Loveparade als Death Parade und organisierte Unschuld
Spätbürgerlicher Strafjustiz in den Zehnerjahren in Ganzdeutschland

von Richard Albrecht

02/2019

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Dieser Beitrag erinnert nicht nur an die Duisburger Loveparade am 24. Juli 2010 und ihre unmittelbare Verkehrung ins direkte Gegenteil, die Death Parade. Sondern verweist auch auf das Ende einer justiziellen Fahnenstange in Form der geplanten, öffentlich so umstrittenen wie strafrechtswissenschaftlich mißbräuchlichen, Verfahrenseinstellung durch Rechtsgespräch. Ausgeblendet bleiben theoretisch-kritische Dimensionen zum Transformationsprozess der Verkehrung von fingierter Liebe in reale Tode und massenhafte körperliche und seelische Verletzungen wie die dreifach wirksame Destruktivität von negativer Dialektik, negativer Vergesellschaftung und negativer Individualisierung. Die Ausblicksperspektive verweist kontrastiv auf die aktuelle Entwicklung des der Loveparade vergleichbaren social event, das britische Hillsborough Drama 1989.

Loveparade 2010

Über das hier Destruktionsereignis genannte Event in Duisburg am Sonnabend, dem 24. Juli 2010, berichtet das deutschsprachige Netzlexikon Wikipedia in einem ausführlichen Lemma zusammenfassend und sachlich zutreffend:

"Das Unglück der Loveparade ereignete sich während der 19. Veranstaltung dieser Art am 24. Juli 2010 in Duisburg. Dabei kamen 21 Menschen ums Leben, 541 weitere wurden schwer verletzt. Nach Angaben des Selbsthilfevereins LoPa-2010 vom Juli 2014 begingen darüber hinaus mindestens sechs Überlebende der Katastrophe aufgrund andauernder seelischer Belastungen Suizid: Das [...] Unglück geschah an einer Engstelle im Zugangsbereich der Loveparade, wo es wegen möglicherweise fehlgeleiteter Besucherströme und Planungsfehlern zu einem Gedränge unter den Besuchern gekommen war. Die Staatsanwaltschaft Duisburg leitete ein Ermittlungsverfahren gegen 16 Mitarbeiter der Stadtverwaltung Duisburg sowie gegen verantwortliche Mitarbeiter des Veranstalters und der Landespolizei ein. Die Unglücksursache und weitere Details konnten noch nicht abschließend geklärt werden und sind Gegenstand u. a. eines Strafverfahrens vor dem Landgericht Duisburg. Das Gericht stellte zunächst in einem Zwischenverfahren fest, dass es keinen hinreichenden Tatverdacht bei den Angeklagten gebe. Die Eröffnung des Hauptverfahrens wurde daher vom Landgericht Duisburg zunächst abgelehnt. Mit Beschluss vom 18. April 2017 hob das Oberlandesgericht Düsseldorf jedoch den Beschluss des Landgerichts Duisburg auf und ließ die Anklage gegen alle zehn Angeklagten zu. Die Hauptverhandlung begann am 8. Dezember 2017 vor der 6. großen Strafkammer des Landgerichts Duisburg, welche vor dem Hintergrund des großen erwarteten Besucheraufkommens in einer eigens in Düsseldorf eingerichteten Außenstelle tagt. Infolge der Katastrophe beendete der Organisator der Loveparade die seit 1989 bestehende Veranstaltungsreihe."

Alle Spekulationen darüber, warum die 1989 in Berlin begründete Großveranstaltung im Sommer 2010 erstmalig nach Duisburg geholt wurde, sollen hier unterbleiben. Der zitierte Bericht soll auch nur in einem Punkt ergänzt werden: Der CDU-Politiker Adolf Sauerland, im Oktober 2004 als Oberbürgermeister von Duisburg und erneut im August 2009 (wieder)gewählt, wurde im Februar 2012 durch Bürgerbegehren einer kommunalen Bürgerinitiative abgewählt nicht zuletzt wegen fehlender Verantwortungsübernahme nach der Loveparade.

Der aktuelle Stand

Nachdem das Landgericht Duisburg keine öffentliche Anklage gegen zehn staatsanwaltschaftlich Beschuldige erheben wollte, wurde es im April 2017 dazu vom Oberlandesgericht Düsseldorf veranlaßt. Und eröffnete das Hauptverfahren im Dezember 2017:
 

"Im Loveparade-Verfahren wird sich Mitte Januar voraussichtlich entscheiden, ob der Prozess bis zu einem Urteil fortgesetzt oder vorher ohne Urteil eingestellt wird. Das Landgericht (LG) Duisburg hat dazu für den 16. Januar die beteiligten Juristen zu einem Rechtsgespräch eingeladen. Der Termin steht aber unter dem Vorbehalt, dass das bis dahin noch geplante umfangreiche Beweisprogramm mit weiteren acht Verhandlungsterminen bis Jahresende und den weiteren Terminen Anfang Januar wie geplant durchgeführt werden kann. Staatsanwaltschaft, Nebenklagevertreter und Verteidiger können dann zum bisherigen Verlauf der Beweisaufnahme und dem vorläufigen Ergebnis Stellung nehmen, wie das Gericht am Dienstag mitteilte. Das Gericht will zudem eine eigene Einschätzung abgeben. ´Es soll auch eine Erörterung der Frage stattfinden, wie das Verfahren fortgeführt werden könnte´, hieß es weiter [...] Ein Gerichtssprecher ging am Dienstag davon aus, dass das Gespräch mehrere Stunden dauern wird. Daran teilnehmen können bis zu 75 Juristen: 32 Verteidiger, 37 Nebenklage-Anwälte, drei Staatsanwälte und die drei Juristen der Strafkammer. Grundlage des Rechtsgesprächs soll auch ein im Auftrag der Staatsanwaltschaft erstelltes Gutachten zum Hergang der Tragödie sein. Bei der Loveparade am 24. Juli 2010 in Duisburg waren am einzigen Zu- und Abgang zum Veranstaltungsgelände im Gedränge 21 Menschen erdrückt und mindestens 652 verletzt worden. Angeklagt sind sechs Mitarbeiter der Stadt Duisburg und vier des Veranstalters Lopavent. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen fahrlässige Tötung und fahrlässige Körperverletzung vor."

Rechtsgespräch

Gerichtsverfassungsgesetz, Strafgesetz und Strafprozessordnung kennen das Institut des allein aktiv verberuflichten Volljuriste[inn]en zugänglichen Rechtsgesprächs mit seiner Nähe zum konspirativen speak-easy-deal als Handel mit Gerechtigkeit bisher nicht; genauer: Jedes berufsrichterlich veranlaßte geheime Rechtsgespräch gilt aus bürgerrechtlicher Sicht nicht nur wegen der Verhinderung von Öffentlichkit im öffentlichen Prozeß als rechtlich höchstproblematisch – sondern wurde bereits 2004 am Beispiel des Mannesmann-Prozesses in Düsseldorf aus rechtswissenschaftlicher Sicht öffentlich als Farce bezeichnet.

Erwartungsgemäß ergab das volljuristische Rechtsgespräch im Duisburger Strafprozeß um Verantwortung & Schuld und Schuld & Sühne bei der Loveparade 2010 die Option der schlußendlichen Verfahrenseinstellung ohne Gerichtsurteil. Das bedeutet nach dem oberlandesgerichtlich gerügten Nichtverfahren bei Verfahrenseinstellung konkret vor allem den offensichtlichen Bankrott bürgerlicher Menschenrechte im gegenwärtigen Ganzdeutschland: was als unveräußerbare Würde des Menschen, die alle staatliche Gewalt zu achten und zu schützen hat, gilt und zu der vor allem das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit gehören, konnte nicht geschützt werden.

In der vom Landgericht Duisburg am 17. Jänner 2019 veröffentlichten Presseerklärung zum Rechtsgespräch am Vortag wird vor allem darauf abgehoben, daß aus landgerichtlicher Sicht die invididuelle Schuld jedes Angeklagten "gering bis allenfalls mittelschwer" wäre. Folglich soll es im weiteren Prozeßablauf um die "vorstellbaren Bedingungen einer Verfahrenseinstellung" seitens der Prozeßparteien (Staatanwaltschaft als Anklagehebörde, Verteidiger als Vertreter der Angeklagten, Nebenkläger als Vertreter der Geschädigten) gehen. Und damit um Einzelheiten des im Rechtsgespräch vereinbarten deals nach Strafprozeßordnung.

Das ist jedoch nichts Anderes als die gerichtlich organisierte Unschuld in Form schlußendlicher Verfahrenseinstellung; genauer: Die Berufsrichterei begibt sich bei geplanter Verfahrenseinstellung ohne Urteil in die manus manum lavat-Pose, in der eine Hand die andere wäscht - ermöglicht durch eine kleingekackerte bürgerliche Rechtsstruktur mit ihrer Negativindividualisierung einzelner Täter und deren Handlungs-, Duldungs- oder Unterlassungspartikeln. Im Namen des Volkes wird individuelle Schuld prozessproduziert so gering(st), daß marktkonforme Justiz Strafverfolgung und Verurteilung nicht mehr betreibt: Erweisliches Unrecht wird formal verrechtlicht, Gerechtigkeit als rechtsstaatliches Handeln bestimmender Leitsatz aufgehoben und die Dialektik von Rechtsausschöpfung und Rechtsentwicklung ins reaktionäre Gegenteil verkehrt.

Denkalternativen

Auffällig bei diesem professionsjuristischen Verfahren der Verlust jeden alternativen Denkens. Etwa als should-have-known-Vorhalt: Sie hätten als verantwortliche Veranstalter und/oder kontrollierendes Aufsichts- und Dienstpersonal der Loveparade aber wissen müssen ... Auch Hanah Arendts Hinweis Das-hätte-nie-geschehen-dürfen gilt juristisch herrschender nebst Mindermeinung ebenso als höchstgefährlicher militanter Humanismus wie schon eine schlichte gedankenexeperimentelle Überlegung zur Beweislastumkehr nach dem wirklichen Vernichtungsereignis. Und die naheliegendste Maßnahme: daß das Ganze dienstaufsichtsbehördlich spätestens einen Tag vorher, am Freitagmittag dem 23. Juli 2010 bis 12 Uhr, vom zuständigen Regierungspräsidenten, damals dem seit 1995 in Düsseldorf amtierenden nordrhein-westfälischen SPD-Spitzenfunktionär Jürgen Büssow, hätte untersagt werden können (oder müssen), liegt bis heute dem beteiligten Justizpersonal allerlei Geschlechter und sämtlicher Formate, Besoldungstufen und Preisklassen fern(er als fern).

So gesehen, ist was gelegentlich organisierte Verantwortungslosigkeit genannt wird nur logische und empirische Folge der Grundstruktur (spät)bürgerlichen Strafrechts ganzdeutscher Ausprägung. Welches nicht mal post festum, nach tödlichen und verletzenden Ereignissen, Leben und körperliche Unversehrtheit ideel achten und schützen helfen kann. (Dies ist ein Zusammenhang, der in der auf Völkermordverhinderung ausgelegten internationalen Genozidforschung als second killing oder der zweite Tod bezeichnet wird.)

Hillsborough 1989

Anders die mit dem bisher angesprochenen Komplex vergleichbare insulare bürgerliche Rechtspraxis des Vereinigten Königreichs:

"Die Hillsborough-Katastrophe war ein schweres Zuschauerunglück mit 96 Toten und 766 Verletzten am 15. April 1989 im Hillsborough Stadium in Sheffield. Sie ereignete sich während des Halbfinalspiels um den FA [Football Association] Cup zwischen dem FC Liverpool und Nottingham Forest und gilt bis heute [...] als eine der größten Katastrophen in der Geschichte des Fußballs. Die Ursache für das Unglück war lange umstritten. Erst 27 Jahre später erklärte die Jury einer Untersuchungskommission, dass die 96 Opfer von Sheffield „rechtswidrig getötet“ (englisch unlawfully killed) wurden. Auslöser der Tragödie waren demnach schwere Fehler der Polizei und nicht – wie jahrelang von behördlicher Seite behauptet – das Fehlverhalten der Zuschauer. Der damalige Einsatzleiter der Polizei, David Duckenfield, hatte, entgegen seiner früheren Aussage, eingeräumt, durch das unbedachte Öffnen eines Tores eine Mitverantwortung für die Katastrophe zu tragen. Bereits 2012 hatte eine unabhängige Kommission in ihrem Bericht nahegelegt, dass Mitglieder der Polizei und der Hilfskräfte sowohl bei den Ursachen der Katastrophe als auch deren Ausmaß eine erhebliche Schuld traf. Dies führte zu einer offiziellen Entschuldigung von Premierminister David Cameron, der Polizei von South Yorkshire, dem englischen Fußballverband FA sowie der Zeitung The Sun für die Rolle, die sie bzw. ihre Organisationen in dem Geschehen gespielt haben."

Zu ergänzen ist Wikipedia auch hier: im dreißigsten Jahr nach dem Destruktionsereignis selbst muß sich seit Mitte Januar 2019 mit dem chief superintendent ein Hauptverantwortlicher vor dem Preston Crown Court, Lancashire, öffentlich verantworten.

Und es gab die kurze öffentliche Ansprache des damals amtierenden Tory-PM David Cameron im Jahr 2012. Sie wollte und sollte nicht – wie üblich verbal und folgenlos – Unentschuldbares entschuldigen. Sondern, wenn auch erst mehr als gut zwei Jahrzehnte nach dem Drama von Hillsborough selbst, zur weiteren Aufklärung beitragen. Dabei sprach der Premier sowohl die ungesetzliche Tötung und Verletzung von Menschen als auch die den Betroffenen und ihren Angehörigen widerfahrene doppelte Ungerechtigkeit verstehend und verständig an.


Literatur; Quellen; Links

Richard Albrecht

Rechtsgespräch, Mannesmannrecht und mehr. Über berufsrichterliches Handeln und seine Grenzen [2004]; wieder in: ders.,
StaatsRache - Justiz-kritische Beiträge gegen die Dummheit im deutschen Recht(ssystem). München: GRIN, 2007
http://www.grin.com/ebook/36391/staatsrache-justizkritische-beitraege-gegen-die-dummheit-im-deutschen  

ders., GESELLSCHAFT. Eine Einführung in soziologische Sichten; in: Aufklärung und Kritik, 21 (2014) II: 169-187  http://www.gkpn.de/Albrecht_GESELLSCHAFT.pdf

ders., MURDER(ING) ARMENIANS. The Turkish genocide against the Ottoman Armenians during the First World War and its place in the political history of 20th century; in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, 108 (2014): 127-148 http://www.unifr.ch/szrkg/assets/files/leseproben/2014/albrecht_2014.pdf

Hannah Arendt

Gespräch mit Günter Gauss [ARD-Sendung 28.10.1964]
https://www.youtube.com/watch?v=J9SyTEUi6Kw

Bertolt Brecht

Furcht und Elend des Dritten Reiches ("The Private Life of the Masters Race" [1938]; ursprünglicher Titel des Stücks "Deutschland - ein Greuelmärchen"; Pariser Uraufführung 1938 udT. "99 %"); in: Gesammelte Werke 3. Stücke 3. Werkausgabe edition suhrkamp, Frankfurt/Main 1967: 1073-1193; 1103-1120: Rechtsfindung [als ausgeschriebene Szene zur Berufsrichterei]

Betroffenen Initiative LoPa 2010 e.V.

Bleibt die Loveparade-Katastrophe ohne juristische Konsequenzen? [18.1.2019]
https://www.lokalkompass.de/duisburg/c-kultur/fuer-die-betroffenen-unertraeglich_a1057551

David Cameron  apologises for the "double injustice" of Hillsborough whilst speaking at Prime Minister's Questions [2012] https://www.youtube.com/watch?v=mavTTc21sCY

Walter Grasnick

Im Namen der Farce. Das spezielle Mannesmann-Prozessrecht; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 12.5.2004: 39

Hillsborough police chief goes on trial for manslaughter
https://www.theguardian.com/uk-news/2019/jan/14/hillsborough-police-chief-david-duckenfield-on-trial

Markus Lanz [ZDF-Sendung 15.2.2018]  

https://www.youtube.com/watch?v=zobfWeW3bkg
[Gäste Didi Hamann und Adrian Tempany]

Loveparade-Strafprozeß: Entscheidendes Rechtsgespräch am 16. Januar https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/loveparade-prozess-lg-duisburg-rechtsgespraech-januar/

Presseerklärung: Vermerk des Vorsitzenden Richters im Wortlaut [17.1.2017]
http://www.lg-duisburg.nrw.de/behoerde/loveparade/zt_behinderte/so_pe/20190117-PE-49-Vermerk-im-Wortlaut.pdf

Wikipedia


ANLAGEN [PdF]

 

Dr. Richard Albrecht, PhD., Sozialwissenschaftler und Wissenschaftsjournalist. Leitkonzept The Utopian Paradigm–A Futurist Perspective (1991). Kolumnist des Linzer Fachmagazins soziologie heute und Autor der Berliner Netzzeitung trend. Letzte Buchveröffentlichung HELDENTOD. Kurze Texte aus Langen Jahren (Shaker Media 2011).