Die aktuelle Struktur des globalen Kapitalismus
Leseauszüge aus einem Referat auf dem isw-forum: "Globaler Umbruch. Protektionismus? Rechtsextremismus? Krieg?"

von Leo Meyer

02/2019

trend
onlinezeitung

Vorbemerkung: In der Nr.12/2018 veröffentlichten wir "Kommunismus #13", das theoretische Organ der Gruppe "Kommunistischer Aufbau". Darin stellt die Gruppe ihr Konzept für eine Klassenanalyse vor. Der Herausgeberkreis von TREND (AKKA) hat begonnen, sich mit dieser Schrift zu beschäftigen. Eines der Punkte, womit der AKKA sich bei seinem Februar-Treffen befassen wird, ist die vom "Kommunistischen Aufbau" entwickelte Vorstellung von "Weltmonopolen", deren "Produktionsketten" von oben nach unten "pyramidenförmig" organisiert sind. Für Leo Mayer handelt es sich hingegen um "Produktionsnetzwerke" verbunden durch "globale Wertketten". Anstelle von "Weltmonopolen" ist bei ihm die Rede von "multinationalen Konzernen". Der AKKA wird beide Positionen vergleichend diskutieren. 

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24.6.2017

.... Anders als in den 20er- und 30-Jahren des vorherigen Jahrhunderts werden heute nicht mehr hauptsächlich Rohstoffe, Agrargüter und industrielle Fertiggüter gehandelt, sondern der Welthandel wurde und wird im heutigen Kapitalismus durch den rasanten Aufbau von globalen Produktionsnetzwerken / Wertketten / global value chain, kurz GVC angetrieben.

Die Multinationalen Konzerne haben ihren gesamten Prozess der Wertschöpfung – Entwicklung und Design, Zulieferung und Herstellung, Montage, Marketing und Vertrieb – aufgebrochen und in globalen Wertketten so über die Welt verteilen, dass die jeweiligen regionalen Vorteile bestmöglich genutzt werden können. Über die Welt verstreut verbinden sie in einem Netzwerk die technologischen Vorteile mit Niedriglohn, niedrigen Umwelt- und Sozialstandards in auswärtigen Standorten und organisieren Zulieferungen und Produktion über verschiedene Unternehmen in der ganzen Welt.

Gehandelt wird mit Halbfabrikaten, Zwischenprodukten, Komponenten, Teilfabrikaten – sog „intermediären Gütern“ -, die entlang der Wertkette von einem Ort zum anderen transportiert werden. Der Handel mit diesen „intermediären Gütern“ innerhalb der globalen Wertketten beträgt bei den G20-Ländern zwischen 30% und 60% des Exports; nach OECD bestehen ca. 54% des weltweiten Handels aus Handel mit meist „maßgeschneiderten“ Produkten für die verschiedenen Stufen der Wertketten – die UNCTAD spricht sogar von 80%[1].

Der Handel mit intermediären Gütern ist das charakteristische Kennzeichen des heutigen Welthandels – oder anders: die Globalisierung der Produktion, der Mehrwertproduktion, ist die Grundlage des Welthandels. .....

... Für viele Multis aus den kapitalistischen Zentren bedeutet dies aber auch, dass sie mit einer wachsenden Zahl lokaler Konkurrenten konfrontiert sind, die auf Weltmarktniveau produzieren –und auf den Weltmarkt drängen (v.a. chinesische und indische Unternehmen). Knapp ein Viertel der 500 größten Unternehmen ist inzwischen in einem BRICS-Land beheimatet. Unternehmen aus den BRICS-Ländern treten zunehmend als Investoren in der globalen Arena auf. Im Jahr 2016 kauften sie weltweit für 100 Mrd. USD Unternehmen bzw. Unternehmensbeteiligungen auf; 2015 waren es nur 37 Mrd. USD. (WIR2017) Für den Welthandel bedeutet diese Entwicklung, dass mit dem regionalen Ausbau von Gliedern globaler Wertketten die Tendenz verstärkt wird, dass auch bei größerer weltwirtschaftlicher Produktion der Welthandel schwächer wächst; Wachstum wird weniger handelsintensiv. Das gleiche gilt, wenn sich das Ausbautempo der globalen Wertketten verlangsamt oder stagniert, oder wenn die Multis die Produktionsketten verkürzen, weil sie zu komplex und störungsanfällig geworden sind  – dann führt dies ebenfalls zu einer schwächeren Entwicklung des Handels. ...

... Unternehmen, die mit globalen Wertketten arbeiten, bevorzugen eine andere Handelspolitik als Firmen ohne globale Wertketten, stellt der Internationale Währungsfond in einer Untersuchung fest und schlussfolgert, dass dadurch eine Gegenkraft zum Protektionismus besteht. Da heute aber nahezu alle großen Unternehmen mit globalen Wertketten arbeiten, müssten protektionistische Maßnahmen – zumindest wenn sie einen größeren Umfang annehmen sollten – gegen die mächtigsten Wirtschaftsgruppen durchgesetzt werden. (IMF, Trade Interconnectedness: The World with Global Value Chains, 2013)

Das American Enterprise Institute (Washington, DC) schreibt:

„Ungeachtet der naiven Deklarationen von Trump über „making America great again“ mit Protektionismus und Zöllen, zeigt unsere Wirtschaftsanalyse, dass Schutzzölle das Land unter dem Strich ärmer machen. .. Wenn Trump mit seiner merkantilistischen und protektionistischen Handelspolitik erfolgreich sein sollte, dann werden es die Durchschnittsamerikaner sein, die durch Strafzölle bestraft werden – nicht die Mexikaner oder Chinesen. Und während der Protektionismus von Trump möglicherweise einige US-amerikanische Jobs kurzfristig sichern könnte, werden seine Zölle und andere protektionistische Maßnahmen unvermeidlich auf längere Frist zu noch größeren Arbeitsplatzverlusten, weniger Wohlstand und einem niedrigeren Lebensstandard für den durchschnittlichen Amerikaner führen. Das ist kein Rezept für Größe, es ist ein sicheres Rezept für wirtschaftliche Verarmung.“

Doch selbst wenn der Ernstfall eintreten sollte, können die Multis protektionistische Maßnahmen und regionale Absonderungen abfedern. Gestützt auf den neuen Typ globaler Wertketten als einem komplexen Netz von selbstständigen Zulieferern, Verkäufern, Dienstleistern aller Art können sie mit Verschiebungen in ihrer Wertkette reagieren, indem sie z.B. ihre Zulieferer zwingen, ihre Produkte vermehrt in den USA herzustellen, ohne selbst Fabriken ab- und aufbauen zu müssen.

Siemens-Chef Joe Kaeser meint zur Gefahr eines Zerfalls der Europäischen Union:

„Die globalen Unternehmen könnten einen Zerfall des Binnenmarktes noch vergleichsweise gelassen sehen, weil sie ohnehin in verschiedenen Regionen unterwegs sind und ihre Ressourcen schnell von Europa nach Asien oder Amerika verschieben können.“ (DIE WELT, 26. Januar 2016) ....

.... In keiner anderen Region der Welt ist die kapital- und handelsmäßige Verflechtung so eng wie zwischen Nordamerika und der Europäischen Union.

Trotz der gegenwärtigen transatlantischen Reibereien bleiben die USA und Europa jeder dem anderen der wichtigste Wirtschaftspartner, verflochten durch FDI und Portfolioinvestments, Bankenverkehr, Handel, Verkauf durch Tochterfirmen, gegenseitige F&E-Investments, Patentkooperationen, Technologietransfer, … .

  • Über viele Jahrzehnte hat keine andere Region der Welt mehr US-Auslandsinvestitionen angezogen als Europa.

  • 2016 gingen 71% der US-Auslandsinvestitionen nach Europa;

  • Ungefähr 60% des US-Auslandsvermögens ist in Europa angelegt.

  • Der US-basierte Finanzinvestor Blackrock zählt zu den größten Investoren in Europa. In Deutschland gibt es kein DAX-Unternehmen, an dem Blackrock nicht beteiligt wäre; jede zehnte Aktie des DAX-Index wird von Blackrock gehalten. Nicht überall steht Blackrock drauf, wo Blackrock drin ist: mit neun verschiedenen Fonds ist Blackrock im DAX vertreten.  Bei den Verhandlungen über die Fusion von Bayer und Monsanto saßen die Vermögensverwalter auf beiden Seiten des Tisches: Capital Group ist bei beiden drittgrößter Aktionär, Blackrock ist mit 7% erster bei Bayer und mit 5,8% zweitgrößter bei Monsanto, währen Vanguard mit 7% größter Aktionär bei Monsanto und 4.größter Aktionär bei Bayer ist.

  • Ungefähr 70% des ausländischen Kapitalstocks in den USA entfällt auf europäische Unternehmen.

  • 2016 kamen 67% der Zuflüsse von Auslandsdirektinvestitionen aus Europa

  • Filialen US-amerikanischer Konzerne verkauften in Europa im Jahr 2014 Waren und Dienstleistungen im Wert von 2.900 Mrd. USD, das ist mehr als der gesamte US-Export in alle Welt in Höhe von 2.300 Mrd. und 46% des globalen Gesamtumsatzes von US-Filialen im Ausland.

  • Mehr als ein Fünftel des US-amerikanischen Exports geht in die EU und mehr als ein Fünftel des US-Imports kommt aus der EU.

  • 60% der US-Importe aus der EU fallen auf intra-firm Handel.
    Bei Autos ist die Import-Export-Bilanz zwischen den USA und Deutschland nahezu ausgeglichen: Pro Jahr werden ca. 815.000 deutsche Fahrzeuge in die USA importiert, während BMW, Daimler und VW in den USA knapp 810.000 Fahrzeuge produzieren. Davon werden 41 Prozent in den USA verkauft und 59 Prozent – mehr als jedes zweite Auto – aus den USA exportiert; wie insgesamt ein Fünftel (2012: 20,5%) des gesamten Warenexports der USA auf die Filialen ausländischer Unternehmen entfällt. Würden die USA Importzölle erheben, würde dies zu einem Einbruch beim Export führen.

  • 2014 waren in den US-Niederlassungen europäischer Konzerne 4.221.500 Menschen beschäftigt; US-Unternehmen beschäftigten in Europa 4.272.200 Menschen.
    Allein in den US-Niederlassungen der zehn am stärksten in den USA engagierten Unternehmen aus Deutschland arbeiten fast eine halbe Million Menschen.

  • „Wir sind im Grunde ein sehr etablierter Bestandteil der Vereinigten Staaten“, sagte Siemens-Chef Joe Kaeser kürzlich. Für den Münchner Technologiekonzern arbeiten in den USA mehr als 60.000 Mitarbeiter; nach dem Kauf des US-Softwarespezialisten Mentor Graphics sind es dann 70.000 Beschäftigte. Inzwischen werden 24% der Aktien von US-amerikanischen Anlegern gehalten (Deutschland: 29%). Das mag dazu beigetragen haben, dass sich Siemens im März 2017 gegen den US-Rivalen General Electric durchsetzen konnte und vom amerikanischen Verteidigungsministerium einen Rahmenvertrag über mehr als vier Milliarden Dollar über die nächsten fünf Jahre erhielt. Der größte Auftrag, den Siemens je von einer US-Regierung erhalten hat.

Daten: Center for Transatlantic Relations, The Transatlantic Economy 2016 ....

Fußnoten

[1] “Today’s global economy is characterized by global value chains (GVCs), in which intermediate goods and services are traded in fragmented and internationally dispersed production processes. GVCs are typically coordinated by TNCs, with cross-border trade of inputs and outputs taking place within their networks of affiliates, contractual partners and arm’s-length suppliers. TNC-coordinated GVCs account for some 80 per cent of global trade.“ (World Investment Report 2013, Overview, p. ix, UNCTAD)

Editorische Hinweise:

Das komplette Referat gibt es bei: https://www.isw-muenchen.de