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Neue Arbeit
Durchwursteln oder eine reale Chance fuer die Veraenderung der Arbeitsgesellschaft?
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Ca. 90 Personen folgten Mitte Dezember der Einladung, sich ueber das Konzept "Neue Arbeit" des Philosophen F. Bergmann und dessen praktische Umsetzung zu informieren. Neben Frauke
Hehl, des Berliner Projektes "workstation", die die Veranstaltung leitete, berichteten Elisabeth von Renner (Netzwerk Neue Arbeit, Kassel), Manuela Krengel, Monika Schulz (Haus der Moeglichkeiten in Lauchhammer) und Michael Birkenbeul (Sozialistische Selbsthilfe Koeln-Muelheim) aus der laufenden Arbeit in ihren Projekten.

Zunaechst fuehrte Elisabeth von Renner in die Theorie von Frithjof Bergmann ein. Bergmann geht in seinem Konzept davon aus, dass immer weniger Menschen einen Vollerwerbsarbeitsplatz ein Leben lang innehaben werden. Daraus zieht er die Konsequenz ueber eine Drittelung der zur Reproduktion notwendigen Arbeits-Zeit in "`normale' Erwerbsarbeit", "High-Tech-Selfproviding" (Eigenarbeit) und "calling" (Berufung) den Betroffenen Moeglichkeiten jenseits des traditionellen  Erwerbsarbeitssystems zu eroeffnen. Bergmann moechte mit seinem Konzept, zum einen die verfuegbaren Jobs gerechter verteilen. Zum zweiten, betont er, dass durch Eigenarbeit
und schlauen Konsum materielle Einbussen der Reduzierung der Arbeitszeit ausgeglichen werden koennen. Insgesamt, so Bergmanns Vorstellung, traegt "Neue Arbeit" zur Verbesserung der Lebensqualitaet der Menschen bei; neben der Erwerbsarbeit bleibt genuegend Zeit zu ueberlegen, was man/frau wirklich will, um daraus neue Perspektiven zu entwickeln.

Nach der theoretischen Einfuehrung stellten Manuela Krengel und Monika Schulz ihr Projekt "Haus der Moeglichkeiten" in Lauchhammer vor. Die Kleinstadt Lauchhammer gehoert zu den Industrieregionen der neuen Laender, die von extrem hoher Arbeitslosigkeit betroffen sind, nachdem der Braunkohle-Abbau und die damit zusammenhaengende Schwerindustrie weggebrochen sind. Mit dem Haus der Moeglichkeiten, das verschiedene Werkstaetten (Toepferei, Naehwerkstatt, Kunst- und Kulturzentrum) beinhaltet, sollte zunaechst ein Begegnungszentrum geschaffen werden, das Raum fuer Idee, Kreativitaet und im Bergmann'schen Sinne "calling" bietet. Ausserdem werden verschiedene Beratungen  angeboten. Die beiden Frauen aus Lauchhammer berichteten von anfaenglichen Problemen, Akzeptanz fuer andere Formen der Arbeit bei Menschen zu finden, deren Vorstellung vom lebenslangen sicheren Arbeitsplatz ploetzlich zerstoert wurde. Es braucht  offensichtlich einige Zeit und sehr viel Engagement der ProjektinitiatorInnen, einen Umdenkungsprozess anzustossen.

Nach mittlerweile fast zweijaehriger Erfahrung werden die Angebote jetzt in groesserem Umfang genutzt, neue Projekte befinden sich in der Planung. Das Hauptproblem besteht aktuell darin, die 
Finanzierung des Projektes ueber das Auslaufen der Arbeitsbeschaffungsmassnahmen hinaus zu sichern.

Michael Birkenbeul von der "Sozialistischen Selbsthilfe Muelheim" (SSM) konnte dagegen aus der 20jaehrigen Erfahrung seines Projektes darstellen, dass die Bergmann'sche Theorie der Drittelung von "Erwerbsarbeit", "Selfproviding" und "Calling" in der Praxis funktioniert. In der SSM haben sich 16 Personen zusammengefunden, um auf einer alten Industriebrache gemeinsam zu leben und zu arbeiten. Die SSM betreibt ein Umzugs- und Entruempelungsunternehmen und einen  Second-Hand-Laden, in dem gemeinschaftlich gearbeitet wird, und aus deren Gewinnen 100 DM woechentlich an alle Mitglieder, auch an Kinder,  ausgezahlt wird. Alle werden kranken- und rentenversichert. Darueber  hinaus leben die Mitglieder der SSM mietfrei, essen gemeinsam und
koennen sich ihren Bedarf an Kleidung, Haushaltswaren etc. aus ihrem Laden geldlos besorgen. "Erwerbsarbeit" und "Selfproviding" gehen hier nahtlos ineinander ueber.

In der Diskussion gab es zunaechst zahlreiche Nachfragen zur Praxis der einzelnen Projekte. Im Vordergrund standen dabei Fragen der  Finanzierung (oeffentliche Gelder ja oder nein; welche oeffentlichen  Gelder koennen genutzt werden etc.), Fragen der Renten- und Alterssicherung (was passiert, wenn man/frau nicht mehr erwerbs- oder eigenarbeiten kann, welche Form der Alterssicherung existiert im Konzept von Bergmann) und die Frage nach dem Uebergang von Eigenarbeit in gewerbliche Taetigkeit (wo hoert Eigenarbeit auf und wann faengt gewerbliche Arbeit an).

Eine grundsaetzlichere Diskussion entbrannte an der Frage, ob ein Projekt wie die SSM, eine reine Nische sei oder einen Alternativentwurf  darstellen koennte. Aus dem Publikum heraus wurde argumentiert, dass die SSM nur als Armuts-Oekonomie funktionieren koenne, bei der die einzelnen auf einem relativ geringen materiellen Niveau lebten. Michael  Birkenbeul rechnete allerdings vor, dass sie materiell nicht sehr viel  schlechter darstehen, als manch' eine normale Angestellte, wenn man die Lebenshaltungskosten, die bei der SSM gemeinschaftlich getragen werden, werden, mit einbezieht. Dagegen trug er sehr ueberzeugend vor, dass dieses gemeinschaftliche Leben ein mehr an Lebensqualitaet beinhalte.

Als zweiter grosser Einwand gegen das Konzept von Bergmann wurde vorgebracht, dass es zur Individualisierung der Erwerbslosigkeit beitrage, gerade wenn, wie im Projekt von Lauchhammer das individuelle "Calling" im Vordergrund steht und Erwerbslosigkeit mehr psycho-sozial bearbeitet werde. Zudem wurde angemerkt, boeten die in Lauchhammer initiierten Werkstaetten kaum tatsaechliche Zukunftsperspektiven jenseits der Erwerbsarbeit fuer eine groessere Zahl von Personen. Keinesfalls koenne eine Toepferei und eine Naehwerkstatt Industriearbeitsplaetze ersetzen. Die Frage wurde laut: kann "Neue Arbeit" unter den Bedingungen der Massenarbeitslosigkeit in Lauchhammer mehr sein als eine  Beschaeftigungstherapie?

Hier wurde angemerkt, dass es neue Ideen fuer ein groesseres Projekt gibt, das auch "Marktchancen" besitzt. Das Konzept schliesse, wie das Beispiel der SSM zeigt, nicht aus, dass Neue Arbeit-Projekte auch "am Markt" erfolgreich sein koennen. Zugleich wurde noch einmal betont, dass das Haus der Moeglichkeiten zunaechst einmal ein kleiner Versuch war, moeglichst niederschwellig Angebote zu machen, einen Umdenkungsprozess in Gang zu bringen.

Ein dritter grosser Diskussionsbereich war die Frage nach dem gesellschaftlichen und individuellen Interessen an "Neuer Arbeit". Die zahlreichen Fragen aus dem Publikum machten deutlich, dass ein Interesse einzelner Personen, sich an einem Neue Arbeit-Projekt zu beteiligen, durchaus
vorhanden ist und es einen Bedarf an Beratung und der Vermittlung von Kontakten gibt. Interessanterweise gibt es sowohl in Lauchhammer als auch in Koeln-Muehlheim Arbeitsaemter und GewerkschaftlerInnen, die auf der Suche nach Perspektiven, sich fuer das Neue Arbeit-Konzept zu interessieren beginnen. Allerdings gibt es bisher kaum Unternehmen oder Betriebe, die sich an der Verwirklichung der Drittelungs-Idee Bergmanns beteiligen. Das Netzwerk Neue Arbeit versucht
zur Zeit, wie Elisabeth von Renner erklaerte, Unternehmen zu gewinnen.

Fazit: Mit der Veranstaltung wurden zahlreiche Informationen zur Praxis existierender Neue-Arbeit-Projekte einer breiteren Oeffentlichkeit vorgestellt. Dass sich rund 90 Personen aus ganz unterschiedlichen linken Spektren fuer das Thema interessieren, kann bereits als ein Erfolg gewertet werden. Das positive Beispiel der Sozialistischen Selbsthilfe Muehlheim gab darueber hinaus Anschauung, dass die Theorie der Neuen Arbeit auch in der Praxis funktionieren kann und vermittelte Anregungen, die, so der Eindruck, vom Publikum mit Interesse wahrgenommen wurden. Die rege Diskussion machte zugleich deutlich, dass neben dem grossen Interesse an Formen des kollektiven, anderen Arbeitens, grundsaetzliche Fragen an Bergmann noch offen stehen und eine kritische Auseinandersetzung fortgesetzt werden muss. Offen blieben u.a. die Fragen,
  • ob das Konzept Neue Arbeit Perspektiven auch im Bereich der (relativ gesicherten) Stammbelegschaften des industriellen Sektors bieten kann, oder ob es sich "nur" an die marginalisierten und prekarisierten ArbeitnehmerInnen richtet,
  •  ob und wie Neue-Arbeit-Projekte ihr Nischen-Dasein ueberwinden koennen, welches Verhaeltnis zum Markt angestrebt wird, inwieweit das Konzept mehr leistet als Menschen in eine ohnehin unsichere Selbstaendigkeit zu entlassen,
  • wie sich das Konzept in die Diskussion um den Sozialstaat einreiht, ob es ggf. Ansatzpunkte gibt, das Konzept Neue Arbeit in die laufende Existenzsicherungsdebatte /
    soziale Grundrechtsdebatte zu integrieren usw. 

Fuer Februar ist eine Diskussionsveranstaltung mit Bergmann selbst geplant, auf der diese Fragen vertieft diskutiert werden sollen.

Kontakt: Frauke Hehl, E-Mail: work.station@berlin.de und http://www.snafu.de/~workstation

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