Den qualitativen Sprung wagen
am 1. Mai von Kreuzberg nach Mitte

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Für einige beginnt schon im Februar die heiße Phase für den 1. Mai, und es ist wieder zu befürchten, daß die Köpfe sich nicht an den unterschiedlichen politischen Positionen, sondern an der Frage erhitzen, wo die revolutionäre 1.Mai-Demo eigentlich stattfinden soll. Die radikale Linke steckt seit Jahren am 1.Mai in einem Dilemma: nicht der „Kristallisationspunkt unserer Kämpfe" steht auf der Tagesordnung und wird demonstriert, sondern wieviel Macht welche Gruppe am gesellschaftlichen Kuchen - der für uns Linke sowieso nur aus ein paar wenigen Krümeln besteht - abbekommt. Nicht politische Inhalte stehen im Vordergrund, sondern nur welche Gruppe sich wie auf einer Pressekonferenz darstellen kann. Ein nicht gerade kleiner Teil der Demonstrierenden scheint diesen Niedergang politischer Kultur der radikalen Linken aufzugreifen und erscheint vollkommen alkoholisiert auf der egoistischen Suche nach Erfüllung eigener Bedürfnisse, mit allen aus den letzten Jahren bekannten Konsequenzen. Es scheint fast, als müßten Grüne Bomben werfen, damit die radikale Linke überhaupt noch einen politischen Ausdruck auf Demonstrationen findet.

Um diese Litanei jedoch nicht endlos fortzusetzen, wollen wir euch gleich ein paar Vorschläge machen, die es ermöglichen, allen Gruppeninteressen zumindest in großen Teilen gerecht zu werden und die gleichzeitig der rev. 1.Mai-Demo einen starken, von allen getragenen politischen Charakter verleihen.

Der Kiezbezug

Der rev. 1.Mai sollte immer auch den Zustand der radikalen Linken ausdrücken, noch nicht stark genug zu sein. um in die Zentren der Herrschenden zu gehen und der deshalb vorwiegend in den sog. Proletarischen Stadtteilen verläuft, um einen besseren Kontakt zu den Unterdrückten zu finden und diese zu ermutigen mit uns gemeinsam zu kämpfen, um irgendwann einmal stärker zu werden und dann auch wieder in die Zentren der Macht zu gehen. Es zeigt sich jedoch, daß wir im 12. Jahr des rev. 1.Mais nicht unbedingt mehr geworden sind, und gleichzeitig, daß uns die eigenen Kieze keine absolute Sicherheit vor den Bullen bieten können. Die kurze Zeit, in der es den Bullen letztes Jahr gelang, die halbe Demo wegzuprügeln, zeigt dies überdeutlich. Gleichzeitig muß jedoch gesehen werden, daß gerade in SO 36 nicht nur viele radikale Linke immer noch wohnen, sondern daß auch größere Teile der Bevölkerung die rev. 1.Mai-Demo positiv sehen - kein Laden macht am 1.Mai extra zu, kein „Bürgerforum" hetzt gegen den 1.Mai und selbst der grüne Bezirksbürgermeister kann nicht umhin, den rev. 1.Mai zu Kreuzberg gehörig zu zählen. Hinzukommt, daß SO 36 sozial die besten Bedingungen für einen rev. 1.Mai bietet: 40 % Arbeitslosigkeit, das niedrigste Pro-Kopf-Einkommen und mindestens 40 % der Bevölkerung, denen Grundrechte aberkannt sind, in • dem sie zu „Ausländern" gestempelt werden, die zu großen Teilen auch wieder Linke sind im Gegenteil zum Wedding.

Vor allem die Kräfte, die seit 1988 fast jedes Jahr den 1.Mai mit vorbereitet haben, sollten deswegen überlegen, ob es unbedingt notwendig ist, ausschließlich in den „proletarischen" Kiezen Kreuzberg und Neukölln zu laufen.

Der Ost-Bezug

Nicht erst die Antifa, schon ein paar Monate nach der Wende kam Kritik an der West-Ausrichtung der Demo auf, die auch an der Route festgemacht wurde. Wenn sich auch in späteren Jahren gerade der sog. „Ostblock" von der Demo distanzierte, so muß doch auch gesehen werden, daß die rev. 1.Mai-Demo nicht mehr so ablaufen kann, wie noch zu Zeiten der Mauer.

Gleichzeitig gibt es jedoch vor allem im Prenzlauer Berg Kampagnen bis hin zur offenen Hetze gegen einen rev. 1.Mai in diesem Bezirk. Alles was für Kreuzberg positiv spricht, ist hier ins genaue Gegenteil verkehrt: eine fast 100 %ige deutsche Bevölkerung, teils faschistisch ausgerichtet, eine offene Zusammenarbeit großer Teile dieser Bevölkerung mit den Bullen, Schließung und Verbarrikadierung von Kneipen und Läden.

Vor allem die Antifa sollte deswegen überlegen, ob es unbedingt notwendig ist, im Prenzlauer Berg zu laufen.

Abends oder am Tag?

Die Idee, die rev. 1.Mai-Demo auf 18 Uhr zu verlegen, hat sich in den letzten beiden Jahren als gut erwiesen. In Berlin konnte damit verhindert werden, daß die Nazis eine eigene Demo machen konnten und selbst in Leipzig war es möglich, ihnen wenigstens etwas entgegen zu setzen. Mit dieser Verlegung ist auch endlich die seit der Wiedervereinigung existierende Diskussion, ob die radikale Linke am 1.Mai allein gegen Nazis vorgeht oder auch noch eigene Inhalte versucht durch eine Demonstration auszudrücken, endgültig erledigt, da beides jetzt möglich ist. Wir denken, daß dies auch so bleiben sollte.

Die Konsequenzen

Zuletzt hat die Gruppe „Venceremos" 1999 den Vorschlag gemacht, auch Mitte als Zentrum der Herrschenden - und mittlerweile auch als deren Rückzugsraum - in den rev. 1.Mai miteinzubeziehen, was, wie oben schon erwähnt, einen qualitativen Sprung gleichkäme. Bisher wurden Vorschläge in diese Richtung meist schnell wieder verworfen. Wir können uns aber sehr wohl vorstellen, von Kreuzberg nach Mitte zu laufen. Mit einem Beginn in SO 36 wäre zum einen der Kiezbezug gewahrt, mit einem Abschluß in Mitte zum anderen der Bezug auf den Ostteil. Darüber hinaus hätten nicht-deutsche Gruppierungen die Möglichkeit, in ihrer Sprache unter ihren Landsleuten ihre Positionen zu propagieren. Eine Route über die Koch/Friedrichstr. Bietet zudem noch die Gelegenheit, an mehreren zentralen der Macht vorbeizukommen, was wiederum auch den politischen Charakter deutlich unterstreichen würde: 1. Springer, 2. Taz und 3. Ist es von der Kochstr. Nicht weit zur Bundesgeschäftsstelle der CDU (Auf zum spenden!) und zur Friedrichstr. Sowieso. Wir könnten sogar zum Mahnmal der ermordeten Jüdinnen und Juden ziehen und eine Kranzniederlegung/Schweigeminute abhalten. Letztes Jahr hat sich gezeigt, daß die Bullen uns selbst in unseren Stadtteilen aufhalten können, ohne daß wir ihnen großartig etwas entgegen zu setzen wußten. Wenn sie uns dieses Jahr auf dem Weg zum Mahnmal wieder aufhalten wollen, können wir das dann wenigstens politisch benutzen.

In diesem Sinn:
Den Sprung wagen.

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