100 JAHRE NOVEMBERREVOLUTION

München 1918/19

von Helmut Neubauer

02/2019

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.... Die Einsicht, daß der Krieg nicht mehr zu gewinnen war, und die sich verschlechternde Lage in Deutschland führten im Winter 1916/17 zur Verdrossenheit in breiten Schichten der Bevölkerung gegenüber der unfähigen Regierung. In der politischen Opposition sah man in ihr zunehmend die Ver­körperung einer gesellschaftlichen Ordnung, die ihre Existenz­berechtigung selbst verspielt hatte. Das Königreich Bayern bildete keine Ausnahme, obwohl hier die meist konservative Landbevölkerung (1907: 51 Prozent) größer war als im Reichsdurchschnitt (34 Prozent). Die Spannung machte sich Ende Januar 1918 in München in einem Streik der Metall­arbeiter Luft. Dabei zeigte sich, daß die Sozialdemokratische Partei viel Sympathie unter der Arbeiterschaft eingebüßt hatte. Die Stimmung neigte offenbar mehr der im April 1917 gegründeten Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei zu, die radikalere Losungen verkündete.

Ihr bester Kopf in München, wenn auch nicht ihr unbestrit­tener Führer, war der seit 1910 in der Hauptstadt Bayerns lebende Schriftsteller und Journalist Kurt Eisner, Biograph Wilhelm Liebknechts, geistreicher Theaterkritiker. Der aner­kannte Führer der SPD, Georg von Vollmar, legte im August 1918 sein Amt aus Krankheitsgründen nieder. Um die Nachfolge Vollmars, der als »Revisionist« die SPD aus einer Arbeiter- in eine Volkspartei umzuformen bestrebt war, kämpften Eisner, seit Februar als Hauptverantwort­licher für den Streik in Haft, und Erhard Auer, der von revolutionären Aktionen und kämpferischem Pazifismus nicht viel hielt: dem leidenschaftlichen Tribunen stand ein bedäch­tiger Pragmatiker gegenüber.

Die bayerische Regierung versuchte im Herbst, die Unruhe durch Zugeständnisse aufzufangen. Eisner wurde entlassen, und am 2. November verkündete König Ludwig III., künftig seien die Minister dem Landtag verantwortlich. Doch dieser Ansatz zur »Demokratisierung« des politischen Lebens kam zu spät. Vor Demonstrationen, an denen sich SPD und USPD gleichermaßen beteiligten, räumten Monarchie, Landtag und Regierung kampflos das Feld. Am 8. November 1918 war Bayern Republik. Als neue Repräsentanz wirkte der Arbei­ter-, Soldaten- und Bauernrat unter dem Vorsitz Eis­ners, der bald auch Ministerpräsident einer neu gebildeten Regierung wurde, in der vier SPD-, zwei USPD-Mitglieder und ein Parteiloser vertreten waren. Beamte und Angestellte der bayerischen Verwaltung stellten sich der neuen Regierung auf deren ausdrückliches Ersuchen zur Verfügung. Welches Verhältnis der sensible Kurt Eisner zu der politi­schen Macht, die ihm nun zugefallen war, hatte, ist schwer auszumachen. Seine eigene Partei war im Vergleich zur sozialdemokratischen, an ihrer Mitgliederzahl gemessen, schwach. Die inneren Probleme der SPD kannte er aus eige­ner Erfahrung; er hatte sich von dieser Partei schon vor Aus­bruch des Weltkrieges bewußt getrennt. Auf die neu ent­stehenden bürgerlichen Parteien (Bayerische Volkspartei, Deutsche Volkspartei/Deutsche Demokratische Partei, Baye­rische Mittelpartei) konnte er ohnedies nicht rechnen. Wie weit die radikalen Gruppen des Bayerischen Bauernbundes unter Führung der Brüder Gandorfer mit ihm arbeiten würden, war ungewiß. Sie bestanden aus dem Teil der Bauernschaft, der durch das kriegsbedingte System der Zwangsablieferung verärgert und gegen den Großgrundbe­sitz aufgebracht war.

Eines der starken Talente Eisners war ohne Zweifel sein Gespür für die Stimmung der Masse, und diese Masse, aus­gelaugt durch vier Jahre Krieg und enttäuscht von ihrer Führung, wollte vor allem einen erträglichen Frieden. Aus dieser Sicht wird man zu verstehen haben, daß Eisner einen raschen außenpolitischen Erfolg suchte. In der Hoff­nung, die harten Waffenstillstandsbedingungen der Alliierten mildern zu können, wandte er sich direkt an deren Regierun­gen; seine Meinung war, mit einem demokratischen Bayern als Keimzelle eines besseren Deutschland könne man nicht ebenso verfahren wie mit dem Kaiserreich. Ende November ließ er einige bayerische Aktenstücke veröffentlichen, die ihm die Alleinschuld der Reichsregierung am Weltkriege hin­reichend zu beweisen schienen. Der Pazifismus des bayeri­schen Ministerpräsidenten war ehrlich, aber sein Appell stieß auf taube Ohren - das Unternehmen verpuffte, war allen­falls für die Friedensmacher ein brauchbares Schuldbekennt­nis und Wasser auf die Mühle bayerischer Partikularisten, die Berlin ohnehin für die Quelle allen Übels hielten.

Konnte man diesen Versuch als einen Alleingang Eisners auf­fassen, so schieden sich die Geister an der Frage nach der künftigen Verfassung Bayerns. Hier mußte Eisner bekennen, was er unter dem »Sozialismus« verstand. Seine früheren Meinungsäußerungen waren mehr theoretischer Natur; ihm ging es weniger um die Durchsetzung einer bestimmten Dok­trin als um die Befreiung des Menschen von den hergebrach­ten Fesseln, die die Entfaltung der Persönlichkeit bisher verhindert hatten. Die Revolution war für Eisner, der durch die philosophische Schule des Neukantianismus gegangen war, in Kant und Fichte die Ahnherren Marx' erblickte, mehr eine moralische als eine politische Forderung. Seinen »Sozia­lismus« setzte er mit der Selbsttätigkeit mündiger Individuen gleich. Daraus erklärt sich seine Abneigung gegen die organi­sationsbeflissene SPD wie gegen die kleinen radikalen Grup­pen, die schon Ende 1918 empfehlend auf das sowjetrussische Modell hinwiesen. Dies macht auch verständlich, daß er den traditionellen Parlamentarismus ebenso ablehnte wie das schematische Klassendenken des Marxismus. Die Forderung nach einer »Sozialisierung der Produktionsmittel« hielt er für ebenso zweitrangig wie die Stimmungsmache der Presse, die alsbald offen gegen ihn einsetzte. Als am 6./7. Dezember eine radikale Gruppe versuchte, Münchener Zeitungen ge­waltsam zu »sozialisieren«, griff er energisch dagegen ein.

Die tatsächliche Entwicklung konfrontierte Eisner indes ge­rade mit den Problemen, deren Lösung er optimistisch der Zukunft überlassen zu können glaubte. Hatten die Zeit­genossen endlich begriffen, daß sie nunmehr freie Individuen waren, dann änderte sich nach Eisners Vorstellung ihr geisti­ger Horizont, und sie fanden zwangsläufig neue Wertmaß­stäbe. Politische Führung war demnach eine riesige pädago­gische Arbeit. In seinen Reden betonte er gern, die einzige Realpolitik für ihn sei die »Realpolitik des Idealismus«. Den meisten Zeitgenossen erschien dies als Phantasterei; von rechts betrachtet, war Eisner ein wirklichkeitsfremder Schwärmer, vielleicht sogar ein Bolschewist, von ganz links dagegen ein Werkzeug der Bourgeoisie (deren Klassencharak­ter zu erkennen er sich weigerte), allenfalls ein bürgerlicher Revolutionär, dem das bürgerliche Eigentum als unantastbar galt; seine eigenen Ministerkollegen von der SPD betrachte­ten ihn als einen Hitzkopf. Ob sich Kurt Eisner als Minister­präsident selbst am richtigen Platze fühlte, ist nicht erwiesen; seine Fähigkeiten kamen nicht so sehr während der Kabinetts­sitzungen wie auf der Rednertribüne zu Tage, sei es auf großen Versammlungen, sei es bei den Sitzungen der Räte oder der provisorischen Nationalversammlung.

Entscheidend wurde schließlich für ihn die Verfassungsfrage. Welche Stellung sollten die Räte künftig im politischen Leben einnehmen? Mit der von Eisner vorgetragenen Zielsetzung, sie sollten Verkörperung des Massenwillens und eine Schule der tätigen Demokratie sein, war es nicht mehr getan. Mochte dies seine ehrliche Uberzeugung sein, so waren diese Grund­sätze doch sehr verschieden ausdeutbar. Manchem klang schon die Bezeichnung »Räte« verdächtig, weil sie an die Zustände in Sowjetrußland erinnerte. Im übrigen spitzte sich die Diskussion nicht nur in Bayern auf die Frage »Räte oder Parlament?« zu, sondern im ganzen Reich. Die geplante Nationalversammlung wurde von den politischen Kräften, die links von den Sozialdemokraten standen, mit der Konter­revolution gleichgesetzt. Der Reichskongreß der Arbeiter­und Soldatenräte in Berlin entschied sich Mitte Dezember für eine verfassungsgebende Nationalversammlung; die Unab­hängigen traten aus dem Berliner Rat der Volksbeauftragten am 29. Dezember aus; der Spartakusbund warf der SPD vor, sie verrate die Revolution. In Bayern war es nicht anders, obwohl Kurt Eisner die Frage »Räte oder Parlament?« dadurch zu entschärfen versuchte, daß er eine neue Formel prägte: »Räte und Parlament!«. Er war offenbar davon überzeugt, allen Seiten entgegenzukommen, in der Praxis aber enttäuschte er alle, zumal er jedem Versuch, ihn festzulegen, auswich: bisweilen sprach er von den Räten als einem Kontrollorgan, dann wieder bezeichnete er sie als Nebenparlament oder auch als beratendes Gremium. Er mußte sich klar darüber sein, daß es für ihn in einem parla­mentarisch regierten Bayern keinen führenden Platz geben werde. Das Rätesystem durchzusetzen, fehlten ihm die Kräfte. In einem »gemischten« System hätte er zwar auf sein Amt verzichten müssen, aber die Möglichkeit behalten, als Vertreter der Räte politischen Einfluß auszuüben.

Diese mehrdeutige Haltung vor den verschiedenen Körper­schaften, zu denen Anfang Dezember noch der Provisorische Nationalrat - je 50 Delegierte des Arbeiter-, Soldaten- und Bauern-Rates, 30 Mitglieder der SPD-Fraktion, 5 des Baye­rischen Bauernbundes und drei Liberale aus dem bayerischen Landtag, später noch einige andere - gekommen war, kostete ihn viel Sympathien. Die Wahlen zum bayerischen Landtag am 12. Januar 1919 zeigten deutlich, daß sich der Minister­präsident zwischen alle Fronten manövriert hatte oder hatte manövrieren lassen. Die USPD, seine Partei, erhielt nur drei ^on 180 Mandaten, die SPD 61, die Bayerische Volkspartei 66. Die Kommunisten hatten zum Boykott der Wahl auf­gerufen. Von fast allen Parteien wurde Eisners Rücktritt gefordert. Sozialdemokraten und Bürgerliche verlangten, er solle sich der unmißverständlichen Entscheidung der Wähler fügen und seinen zu Anfang der Revolution verkündeten Grundsätzen folgen.

Selbst wenn man annehmen kann, daß Eisner im Februar zum Rücktritt entschlossen war, so machte er damals doch einige Andeutungen, die als Drohung mit einer zweiten Revolution gedeutet werden konnten. Wie ernst Hinweise in dieser Richtung zu nehmen waren, hatte sich im Januar bei Straßenkämpfen in der Reichshauptstadt gezeigt. Von dem Reichsminister Gustav Noske geförderte Freikorps aus den Resten der kaiserlichen Armee unterdrückten be­waffnete Aufstandsversuche in einer Reihe deutscher Groß­städte. In München kam es noch am 16. Februar zu einer großen Demonstration, während der die Errichtung des Räteregimes gefordert wurde.

Diese zweite Revolution kam, wenn auch erst nach Eisners Ermordung am 21. Februar 1919. Am selben Tage wurde der Nationalversammlung in Weimar der revidierte Verfassungs­entwurf vorgelegt. Den Revolverschüssen des jungen Grafen Arco auf den noch amtierenden Ministerpräsidenten folgten zwei Stunden später weitere im Landtag; ein Abgeordneter und ein Offizier wurden getötet, Erhard Auer wurde schwer verwundet. Der Schütze war ein Mitglied des radikalen Revolutionären Arbeiterrates (RAR), der sich in München gebildet hatte. Die allgemeine Erregung drohte ein allge­meines Chaos auszulösen. Vertreter der Räte und des Revolu­tionären Arbeiterrates bildeten mit je einem Angehörigen der SPD und der Gewerkschaften einen Revolutionären Zentral­rat und proklamierten die energische Bekämpfung der Konterrevolution. Über den RAR zog erstmals ein promi­nentes Mitglied der Kommunistischen Partei Münchens (eine Spartakusgruppe bestand bereits seit dem 6. Dezember 1918) in ein oberstes Rätegremium ein: Max Levien, der sofort die Errichtung einer Räterepublik forderte. Der 1885 geborene Sohn eines Moskauer Kaufmanns hatte nach der Revolution von 1905 Rußland verlassen und die deutsche Staatsbürger­schaft angenommen. - Eine Delegation unter Führung des Matrosen Rudolf Egelhofer forderte vom Bayerischen Räte­kongreß die gleiche Entscheidung; in beiden Fällen wurde das Argument »Rußland« zum Katalysator der Meinungen.

Vielleicht war es aber gerade dieses Argument, das den Rätekongreß von einer Grundsatzentscheidung zurückhielt. Er konstituierte sich als - zweiter - provisorischer Nationalrat und bestellte ein Ministerium unter Martin Segitz mit je drei Mitgliedern aus der SPD und USPD sowie einem Vertreter des Bayerischen Bauernbundes und einem Parteilosen. Wäh­rend einer Tagungspause einigten sich SPD und USPD im so­genannten Nürnberger Kompromiß am 3. März 1919 auf ein gemeinsames Vorgehen: der Rätekongreß sollte seine Befug­nisse auf den Landtag übertragen, der Landtag sollte erneut zusammentreten. Dies geschah am 17. März; zum neuen Ministerpräsidenten einer Koalitionsregierung wurde Johan­nes Hoffmann (SPD), ein Lehrer, der im Kabinett Eisner Kultusminister gewesen war, gewählt. Damit schien das Schlimmste überwunden und die Entwicklung wieder in die Bahnen der Legalität zurückgeleitet.

Dennoch war die Zeit der Regierung Eisner mehr als nur eine revolutionäre Episode gewesen. Sie hatte alle, auch die bis dahin nur latent vorhandenen, politischen Kräfte frei­gesetzt, und auch solche Gruppen, die früher ein ziemlich abgezirkeltes Leben geführt hatten, zum Handeln im größe­ren Stil ermutigt. Während das Bürgertum auf eine Konsoli­dierung der Verhältnisse hoffte, die Sozialdemokraten auf eine Konsolidierung hinarbeiteten, sahen diese Gruppen jetzt ihre Stunde gekommen. Rückblickend erschien ihnen Eisner nicht nur nicht revolutionär genug, sondern nicht einmal als Revolutionär, höchstens als ein Bürgerschreck. Seine Politik war für sie die Aneinanderreihung von Halbheiten und Unzu­länglichkeiten, die politische Schwärmerei eines Spießbürgers. Dennoch war es Eisners Verdienst gewesen, den ersten Schritt getan zu haben. Nach seinem Tod wandelte sich indessen bei vielen Sozialisten die Betrachtungsweise: der Landtag und die von ihm gewählte Regierung galten nun als Werkzeuge der Konterrevolution - und Kurt Eisner als deren erstes Opfer.

Gegen die provisorische Regierung arbeitete am hartnäckig­sten der Revolutionäre Zentralrat, der sich selbst als Ver­körperung der proletarischen Einheitsfront, in manchen Fällen sogar schon als Organ der Diktatur des Proletariats verstand. Die Kommunisten waren in diesem Rat vertreten, doch sie bestimmten dessen Entscheidungen nicht, sondern warteten ab. Die KPD war im gegebenen Augenblick gegen die Ausrufung der Räterepublik; ihrer Führung erschien das Konglomerat der Stimmen, die sie forderten, zu bunt. Moch­ten sie noch so sehr auf das russische Vorbild hinweisen, den Kommunisten kam es nicht auf ein Rätesystem als ver­fassungsrechtliches Prinzip an, sondern darauf, daß die Räte kommunistisch waren. Daß sie überhaupt im Zentralrat blieben, wurde ihnen später von der parteioffiziellen Kritik als Fehler angekreidet. Im übrigen wird man ihre Münchener Mitglieder nicht als eine dogmatisch einer Ideologie ver­pflichtete Gruppe ansehen können. Ihre Beziehungen zu der Parteiführung in Berlin scheinen nur locker gewesen zu sein; aus der Reichshauptstadt erhielten sie auch keine merkliche Unterstützung. An der Spitze stand Max Levien; an Tatkraft wurde er von Eugen Levine übertroffen, den die Partei­leitung Anfang März 1919 als Redakteur der Roten Fahne nach München entsandt hatte; der gebürtige Petersburger, ehemals Heidelberger Student, 1905 Teilnehmer an der ersten russischen Revolution, linker Sozialrevolutionär, im Ersten Weltkrieg deutscher Soldat, zählte zu den Gründern der KPD.

Im Laufe des März kamen Nachrichten über die Gründung der Kommunistischen Internationale in Moskau und die Er­richtung der Räterepublik Ungarn unter Bela Kun nach München. Die Münchener Radikalen mußten sich dadurch bestätigt sehen. Als in den ersten Apriltagen der Landtag in München wieder zusammentreten sollte, war er bereits über­spielt: die Räte verhinderten die anberaumte Sitzung. Außer in München hatten sie in einer Reihe weiterer bayerischer Städte wenigstens vorübergehend das Heft in der Hand -in Rosenheim, Kempten, Lindau, Regensburg, Fürth, Würz­burg, Schweinfurt, Aschaffenburg, Hof. Unter der Mit-gliederschaft der SPD schien sich ein bemerkenswerter Stimmungsumschwung abzuzeichnen, hervorgerufen durch die Lauheit ihrer eigenen Parteiführung, die nach dem im er­sten Anlauf gemeinsam mit den Unabhängigen errungenen Erfolg erlahmt war; von Maßnahmen zur Umgestaltung der Gesellschaft war keine Rede mehr, dafür um so mehr von ruhiger und geordneter Arbeit; sogar auf das parlamentari­sche System hatte man zurückgegriffen und damit den bür­gerlichen Parteien wieder die Möglichkeit zur Bestimmung der praktischen Politik gegeben.

Die Ergebnisse der Landtagswahl ließen keine Hoffnung auf ein sozialistisch regiertes Bayern zu; SPD und USPD saßen auch künftig vermutlich in der Opposition, wenn sich die SPD nicht zur Koalition mit einer bürgerlichen Partei bereit­fand. Der Widerspruch zwischen dem revolutionären Pro­gramm und dem Zögern vor der revolutionären Aktion war evident. Nicht verwunderlich, daß unter den Parteimit­gliedern die Losung für die Räterepublik Widerhall fand. Sie allein schien im Stande, den Kapitalismus durch die Sozialisierung der Wirtschaft zu überwinden. Organisierter Widerstand gegen alles, was von links kam, wurde offenbar nur von der rechts-extremistischen Thule-Gesellschaft versucht, die in Bayern vielleicht 1500 Mitglieder zählte, in München etwa 250, unter ihnen Angehörige der späteren national-sozialistischen Prominenz wie Karl Fiehler, Hans Frank, Rudolf Heß und Alfred Rosenberg. Uber die Tätigkeit dieser Gesellschaft, die auch einen »Kampfbund« bildete, ist immer noch verhältnismäßig wenig bekannt. Sie hat sich jedenfalls nicht auf Propaganda beschränkt, sondern auch getarnte Aktionen unternommen, die den Sturz der Räteherrschaft zum Ziel hatten.

In der Nacht vom 6. zum 7. April 1919 wurde die Räte­republik durch den Revolutionären Zentralrat ausgerufen. Vertreter der SPD hatten sich in letzter Minute entschlossen, dieser Lösung zuzustimmen; immerhin war zu befürchten, daß sich die Partei andernfalls isoliert und an die Peripherie des Geschehens gerückt hätte, ja vielleicht sogar in ihrem Bestand bedroht gewesen wäre. Die neuen Männer wollten jetzt endlich Ernst machen mit der Diktatur des Proletariats. Sie dekretierten die Auflösung des Landtages und der Büro­kratie, die Sozialisierung von Wirtschaft und Presse, die revolutionäre Umgestaltung des Gerichts- und Bildungs­wesens, sie verkündeten eine allgemeine Arbeitspflicht und die Aufstellung einer Roten Armee; als Grundlage ihrer Außenpolitik betrachteten sie ein Bündnis mit den Räte­republiken in Rußland und Ungarn. An verbaler Radikalität war dieses Programm kaum mehr zu überbieten. Die provi­sorische Regierung sah rasch die Aussichtslosigkeit ihrer Lage ein und floh nach Bamberg. In dem neuen Rat der Volks­beauftragten in München saßen Angehörige der USPD neben Anarchisten und radikalen Bauernbündlern, aber keine Kom­munisten.

Die Regierungshandlungen dieser Männer überschritten bis­weilen die Grenze zum Grotesken. Der für die Außenpolitik verantwortliche Franz Lipp erwies sich nach einigen Tagen Amtszeit als Psychopath, Silvio Gsell, Volksbeauftragter für Finanzen, wollte seine Freigeld-Theorie zur Grundlage einer neuen Währungspolitik machen; es hagelte Aufrufe und Verordnungen, um die man sich allerdings nicht überall küm­merte, zumal sie ohnedies meist nicht ausgeführt wurden. Wenn man schon bei Kurt Eisner nur ein unbestimmtes Ver­hältnis zur Macht erkennen konnte, so war dieses Verhältnis bei den neuen Männern noch unbestimmter. Nach außen in Erscheinung traten vor allem drei Schriftsteller: Gustav Landauer, Volksbeauftragter für Volksaufklärung, verkündete die Kooperativgenossenschaft als die Gesellschafts­form der Zukunft, als »ideales Gemeinschaftsleben ohne Obrigkeitszwang und Kapitalistenherrschaft«, Anarchie und Föderation waren seiner Meinung nach die Grundlagen des Sozialismus, wie er ihn auffaßte. Sein Weltbild war von der deutschen Klassik und Romantik bestimmt; dem Geiste Goethes fühlte sich Landauer tief verpflichtet. Er hatte offen­sichtlich viel von dem Gedankengut Kropotkins aufgenom­men, dessen Schriften er zum Teil herausgegeben hatte; 1908 hatte er seinen eigenwilligen, von Bakunins Theorien beein­flußten »Aufruf zum Sozialismus« vorgetragen. Terror und Gewalt lehnte er ebenso ab wie alles, was die Anhänger des integralen Marxismus forderten; sie galten ihm als phili­ströse, auf den kleinbürgerlichen Geist im Proletariat speku­lierende Irrende, deren Irrtum darin begründet war, daß sie Marx und nicht Proudhon folgten. - Ähnlich ist die geistige Physiognomie Erich Mühsams, der sich selbst als »Anarcho-Kommunisten« bezeichnete, ja bisweilen von sich als »Sparta­kist« oder »Bolschewist« sprach.

Ernst Toller, 1914 Kriegsfreiwilliger, seit 1917 Mitglied des Kreises um Eisner, durch seine expressionistischen Dichtungen bekanntgeworden, löste Ernst Niekisch als Vorsitzenden des Zentralrates ab und war als Sechsundzwanzigjähriger damit oberster Repräsentant der Räterepublik. So sehr diese Männer von ihrer politischen wie humanistischen Mission durchdrungen waren, so wenig besaßen sie ein In­strumentarium zu deren Verwirklichung. Ja, sie meinten, daß ein solches Instrumentarium gar nicht erforderlich sei, daß es vielmehr genüge, die allgemeine Freiheit zu verkünden, da­mit sich alles weitere von selbst fände. Die eigentliche Auf­gabe bestand dann im wesentlichen darin, der Mitwelt durch Wort und Schrift deutlich zu machen, daß eine neue Zeit angebrochen war, in der jedermann sich entfalten könnte. An die Stelle der früheren Bevormundung durch die Obrig­keit sollte endlich die selbstverantwortliche Tätigkeit der Gesellschaft treten. Solche Gedanken verbanden sie mit Eis­ner. Hatte dieser allein gestanden, so agierte nunmehr ein Triumvirat von sprachgewandten Schriftstellern. Ohne Zwei­fel übten sie zunächst eine gewisse Wirkung aus, aber ihre Ideale eigneten sich kaum für die Bewältigung praktischer Probleme. Dem Bürgertum erschienen die führenden Männer der Räterepublik überspannt, als typische Schwabinger Bo-hemiens, die Politik nur spielten. Auch wurde ihnen von den Bürgern angekreidet, daß sie - wie Eisner - nicht aus Bayern stammten, und dazu noch Juden waren. Solange sich ihr Leben in Literatencafes abspielte, konnte man über sie lächeln, jetzt aber fragte man sich, ob sie nicht zu »Toten­gräbern Bayerns« werden würden. Waren doch sogar die Sozialdemokraten offen ihre Gegner.

Daß sich die Köpfe der Räterepublik als Gesinnungs- und Kampfgenossen der Bolschewiki fühlten, ist ein fast rühren­des Mißverständnis. Freilich erhielten sie aus Moskau und anderen Orten Zustimmung, aber das war aus dem Über­schwang der Revolutionäre zu erklären. Lenin selbst hatte für sie nur kühl formulierte Fragen nach den tatsächlichen Machtverhältnissen funken lassen; auch dies erschien ihnen befriedigend. Sie konnten darauf hinweisen, daß sie in dem Mutterland der Revolution ernst genommen wurden. Die Münchener Kommunisten hingegen agitierten heftig gegen die »Scheinräterepublik«; aus ihrer abwartenden Haltung war offene Opposition geworden. Ihnen - und vielleicht nicht nur ihnen - kam es widersinnig vor, ja spießbürgerlich, daß die SPD noch am 11. April ihre Münchener Mitglieder zur Abstimmung über die Frage »Räterepublik oder nicht?« auf­rief. Von 20 000 beteiligten sich immerhin 7 000; die Ja- und Nein-Stimmen hielten sich etwa die Waage. Was sollte, fragte sich die KPD, dieser Stimmzettelfetischismus in einer Lage, die den Kampf um die Macht erforderte? Sie setzte auf die revolutionären Obleute und revolutionären Soldaten­vertreter, die auf ihr Betreiben in Betrieben und Truppen­teilen gewählt wurden und sich zu einem neuen Rat zusammenschlössen. Da dieser sich unter kommunistischer Kontrolle befand, hatte die KPD endlich das ihr zusagende Räteorgan gefunden.

Einmal kam es ihr nun darauf an, der »Scheinräterepublik« den Rückhalt in der Öffentlichkeit zu entziehen, zum andern darauf, vorbereitet zu sein, aus den Trümmern dieser »Schein­räterepublik« die Basis einer echten Räterepublik zu formen. Impotenz, Feigheit und Dilettantismus waren nur einige der Vorwürfe, die immer lauter gegen sie erhoben wurden, ob­wohl sich die Kommunisten ihr beratend zur Verfügung stellten. Aus dem Norden kamen die Nachrichten über die Bemühungen der provisorischen Regierung, Freiwillige für den Kampf gegen die Räte zu mobilisieren. In der Haupt­stadt machte weder die Aufstellung einer Roten Armee noch die Entwaffnung des Bürgertums besondere Fortschritte, das groß angekündigte Revolutionstribunal fällte nur wenige und dazu noch sehr milde Urteile; die Sozialisierungskom-mission tagte ohne Ergebnisse; Versammlungen jagten ein­ander, desgleichen Aufrufe und Erklärungen, mehr aber noch die Gerüchte. Man sprach von Bestechungen, ausländischen Geldern, von Verrat und moralischen Verfehlungen. . . Wie das flache Land auf die »Regierungshandlungen« reagierte, darüber machte man sich offenbar wenig Sorgen. Die Autori­tät der Volksbeauftragten erstreckte sich höchstens auf das Gebiet zwischen München, Augsburg und Rosenheim. Ver­wirrung und Unsicherheit waren vermutlich so groß und verbreitet, daß man von dem Rat der Volksbeauftragten überhaupt nichts Seriöses mehr erwartete.

Mag sein, daß man im Bürgertum hoffte, die Entwicklung in Bayern werde ebenso verlaufen wie im gesamten Reichsgebiet. Die revolutionäre Unruhe in Berlin hatte nach dem blutig niedergeschlagenen Spartakusaufstand im Januar ihren Höhepunkt bereits überschritten, und der Reichswehrminister Noske hatte der provisorischen Regierung bereits Truppen zur Unterdrückung der Räteherrschaft angeboten. Außerdem hatten sich Freiwilligenverbände an mehreren Orten zu sam­meln begonnen, die sich der Regierung zur Verfügung stell­ten, aber keineswegs deren auch nur gemäßigt sozialistische Einstellung teilten. Mag sein, daß Nachrichten über diese Vorgänge das Losschlagen der »republikanischen Schutz­truppe« in München am 13. April 1919 auslösten; obwohl es sich um eine nur kleine, dazu noch ziemlich suspekte »Truppe« handelte, hatte der Rat der Volksbeauftragten dem Unter­nehmen so gut wie nichts entgegenzusetzen.

Erst jetzt traten die Kommunisten offen zur revolutionären Aktion an; von ihnen wurde nun zum zweiten Mal die Räterepublik ausgerufen, die ihrem Verständnis nach echte. Die erste verschwand lautlos, sie gab sich selbst auf. Als neue oberste Macht fühlte sich der Rat der revolutionären Ob­leute. In Anbetracht dessen, daß die »anarchistische« Räte­republik beim ersten Angriff auf sie keine Widerstandskraft zeigte, schien die Lage wieder völlig offen. Es ist denkbar, daß die Bamberger Regierung damit rechnete, die Gewalt in der Hauptstadt wieder leicht in die Hand zu bekommen; in diesem Falle hätte man die Woche vor dem 13. April als ein anarchistisches Abenteuer abtun können. Die Tätigkeit des Rates der Volksbeauftragten hatte nichts gemein gehabt mit Terrorismus; man hatte diese »Schwabinger« im Hinblick auf ihre politische Zerfahrenheit sogar der Lächerlichkeit der Zeitgenossen preiszugeben versucht.

Die kommunistische Räterepublik steuerte dagegen bewußt die Radikalisierung der Lage an. Wie sicher sie sich ihres Erfolges war, ist schwer zu beurteilen. Die Vernunftgründe sprachen eher gegen die Wiederaufnahme der Revolution. Weder von Sowjetrußland noch von Ungarn war mehr als ideelle oder propagandistische Hilfe zu erwarten. Eine kleine Hoffnung richtete sich auf Wien, wo es gärte. Erst wenn sich die ungarische Revolution in Österreich wiederholte, hätte sich die Möglichkeit ergeben, eine Art revolutionären Korri­dors durch Mitteleuropa zu legen. Derartige Gedanken haben indessen nur für den Vorsitzenden des Exekutivkomitees der Komintern, Georgij Sinovjev, nachweisbar eine Rolle ge­spielt. Die Berliner Regierung hatte im Reichsgebiet das Heft bereits wieder einigermaßen in der Hand und war durchaus in der Lage, Bayern von seinen Verbindungen abzuschneiden; im Interesse der Alliierten hätte eine Revolutionierung Deutschlands 1919 ebenfalls nicht mehr gelegen; ihre Besorg­nisse über die Ausbreitung des Bolschewismus waren ohnedies beträchtlich.

Vermutlich hoffte man in München dennoch, den zur Revo­lution geneigten Kräften in anderen Teilen Deutschlands ein Beispiel zu geben, der abebbenden revolutionären Welle einen neuen Antrieb zu verleihen. Als isoliertes politisches Gebilde war eine Räterepublik Bayern nicht lange zu halten. Allenfalls konnte man eine heroische Tat vollbringen, die eine weiterwirkende Tradition begründete, und gewisser­maßen die Ehre der deutschen Revolution retten. In diesem Falle war auch ein Kampf, der zur Aussichtslosigkeit verur­teilt war, gerechtfertigt. Der neu gebildete Aktionsausschuß mit einem vierköpfigen Vollzugsausschuß an der Spitze - Le-vien, Levin£, Toller sowie der aus Rußland stammende und zeitweilig für die Sowjetregierung tätige Tobia (?) Axelrod -entfaltete eine fieberhafte Tätigkeit, die sich von der der zurückgetretenen Räteregierung ganz erheblich unterschied. In dem Ausschuß saßen außer Kommunisten auch Unabhän­gige und Sozialdemokraten, die das kommunistische Pro­gramm bejahten. Jetzt machte man mit der Aufstellung einer Roten Armee ebenso Ernst wie mit Sozialisierungsmaß-nahmen, man beschlagnahmte Lebensmittel und Waffen, zen­sierte die Presse, sozialisierte die Wohnungen und verhaftete Geiseln. Die Diktatur des Proletariats sollte Wirklichkeit werden.

Auch die neuen Männer bemühten sich darum, mit Moskau Kontakt zu bekommen; sie erhielten - wenn auch erst spät -u. a. ein Antworttelegramm, das Lenin selbst verfaßt hatte. Aus den dreizehn Fragen, die seinen Inhalt ausmachten, war unschwer ein handfestes Aktionsprogramm abzulesen. Nicht ohne Recht erklärte die neue Rätemacht das sowjetrussische Modell für verbindlich. So ehrlich dieser Schritt gemeint war, so gefährlich konnte er sich auswirken. Hatte man schon zu Zeiten Eisners und der ersten Räterepublik kräftig mit Hin­weisen Stimmung gemacht, die neuen Männer seien Juden, so sprach man jetzt von den entscheidenen Männern, Levien und Levine vor allem, als »Russen« oder sogar von russischen Juden. Zunächst wurden solche Ansichten wohl nicht in der Öffentlichkeit geäußert, weil man von dem massiven Auf­treten der neuen Macht erschreckt war und sie tatsächlich fürchtete. Immerhin wuchsen im gleichen Maße, in dem sich die Macht der Räte in München verstärkte, auch die Kräfte, die sich deren Unterdrückung zum Ziel gesetzt hatten: im Norden Bayerns und im Oberland sammelten sich Freikorps, Reichswehreinheiten aus Württemberg und Thüringen waren seit dem 20. April im Anmarsch. Die Bevölkerung wurde unmutig, als es nicht gelang, in ausreichendem Maße Lebens­mittel heranzuschaffen: die Requirierungskommandos der Roten Armee stießen in vielen Dörfern auf hartnäckigen Widerstand der Bauern - drohte doch offensichtlich auch den Bauern die Sozialisierung, von der selbst die Bauernräte nichts wissen wollten. Propaganda und Gegenpropaganda arbeiteten mit Nachrichten und Gerüchten, die die Stimmung aufs äußerste erhitzten.

Auch innerhalb des Aktionsausschusses wurde die Atmo­sphäre zusehends gespannter, vor allem, als man sah, daß die Kommunisten zum äußersten entschlossen waren, es also auf den Bürgerkrieg ankommen lassen wollten. Schon am 16. April kam es zu einem Gefecht vor Dachau; einige Tage später besetzten Einheiten der Roten Armee Freising, Rosen­heim, Kochel, Schongau und Kaufbeuren. In einer turbulen­ten Sitzung der Betriebsräte warf Ernst Toller, der sich auch der zweiten Räterepublik zur Verfügung gestellt hatte, Le­vine vor, er betreibe russische und nicht bayerische Politik.

Die Kommunisten traten am 27. April 1919 aus dem Aktionsausschuß aus; an seiner Spitze stand jetzt Toller; was übrigblieb, war die von ihnen ins Leben gerufene Rote Armee, die unter ihrem Oberkommandierenden Egelhofer in den letzten Apriltagen München beherrschte. Uber ihre zahlenmäßige Stärke gehen die Angaben auseinander; man wird mit 20-30 000 Mann zu rechnen haben. An Kampf­kraft war sie ihrem Gegner freilich nicht gewachsen; dem Oberkommando fehlte es an Übersicht. Ernst Toller hatte an der Front vor Dachau sogar einen kurzen Waffenstillstand geschlossen und war durch den Vollzugsausschuß daraufhin vorübergehend inhaftiert worden. Das Kommando der Roten Armee hielt es für einen Sieg, als sich der Gegner zeitweilig zurückzog. Als Freikorps und Regierungstruppen von allen Seiten in die Stadt eindrangen, blieb der Straßenkampf letztes Mittel der Verteidigung. Er begann am i.Mai. Tags zuvor waren von der Roten Armee zehn Geiseln erschossen worden, sechs davon Angehörige der Thüle-Gesellschaft.

Die Erbitterung auf beiden Seiten ließ die Zahl der Opfer erst jetzt in die Hunderte steigen. Drei Viertel davon waren »Rote«, im Kampf Gefallene, in Standgerichtsverfahren Ver­urteilte und Erschossene.

Allein die Zahl von 600 Toten in München verbietet es, von der Räterepublik als von einem Abenteuer zu sprechen. Ein Teil der Männer, die vom November 1918 bis Ende April 1919 im politischen Mittelpunkt der Geschehnisse gestanden hatten, sah einem harten Schicksal entgegen: Landauer wurde in den ersten Maitagen von Angehörigen der Regierungs­truppen erschlagen; Mühsam verbüßte fünf Jahre Festungs­haft, wurde 1933 in ein Konzentrationslager gebracht und ein Jahr später ermordet; Niekisch wurde 1937 lebenslänglich zu Zuchthaus verurteilt und erst 1945 befreit; Toller beging nach Festungshaft und Emigration 1939 Selbstmord; Levien fioh nach Österreich und ging in der großen Säuberung der dreißiger Jahre in der Sowjetunion zugrunde; Levine* wur­de 1919 zum Tode verurteilt und hingerichtet. Uber 4.000 Strafverfahren wurden als juristisches Nachspiel gezählt; noch im September 1919 ergingen Todesurteile ....

Quelle: Tankred Dorst (HG) Die Münchner Räterepublik - Zeugnisse und Kommentar, Ffm 1966, S.172-187