 'Operaio massa'
zum 'Operaio sociale'
Die autonome Arbeiterbewegung konnte in Italien jedoch in der Folge durch
eine veränderte Politik der Gewerkschaften wieder in die herkömmlichen Formen
der Gewerkschaftsarbeit integriert werden. Viele Basiskomitees wurden als untere
Ebene in die Gewerkschaftsstrukturen übernommen. Das ist u.a. darauf zurückzuführen,
daß sich mit der Ausweitung der Bewegung im »Heißen Herbst 1969« zugleich
auch das Problem der Führung dieser Massenaktionen stellte, das durch die
Politik der autonomen Arbeiterkerne nicht beantwortet werden konnte. Diesen
offenen Raum nutzten die traditionellen Organisationen der Arbeiterbewegung für
ihre Politik. Im Jahre 1970 mobilisierte die KPI unter der Parole: »Vom Kampf
in den Betrieben zum Kampf für die Reformen«. Zwar gab es auch weiterhin in
den norditalienischen Fabriken harte Auseinandersetzungen, die militanten
Arbeiterkämpfe hatten jedoch ihren politischen Höhepunkt überschritten. Mit
der von der herrschenden Klasse gesteuerten »Strategie der Spannung« wurde mit
Hilfe von Geheimdienstaktionen, die der autonomen Linken in die Schuhe geschoben
wurden, im Land ein reaktionäres Klima erzeugt: So wurde Ende des Jahres '69
inmitten des Zentrums von Mailand in einer Bank eine Bombe gezündet, durch die
16 Menschen starben. Diese Strategie diente dazu, die vielfältigen politischen
und sozialen Widersprüche von Teilen der italienischen Gesellschaft, wie z.B.
die Arbeitslosen Süditaliens, die Kleinbauern, das Landproletariat sowie die städtischen
Mittelschichten, gegen die revolutionäre Bewegung von 68/69 auszuspielen.
Trotz des »Roll backs« der Reaktion konnte die autonome Arbeiterbewegung noch
Teile der Produktionsabläufe in den Großfabriken kontrollieren. Dagegen
richtete sich seitens der Kapitalisten in den Folgejahren eine gezielte
Strategie der Dezentralisierung der Fabrikproduktion, die die politischen und
gewerkschaftlichen Organisationen der autonomen Arbeiterbewegung unterlief.
Im Jahre 1973 löste sich mit »Potere Operaio« die größte der linksradikalen
Gruppierungen der militanten Arbeiterkämpfe aus den 60er Jahren auf, da sie mit
ihren bislang praktizierten Organisations- und Aktionsformen gegen die neue
Strategie des Kapitals innerhalb der Fabrik keine wirksame Antwort mehr
entwickeln konnte. Bei FIAT wurde spätestens Mitte der 70er Jahre mit einer
massiven Umstrukturierungswelle begonnen, gegen die sich aber innerhalb der
Fabrik kein Widerstand entfaltete, da die vorbereitende Umstrukturierung außerhalb
der Produktion stattfand. FIAT begann mit der beschleunigten Entwicklung von
Industrierobotern, die mit einer Auslagerung sowie Diversifizierung der
Produktion verbunden wurde. Durch diese Maßnahmen wurden die autonomen Arbeiter
genau an der Stelle entmachtet, wo sie jahrelang stark waren an ihrer
Arbeitsstelle.
Der Prozeß der Dezentralisierung und Automation der Großindustrieproduktion führte
einerseits zu einer drastischen Verringerung von Arbeitsplätzen im formellen
Sektor, andererseits zu einer enormen Ausweitung der Produktion in
Kleinstfabriken und Heimarbeitsstätten. Diese Tendenz wurde von operaistischen
Theoretikern wie z.B. Negri unter den Begriff »Fabrica diffusa« gefaßt. Er
versucht eine ökonomische Entwicklung im Italien der 70er Jahre zu beschreiben,
die einhergeht mit einer starken Ausweitung eines »marginalen Proletariats«.
Dieses fiel in seiner ökonomischen und politischen Bedeutung besonders in
Italien ins Gewicht: Ende der 70er Jahre wurde das marginale Proletariat auf ca.
neun Millionen Menschen geschätzt. Darunter sind hauptsächlich Jugendliche,
Alte und Kranke zu verstehen, die durch die Dezentralisierung der Großindustrieproduktion
aus stabilen Beschäftigungsverhältnissen gedrängt wurden und entweder ständig
ungesichert beschäftigt oder arbeitslos und damit auf staatliche Unterstützung
angewiesen waren. Hinzu kommen noch zehntausende von Studenten und Akademikern,
die nach dem Bildungsboom in den 60er Jahren auf einen Arbeitsmarkt stießen,
der in den entsprechenden Sektoren z.B. in der staatlichen Bürokratie
schon lange an seine Grenzen gestoßen und für die Universitätsabsolventen
geschlossen war.
Jener Flügel der operaistischen Theorie, der weiterhin auf eine revolutionäre
Organisierung jenseits aller bestehenden Organisationen drängte, verschob
seinen Ansatz vom »Operaio massa« des Massenarbeiters als bestimmende
soziale Figur der Klassenkämpfe in den 60er Jahren hin zur sozialen Figur
des »Operaio sociale«, dem gesellschaftlichen Arbeiter. In diesem
theoretischen Ansatz wird der Kampf von der Fabrik (aus der Produktion) in die
Gesellschaft ausgeweitet. Damit reagiert der Ansatz des »Operaio sociale«
sowohl auf die Zerstreuung der Produktion in den Regionen als auch auf die
Revolte der Frauen und die Bewegung der Jugendlichen.
Entstehung und Zerfall der 77er Autonomia-Bewegung
Im Jahre 1977 entwickelte sich eine zweite massenhafte Bewegung der
Autonomia. Sie bezog sich jedoch in ihren Subjekten nicht mehr auf die
Fabrikarbeiter, sondern auf das marginale Proletariat von Studenten,
jugendlichen Arbeitslosen, prekär Beschäftigten und alten politischen Kernen
der Autonomia aus den 60er Jahren. Im Unterschied zur »alten« autonomen
Klassenbewegung, die auf einen Bruch zwischen der Basis der traditionellen
Arbeiterorganisationen zu deren Führung abzielte, war diese Bewegung zugleich
strikt antiinstitutionell und antikommunistisch gegen die Politik der PCI
gerichtet. Die neue Bewegung drückte sich im Jahre 1977 in einer ungeheuren
Intensität von kreativen und militanten Formen des Protests und Widerstands
gegen den Staat aus. Zentren der Revolte waren die Universitäten und die
norditalienischen Großstädte. Die Bewegung bestand im wesentlichen aus zwei
Strömungen: Ein Zweig war die »Autonomia creativa«, sozusagen die Spontis,
die gegen die herkömmlichen Formen der Machtkämpfe mit dem Staat waren und
konventionelle Organisationsstrukturen sowie kontinuierliche politische Arbeit
ablehnten und den Straßenkampf mehr als Happening denn als politische Aktion
begriffen. Daneben existierten auch weiterhin die Gruppen der »Autonomia
operaia«, die versuchten, die verschiedenen Teile der Bewegung zu organisieren,
um die spontane Revolte zu einem kontinuierlichen Angriff auf das
kapitalistische System umzuwandeln.
Innerhalb der »Autonomia creativa« fanden sich vor allem zwei wesentliche
Ausdrucksformen: die »Circoli del proletario giovanile« und die »Indiani
Metropolitani«. Erstere entwickelten sich seit 1975 als spontane und lockere
Organisation von Jugendlichen in den am meisten von der ökonomischen
Marginalisierung betroffenen Vororten der Großstädte. Sie propagierten die
Politik der unmittelbaren Wiederaneignung des eigenen Lebens (Politica di
riappropriazone), die im scharfen Widerspruch zu der von der PCI damals unterstützten
Austeritätspolitik, des Programms der moralischen Strenge und des ökonomischen
Verzichts, stand. Dagegen setzten die »Circoli« ihre eigene Praxis, die u.a.
darin bestand, massenhaft in Supermärkten »proletarisch« einzukaufen, d.h. zu
plündern, Jugendzentren als kollektiven Treffpunkt zu besetzen, die Zerstörung
der eigenen sozialen Strukturen durch Heroinkonsum zu bekämpfen, indem man
Heroindealer überfiel und verprügelte, sich den kostenlosen Eintritt zu
Musikkonzerten zu verschaffen, sowie umsonst die öffentlichen Verkehrsmittel
und Kinos zu benutzen. Über das Selbstverständnis der »Circoli« nachfolgend
ein Zitat aus dem »Communiqué 1« zur Stürmung des Umbria Jazz Festivals im
Sommer 1975:
»Die Waffe der Musik kann die Musik der Waffen
nicht ersetzen. Umbria Jazz. Die Musik als Spektakel ist der Versuch, jedes
Moment der Kollektivierung auf Frei/Zeit zu reduzieren. Zwischen den
Organisatoren des Konzerts und den Massen der proletarischen Jugendlichen gibt
es einen objektiven Widerspruch; das ist nicht einfach eine Frage der Leitung,
es geht nicht nur darum, wer an der Musik verdient. Das Problem ist nicht,
selbstverwaltete Konzerte zu machen. Das Problem ist, daß uns das Konzert die
Musik als Spektakel vorsetzt, wie uns die ritualisierten Demos und
Kundgebungen die Politik als Spektakel vorsetzen. Wir müssen uns in jedem
Fall auf Zuschauer, auf Publikum reduzieren.
In diesen Momenten der Konzentration dagegen können Spannungen explodieren,
die die Bedürfnisse und Potenzen des jugendlichen Proletariats repräsentieren«
(A/traverso, Juni '75).
Aus den Reihen dieser Autonomiaströmung wird im
Dezember 1976 auch der Sturm von mehreren tausend proletarischen Jugendlichen
auf die Mailänder Scala organisiert, der mit einer Plünderung von Luxusgeschäften
in der Innenstadt endet.
Die »Indiani Metropolitani« wirkten hauptsächlich im Umkreis der Universitätsstädte
und drückten in ihren Gesten ihre Verbundenheit mit »Naturvölkern« als
radikale Negation der großstädtischen und kapitalistischen Lebensweise aus. In
der Autonomiarevolte '77 waren sie vor allem die Träger der alternativen Werte
(Ökologie, alternative Ernährung, sexuelle Befreiung), die jegliche
instrumentelle Vernunft ablehnten und u.a. das befreiende Potential des
Haschischkonsums propagierten. Aus dem »Manifest der 'Indiani Metropolitani'«
von Rom:
»10, 100, 1.000 Hände haben sich überall
geballt, um das Kriegsbeil zu erheben! Die Zeit der Sonne und der tausend
Farben ist angebrochen ... Es ist die Zeit, daß das Volk der Menschen in die
grünen Täler hinabsteigt, um sich die Welt zurückzuholen, die ihm gehört.
Die Truppen der Bleichgesichter mit ihren blauen Jacken haben all das zerstört,
was einst Leben war, sie haben mit Stahl und Beton den Atem der Natur
erstickt. Sie haben eine Wüste des Todes geschaffen und haben sie
'Fortschritt' genannt.
Aber das Volk der Menschen hat zurückgefunden zu sich selbst, zu seiner
Kraft, seiner Freude und zu seinem Willen zu siegen, und lauter denn je
schreit es mit Freude und Verzweiflung, mit Liebe und Haß: Krieg!!!« (»Lotta
Continua«, 1.3.1977).
Die »Autonomia creativa« fand zu jener Zeit ihren
reichhaltigen Ausdruck in hunderten von alternativen Presseorganen und über 50
linksradikalen Radiostationen, von denen »Radio Alice« in Bologna das
bekannteste wurde. Es gab eine Vielfalt von Wandmalereien, Straßentheatern und
Massenfestivals. Zentraler politischer Inhalt dieser Strömung ist die Politik
der Freiräume, in denen die alltäglichen Bedürfnisse politisiert und in
kollektiven und selbstbestimmten Formen ausgelebt werden. Insbesondere die Figur
des »Stadtindianers« wird 1977 in der bundesdeutschen Spontiszene begeistert
aufgenommen.
Demgegenüber versucht der andere Hauptstrang der 77er-Bewegung, die »Autonomia
operaia organizzata«, weniger die Flucht aus dem System als vielmehr dessen
bedingungslose Zerstörung zu praktizieren. Sie setzte sich aus einer Vielzahl
von locker koordinierten Komitees, Zirkeln und Kollektiven zusammen, in denen
auch die Reste der verschiedenen 69er-Basiskomitees aus den italienischen
Fabriken mitarbeiteten, so z.B. auch viele Mitglieder von »Potere operaio«,
die sich im Jahre 1973 in die Bewegung außerhalb der Fabriken aufgelöst
hatten.
Im Frühjahr 1977 explodierte die neue Bewegung in einem ungeahnten Ausmaß:
Ausgelöst durch die Abschaffung einiger Feiertage sowie durch ein geplantes
Gesetz zur Universitätsreform, begannen Studenten in Palermo, Catania und
Neapel mit Universitätsbesetzungen. Die Bewegung breitete sich schnell über
ganz Italien aus. Nach einem bewaffneten faschistischen Überfall auf eine
Vollversammlung der Universität in Rom am 1. Februar kam es am Tag danach zu
einer Demonstration von tausenden von Studenten, die von den Bullen mit Pistolen
und Maschinengewehren angegriffen wurde. Erstmals machten dabei auch
Demonstranten von der Schußwaffe Gebrauch. Bei den folgenden militanten
Autonomendemonstrationen kam es in Italien immer häufiger zur Anwendung von
Schußwaffen seitens der Demonstranten; die »P 38« wurde zu einem
Erkennungsmerkmal der Bewegung. Nach der Demonstration in Rom wurde die
Universität von den Studenten besetzt. Dort kam es auch am 17. Februar zu einem
Ereignis, das symbolisch den Bruch zwischen der organisierten Arbeiterklasse und
der 77er-Bewegung der italienischen Autonomia demonstrierte: Bei dem Versuch des
Vorsitzenden der kommunistischen Gewerkschaft, Lama, in der Universität eine
Rede zu den Problemen der Studenten zu halten, wird dieser von vier- bis fünftausend
StudentInnen und Jugendlichen empfangen, die sein Ebenbild als große Puppe
schwenken und ihn mit Spottversen überhäufen. Zwischen dem herbeigekarrten
gewerkschaftlich-kommunistischen Ordnungsdienst und den StudentInnen kam es
dabei während der Rede Lamas zu Schlägereien, als dieser an die Adresse der
Studenten die klassischen Angriffe der »Wohlfahrtsideologie« und des »Parasitismus
auf Kosten der produktiven Arbeit« richtete, die angesichts der realen sozialen
Situation der Studenten von diesen als glatter Hohn empfunden wurden. Den
autonomen Studenten gelang es im Laufe einer Massenprügelei, den »superbonzo«
Lama vom Universitätsgelände zu vertreiben, was von ihnen als »la Piazza
Statuto dell'operaio sociale« gefeiert wurde.
In der Folgezeit überstürzten sich die Ereignisse. Nachdem es in Bologna, in
der Musterstadt einer kommunistischen Kommunalverwaltung, schon den ganzen
Winter zu Hausbesetzungen, Plünderungen von Restaurants, Besetzungen von Kinos
usw. gekommen war, eskalierte die Situation am 11. März. Während eines
Bulleneinsatzes auf dem Unicampus wurde ein Autonomer erschossen. Daraufhin kam
es zu tagelangen schweren Straßenschlachten, in deren Verlauf eine
Waffenhandlung geplündert wurde. Es gelang den StudentInnen in der verwinkelten
Altstadt Bolognas mit Barrikaden drei Tage lang ein bullenfreies Gebiet zu
halten, bevor das Gelände mit Militäreinheiten geräumt werden konnte.
Am 12. März kam es in Rom zu einer Demonstration von über 50.000 Menschen
gegen die Verurteilung eines Anarchisten. Diese Demonstration eskalierte in eine
der größten Straßenschlachten, die die italienische Hauptstadt jemals erlebt
hatte. Dabei praktizierten Gruppen aus dem Strang der »Autonomia operaia
organizzata« das von ihnen zuvor propagierte »neue Niveau der
Auseinandersetzung«, die bewaffnete Aktion. Während der Demonstration wurden
zwei Waffengeschäfte geplündert, unzählige Geschäfte, Cafés und Hotels verwüstet,
hunderte von Autos und viele Busse umgestürzt und verbrannt. Büros und
Zeitungen der regierenden Christdemokratischen Partei (DC) wurden mit
Benzinbomben angegriffen. Der Ablauf dieser Demonstration markierte jedoch einen
Wendepunkt in der weiteren Entwicklung der italienischen Autonomia. Viele
DemonstrationsteilnehmerInnen fühlten sich durch die Dimension der Militanz überrumpelt
und funktionalisiert, dies umso mehr, als der Großteil von ihnen dem militärischen
Auftreten der Polizei und deren Racheaktionen nach Ende der Demonstration
relativ unvorbereitet und hilflos gegenüberstand.
Die Entwicklung spitzte sich schließlich am 14. Mai bei einer Demonstration in
Mailand zu. Gruppen von mit Knarren bewaffneten Jugendlichen griffen die Bullen
an und töteten einen. Die Ereignisse führen zu einer verschärften Isolation
der organisierten »Autonomia operaia« innerhalb der italienischen Linken. Mit
einer zunehmenden Entsolidarisierung und einer massiven staatlichen Repression
ging zugleich ein Zerfall des kreativen Strangs der Autonomia einher, der sich,
durch staatliche Zugeständnisse begünstigt, in die Drogensubkultur der Großstädte,
auf das Land oder in die Radikale Partei (in etwa vergleichbar mit den Grünen)
zurückzog. Unter maßgeblicher Mithilfe der PCI, die in ihren Zeitungen die
Namen von »Rädelsführern« der Autonomia abdruckte, wurden bis zum Sommer
1977 über 300 Autonome vom italienischen Staat in den Knast gesteckt, »Radio
Alice« in Bologna wurde verboten und dessen Sendeeinrichtungen beschlagnahmt.
Die staatliche Repression richtete sich gezielt gegen die Strukturen der
Bewegung, wie z.B. Buchläden, Verlage, Zeitungsredaktionen usw. Vorwand aller
Maßnahmen war die Konstruktion einer »subversiven Vereinigung«, die ein
Komplott gegen den italienischen Staat vorbereitet haben sollte.
Weite Teile der Aktivisten aus dem Umfeld der »Autonomia operaia« versuchten,
den Zerfall der Bewegung durch eine Steigerung der klandestinen Massengewalt (»Guerilla
diffusa«) aufzuhalten und sahen nur noch in der militärischen Konfrontation
mit dem Staatsapparat die Möglichkeit zur Entfaltung eines revolutionären
Prozesses. »Ganze Vollversammlungen gehen in den Untergrund.« Diese Linie
konnte jedoch die schwindende soziale Verankerung der politischen Bewegungen
nicht mehr ersetzen. Am 7. April 1979 kam es schließlich zu hunderten von
Verhaftungen (darunter auch Negri) gegen die »Autonomia operaia«. Von den
4.000 politischen Gefangenen des Jahres 1981 in Italien gehörten weit über
1.000 dieser Gruppierung an. Die Ereignisse vom 7. April 1979 wurden so zu einer
strategischen Niederlage der italienischen »Autonomia operaia«, von der sie
sich in den 80er Jahren nicht wieder erholt hat.
Dessen ungeachtet spielte und spielt die Rezeption des operaistischen
Theorieansatzes für die bundesdeutsche autonome Linke in ihrem eigenen
Selbstverständnis eine große Rolle. Bis zum Ende der 70er Jahre wurden so gut
wie alle wichtigen Schriften aus dieser marxistischen Strömung ins Deutsche übersetzt.
Die Schwierigkeiten der Vermittlung dieses Ansatzes in eine politische Praxis
von linksradikalen Gruppierungen in der BRD werden in den nachfolgenden Kapiteln
immer wieder von neuem gestreift.
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