Für eine kämpfende Gewerkschaft
Die Interessenvertreter der abhängig Beschäftigten stehen  unter Druck. Es ist höchste Zeit für einen Kurswechsel – ein  Aufruf

von "
Arbeitsausschuss der Initiative zur Vernetzung der Gewerkschaftslinke"

02/2018

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onlinezeitung

Die Lage einer wachsenden Zahl von Beschäftigten wird immer prekärer. Gewerkschaftliche Politik erweist sich in der heutigen Form als zunehmend hilflos, von den Bedrohungen auf ökologischer Ebene oder dem Abbau demokratischer Rechte noch ganz abgesehen. Auch die Gewerkschaften selbst kommen immer häufiger unter Druck. So ist es nicht verwunderlich, dass auch aus dem Apparat Stimmen lauter werden, die eine Änderung des aktuellen Kurses fordern.

Es dürfte vor allem die Sorge um die Handlungsfähigkeit und die Zukunft ihrer Organisation sein, die am 21. Oktober 2017 ca. hundert Funktionäre vor allem aus der IG Metall veranlasst hat, mit sieben Thesen eine Kurskorrektur anzumahnen. Sie sprechen sich für eine offensive Gewerkschaftspolitik aus, die den Interessengegensatz zwischen Kapital und Arbeit zum Ausgangspunkt nimmt. Es sollen zweimal im Jahr Vernetzungstreffen stattfinden. Eine begrüßenswerte Initiative. Es ist gut und verdient die Solidarität aller, die starke durchsetzungsfähige Gewerkschaften erhalten oder schaffen wollen, dass dieser notwendige Diskussionsprozess endlich angestoßen wurde.

Auch die Konferenz von »Organisieren–Kämpfen–Gewinnen« (OKG, www.organisierengewinnen.de ), die Ende Oktober mit ca. 70 Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus ganz unterschiedlichen Branchen stattfand, ist ein Fortschritt. Diese Kolleginnen und Kollegen wollen »eine Bewegung der Störenfriede« aufbauen, sich austauschen und vernetzen und regionale Runden organisieren. Damit kommt neuer Schwung in zum Teil verkrustete gewerkschaftliche Strukturen und Arbeitsweisen. 

Die Initiative zur Vernetzung der Gewerkschaftslinken beteiligt sich mit dem hier vorliegenden Text an der neu belebten Diskussion.

In der oberflächlichen Betrachtung des jüngsten IG-Metall-Tarifabschlusses durch die Medien wird ein vollkommen falsches Bild der realen Auswirkungen gezeichnet. Auf das Jahr umgerechnet bringt der Abschluss etwa eine 3,5prozentige Erhöhung der Entgelte. Das deckt gerade mal die Teuerungsrate und einen Teil des Produktivitätsfortschritts ab.

Bei einer befristeten Arbeitszeitabsenkung auf bis zu 28 Stunden gibt es überhaupt keinen Lohnausgleich, nur den Anspruch auf die Absenkung und die Zusage, danach wieder auf die vorherige Arbeitszeit zurückkehren zu können. Faktisch ist dies eine Abkehr vom Ziel des Lohnausgleichs und ein schlechtes Signal für die künftige Tarifpolitik.

Nur wenn das Tarifliche Zusatzgeld (T-ZuG) in Höhe von 27,5 Prozent eines Monatseinkommens in Zeit umgewandelt wird, was nur wegen Kinderbetreuung, Pflege oder Schichtarbeit überhaupt geht, werden zwei Tage mehr gewährt, als die 27,5 Prozent wert sind, nämlich acht statt sechs freie Tage. Also ein ganz kleines Zückerchen für diese drei Beschäftigtengruppen.

Auch sonst wird der neue Vertrag in keiner Weise den objektiven Herausforderungen gerecht, sondern öffnet dem Kapital weitere Türen für eine Differenzierung der Beschäftigtengruppen: In dem Maße, wie einzelne Kolleginnen und Kollegen ihre Arbeitszeit verkürzen, kann die Unternehmensleitung andere länger arbeiten lassen. Die Quoten derjenigen, die länger als 35 Stunden arbeiten, können erhöht werden von 13 Prozent (bzw. 18 Prozent in Baden-Württemberg) bis auf 30 Prozent per Betriebsvereinbarung, wenn ein Fachkräftemangel nachgewiesen werden kann, und auf 50 Prozent (»Strukturquote«) für Technologiebetriebe.

Mit dem Modell des »kollektiven betrieblichen Arbeitszeitvolumens« kann die Geschäftsleitung für jeden Teilzeitbeschäftigten mit anderen Kolleginnen und Kollegen eine Verlängerung auf 40 Stunden vereinbaren. Dafür wird der Chef schon genügend Schwache oder Erpressbare finden. Wenn demnach eine Kollegin auf 20 Stunden reduziert, können die Arbeitsverträge von drei anderen auf 40 Stunden verlängert werden. Im Resultat findet also überhaupt keine Verkürzung der Arbeitszeit der Gesamtbelegschaft statt, sie wird nur anders verteilt. Nicht umsonst sagte der Verhandlungsführer für Südwestmetall, Stefan Wolf: »Wir haben sehr viel bekommen, nämlich sehr viel Öffnung bei den Arbeitszeiten nach oben.«

Klassenpolitische Lage

Konsequente Gewerkschaftspolitik muss von der nüchternen Feststellung ausgehen, dass wir in einer Klassengesellschaft leben. Das Kapital wird nicht durch gute Argumente zu einer anderen Verhaltensweise oder gar zum »Abdanken« gebracht werden können. Im Gegenteil: Die Verwertungslogik des Kapitals führt zu einem ständig sich verschärfenden Konkurrenzkampf, im 21. Jahrhundert auch und gerade vor dem Hintergrund der zweiten großen Globalisierungswelle (die erste war Ende des 19. bzw. Anfang des 20.Jahrhunderts). Je weltumspannender die Verwertungsketten des Kapitals organisiert sind und überall die Absatzmärkte von Konzernen durchdrungen werden, umso brutaler wirkt die Konkurrenz. In der Logik des Kapitals werden deswegen Arbeitsbedingungen prekarisiert und Löhne gedrückt.

Diese Entwicklungen lassen sich nur durch kollektiven Widerstand bremsen bzw. umkehren. Dazu muss aber die gesamte Arbeiterbewegung die Politik des Kapitals als Angriff auf die Klasse der Lohnabhängigen begreifen. Politik des Kapitals heißt dabei zweierlei: zum einen die konkreten Personaleinsparungs- und Prekarisierungsmaßnahmen auf dem Rücken der abhängig Beschäftigten; zum anderen die Politik der Regierung, ganz gleich, welcher Couleur. Schließlich wurde die »Agenda 2010« von einer SPD-geführten Regierung durchgesetzt, was den Widerstand der Gewerkschaften sogar schwächer ausfallen ließ, als er bei einer CDU-Regierung gewesen wäre.

Anfang der 1990er Jahre wurde ‒ besonders in linken Funktionärskreisen ‒ noch ganz stark betont: »Die Kraft kommt von den Wurzeln.«¹ Von dieser Einsicht sind die Gewerkschaftsvorstände heute weit entfernt. Wir erleben seit mindestens 30 Jahren eine Gewerkschaftsbewegung im politischen Rückzug, was nicht nur mit den schärfer gewordenen Angriffen zu tun hat, sondern auch mit der zunehmenden Entpolitisierung und Anpassung der Gewerkschaftsführungen und erheblicher Teile der Hauptamtlichen (aber auch Ehrenamtlichen) in den mittleren und unteren Gremien.

Damit soll nicht übersehen werden, dass es auch Gegenbewegungen zu dieser allgemeinen Tendenz gibt. Aber eine offene und offensive Auseinandersetzung mit den Fehlentwicklungen und mit den zum Teil katastrophalen Positionierungen (vor allem der exportüberschussorientierten und auf Standortpolitik ausgerichteten Funktionäre) findet nicht statt.

Die derzeitig miserablen klassenpolitischen Kräfteverhältnisse werden vor allem durch zwei Faktoren geprägt:

  • Es gibt aufgrund der ständig sich beschleunigenden Umwälzungen der Produktionsstrukturen eine wachsende Arbeitsplatzunsicherheit. In großen Teilen der Bevölkerung breiten sich Abstiegsängste aus. Gegen drohende Arbeitsplatzvernichtungen und Prekarisierungsmaßnahmen wird den Gewerkschaften keine ausreichende Handlungsfähigkeit zugetraut. Die Menschen passen sich also an und trauen sich nicht, Widerstand zu leisten. Sie sehen keine Erfolgschancen.
  • Der Staat hat vor allem mit der Durchsetzung von Hartz IV die für das Kapital so wichtigen Begleitmaßnahmen beschlossen, die die Angst vor der Erwerbslosigkeit extrem gesteigert haben.

All dies wurde auch dadurch noch verschärft, dass die Gewerkschaften viele dieser Maßnahmen sogar aktiv mitgetragen haben und weiter mittragen. Dies fängt an bei der Riester-Rente und geht bis zum Unterlaufen des Prinzips »gleicher Lohn für gleiche Arbeit« durch die Leiharbeitstarifverträge. Trotz einiger (allerdings insgesamt noch sehr schwacher) Proteste hat die DGB-Tarifgemeinschaft Ende 2016 diese Verträge verlängert.(2)

Kampf um Arbeitszeitverkürzung

Heute kommt der Geisel Erwerbslosigkeit mehr denn je eine Schlüsselrolle zu. Solange sich auf dem Arbeitsmarkt keine nennenswerte Verschiebung der Kräfteverhältnisse durchsetzen lässt, werden Niedriglohnsektor, Prekarisierungen und Stellenabbau fortgeschrieben und sich verschärfen, während gleichzeitig die Reichen immer reicher werden. Klar muss sein, dass im Kapitalismus die Erwerbslosigkeit nicht zu beseitigen ist, aber es macht schon einen gewaltigen Unterschied, ob die Gewerkschaften mit einem entschlossenen Kampf und auf Kosten der Profite eine Verkürzung der Arbeitszeit durchsetzen und damit die Zahl der Erwerbslosen spürbar reduzieren. Ein solcher Erfolg hätte nicht nur auf dem Arbeitsmarkt bedeutsame Auswirkungen: Die Kolleginnen und Kollegen in den Betrieben würden sich wieder mehr trauen (weil die Angst vor Erwerbslosigkeit geringer würde), und auch weit darüber hinaus würde es der Klasse der Lohnabhängigen wieder Mut machen.

Ein solcher Kampf lässt sich nicht von oben verordnen und auch nicht von unten einfach mal »lostreten«. Das gesellschaftliche Umfeld (nicht nur in den Medien), aber auch und vor allem die innergewerkschaftlichen Kräfteverhältnisse und die sehr starke Skepsis unter den Kolleginnen und Kollegen erfordern einen langen Atem und einen mittel- bis langfristig angelegten Kampf um die Köpfe.

Der Produktivitätsfortschritt in der Metall- und Elektroindustrie betrug in den Jahren 1991 bis 2008 satte 100 Prozent! In der Gesamtwirtschaft waren es in diesem Zeitraum immerhin 35 Prozent.

Wenn gegen die Auswirkungen der Rationalisierung und Digitalisierung nichts unternommen wird, wenn also auf den Produktivitätsfortschritt nicht mit der Verkürzung der Arbeitszeit reagiert wird, erhöht sich die Erwerbslosigkeit (sie liegt heute real bei knapp fünf Millionen), und das Kräfteverhältnis verschlechtert sich weiter.

Was nicht empfehlenswert und was zu vermeiden ist:

  • Die Lebensarbeitszeitverkürzung ist ein wichtiges Ziel. Mindestens die Rücknahme der Rentenreformen muss weiterhin angestrebt werden. Aber dies hat bei der Reduzierung der Massenerwerbslosigkeit nur einen begrenzten Effekt. (Abgesehen davon, dass diese Verkürzung erst in Jahren greifen würde bzw. von der Politik konterkariert werden kann).³
  • Das Bemühen um eine Reduzierung der realen Arbeitszeit (Überschreiten der tariflichen Regelungen, Überstunden usw.) darf nicht dem Kampf um eine tarifliche Arbeitszeitverkürzung entgegengestellt werden. Dies sind keine Alternativen, sondern beides muss sich ergänzen.
  • In diesem Zusammenhang gilt es, vor allem die unzähligen betrieblichen Öffnungsklauseln abzuschaffen. Tariflich gestattet sind diese seit dem Pforzheimer Abkommen (12.2.2004), mit dem in Betrieben mit Innovationsbedarf oder hochqualifizierten Bereichen (was immer die Geschäftsleitung darunter versteht) längere Arbeitszeiten (oft ohne Lohnausgleich) ermöglicht werden. Dies erschwert den gemeinsamen Kampf, und aktive Betriebsräte wissen, wie schwer es ist, sich des Drucks zu erwehren, wenn die Geschäftsleitung entsprechend argumentiert und der Tarifvertrag das zulässt. Der Daimler-Chrysler-Vorstand Günther Fleig schrieb damals in den Stuttgarter Nachrichten (28.2.04): »Mit diesem Vorstoß sind wir bei den Gewerkschaften in die Tabuzone 35-Stunden-Woche gestoßen (…). Allerdings hätten wir das, was jetzt in der Tarifvereinbarung geregelt wurde, ohne den Tabubruch nicht erreicht (…). Wir haben den gesamten Katalog der Mindestnormen geöffnet. Wenn es die wirtschaftliche Situation des Betriebes erfordert, können sämtliche Standards auf Absenkung überprüft werden, nicht nur die unentgeltliche Verlängerung der Arbeitszeit.«

Worauf wir uns orientieren sollten:

  1. Eine Arbeitszeitverkürzung bringt nur dann einen messbaren Erfolg, wenn sie in großen Schritten erfolgt. Es müssen mehrere Stunden in der Woche sein, damit die Unternehmen auch gezwungen sind, neues Personal einzustellen.
  2. Ziel sollte deshalb sein, einen vollen Personalausgleich durchzusetzen, damit mehr Kolleginnen und Kollegen eine Anstellung bekommen und die Zahl der Erwerbslosen sinkt. Das gesellschaftspolitische Ziel sollte lauten: Verteilung der Arbeit auf alle Hände und Köpfe! Und auch unabhängig von der Arbeitszeitverkürzung gilt: Es braucht mehr Personal, nicht nur in den Krankenhäusern!
  3. Es darf nicht der geringste Zweifel daran aufkommen, dass die Gewerkschaft ohne Wenn und Aber auf einem vollen Entgeltausgleich besteht. Würde die Möglichkeit eines Teillohnverlustes offengelassen, hätte dies einen fatalen Demobilisierungseffekt.

Wie kann das umgesetzt werden?

  1. Die Gewerkschaftsbewegung sollte die positiven Erfahrungen von 1984 im Kampf um die 35-Stunden-Woche wieder aufgreifen, als vor allem die IG-Metall-Frauen die Kampagne unter dem Motto führten: »Mehr Zeit zum Leben, Lieben, Lachen, Lernen.«
  2. Innerhalb der Gewerkschaften gilt es, die Diskussion weiterzuentwickeln und eine umfassende Informationskampagne unter den Kolleginnen und Kollegen in den Betrieben anzugehen.
  3. Ein breites gesellschaftliches Bündnis sollte aufgebaut werden.
  4. Und es braucht eine ergänzende Kampagne: Kampf für eine lebenswerte Grundsicherung.

Konfliktvermeidung

Typisches Kennzeichen bürokratischer Machterhaltungsbestrebungen (auch und gerade in den Gewerkschaften) ist es, größeren gesellschaftlichen Auseinandersetzungen aus dem Weg zu gehen. Ja kein Risiko eingehen, sich lieber mit der herrschenden Politik arrangieren, als in einen Kampf einzutreten, dessen Ausgang ungewiss ist.

Aber es sind natürlich nicht nur materielle Überlegungen, die hier eine Rolle spielen. Eine Praxis, welche die Unternehmerideologie zur eigenen macht und unter dem Vorwand der Standortsicherung den gewerkschaftlichen Grundgedanken negiert, nämlich dass es ureigenste Aufgabe der Gewerkschaften ist, die Konkurrenz der abhängig Beschäftigten untereinander zu unterbinden, zerstört auf Dauer die Gewerkschaften.

So setzen sich die Gewerkschaftsvorstände lieber mit den herrschenden Politikern an einen Tisch, als auf die Förderung der Eigenaktivität der Kolleginnen und Kollegen zu setzen. Arbeitskämpfe werden extrem schwer gemacht, nicht zuletzt mit den einschränkenden Regularien für den Beginn eines Streiks wie auch mit der Streikkultur insgesamt. »Denn die Streikgeld-Streikkultur sichert den Gewerkschaften zweifellos die Loyalität der beitragszahlenden Mitglieder – im Positiven: dass sie handeln, wenn die Führung ruft, wie im Negativen: dass sie eben nur dann handeln. Es ist diese Form der Konfliktaustragung, die den Gewerkschaften die Kontrolle über ihre Mitglieder gewährleistet, die aber schon im Arbeitskampf 1984 als Achillesferse der IG Metall erkennbar geworden ist. (…) Vier Jahre braucht die IG Metall, so hieß es damals, um sich vom finanziellen Aderlass des Streiks 1984 zu erholen. So zeigte sich schon in diesem Arbeitskampf, wie schnell die scheinbare Stärke der deutschen Gewerkschaften, ihre prall gefüllten Streikkassen, zur Fessel werden kann.« (4)

Wenn wir das zitieren, dann nicht, weil wir etwa leere Streikkassen gut finden würden. Aber die ausschließliche Fixierung auf eine Streikform, bei der Streikgeld ausgezahlt wird, ist ein gewaltiger Pferdefuß, weil sie die Handlungsfähigkeit und vor allem die Handlungsbereitschaft der Kolleginnen und Kollegen beträchtlich einengt.

Seit den 1990er Jahren hat sich der Konfliktvermeidungskurs noch verschärft. Dies paart sich mit der extrem legalistischen Form gewerkschaftlicher Aktionen. Frank Deppe hat dies als eine der Hauptschwächen der deutschen Gewerkschaftsbewegung bewertet, was wesentlich zu ihrer weitgehenden Machtlosigkeit und mangelnden Attraktivität beiträgt: also Streiks nur nach Einwilligung von oben (und in aller Regel nur nach langwierigem internen Prozedere), keine Besetzungsaktionen usw. Als seinerzeit die Kolleginnen und Kollegen von Daimler in Mettingen (angeführt von der klassenkämpferischen Betriebsgruppe »Die Alternative«) über die Bundesstraße 10 nach Stuttgart demonstrierten, bekamen so manche Funktionäre auf Bezirks- und Vorstandsebene schon kalte Füße.

Oder dass es fast unvorstellbar ist, etwa den Betrieb besetzen, wie dies seinerzeit die Kollegen bei Seibel (Erwitte) taten. Am 10. März 1975 besetzten die Kollegen in diesem Zementwerk spontan den Betrieb und blieben dort fast zwei Monate lang. Die damalige IG Chemie – Papier – Keramik erkannte diesen Streik wenigstens nachträglich an, was bei der heutigen IG BCE undenkbar wäre. Vor allem: keine Erzwingungsstreiks! Streiks sollen immer nur der Gegenseite die Funktionsfähigkeit der Gewerkschaft dokumentieren, wirtschaftlicher Druck soll nur begrenzt ausgeübt werden. Was könnte man alles vom Streik der Kolleginnen bei Pierburg in Neuss aus dem Jahr 1973 lernen! (5)

Politischer Streik?

Es lässt sich sehr wohl ableiten, dass das Grundgesetz keineswegs den politischen Streik verbietet, zumindest dann nicht, wenn er (gemäß Artikel 9.3 GG) von einer Vereinigung, die sich »zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen« gebildet hat, geführt wird. ⁶ Beim heutigen Stand der Rechtsprechung wäre allerdings ein politischer Streik, der von einer kleinen Gruppe geführt wird, politisches und finanzielles Harakiri. Umgekehrt aber würde sich kein Gericht trauen, gegen Streikende vorzugehen, wenn es sich dabei um Hunderttausende oder gar Millionen handelt. Die Masse wird es bringen, auch hier ‒ und gerade hier ‒ gilt nach wie vor: Rechtsfragen sind Machtfragen.

Wenn demnächst ein Gesetz eingebracht wird, um das bundesdeutsche Streikrecht (bisher gesetzlich kaum kodifiziert) einzuschränken, dann müssen die deutschen Gewerkschaften doch sofort »auf die Barrikaden gehen« und zu massenhaften Protestmaßnahmen aufrufen! Wenn dabei etwa im Verkehrssektor oder vergleichbaren Bereichen dem Ausrufen eines Streiks hohe Hürden aufgelegt werden, dann müssen alle Alarmglocken schrillen, denn ein Angriff auf eine Gewerkschaft (auch auf eine Spartengewerkschaft!) ist ein Angriff auf alle.

Um in unseren politisch angepassten Gewerkschaften wirksam für einen Kurswechsel zu streiten, wird es darauf ankommen, dass sich die kritischen und klassenkämpferischen Elemente koordinieren, sich enger vernetzen und auch durchsetzen, dass sie eine klassenkämpferische Strömung in den Gewerkschaften bilden. Dann können sie als Anziehungspol wirken, und vor allem können sie dann der Anpassung der Vorstände wirksam Alternativen gegenüberstellen.

Die bisherigen »Streikkonferenzen« (im wesentlichen organisiert von der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit Unterstützung der örtlichen/regionalen Strukturen von Verdi und IG Metall) haben zur Vernetzung beigetragen. Die kommenden Streikkonferenzen sollten dem Ziel dienen, einen alternativen Kurs zur Politik der Vorstände auszuarbeiten und in den Gewerkschaften durchzusetzen.

Wenn sich klassenkämpferische Kräfte enger vernetzen und auf eine bessere Organisierung hinwirken wollen, dann sollten folgende gewerkschaftlichen Ziele im Mittelpunkt stehen:

  • Breiteste gesellschaftliche Mobilisierungen bei Massenentlassungen (Siemens, Air Berlin usw.)
  • Kampf allen Prekarisierungsmaßnahmen und allen Versuchen, den Niedriglohnsektor auszudehnen. Für einen Mindestlohn von heute 12,50 Euro, jährlich anzupassen an die steigenden Lebenshaltungskosten. Kampf allen Umgehungsstrategien, den Mindestlohn nicht zu zahlen.
  • Tarifflucht mit gewerkschaftsübergreifenden Mobilisierungen begegnen. Tarifbindung ausweiten. Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen durchsetzen.
  • Breite gewerkschaftliche und gesellschaftliche Mobilisierung für einen abschlagsfreien Renteneinstieg mit 60 und Wiederanhebung des Rentenniveaus auf mindestens 53 Prozent.
  • Organisierung eines langfristig angelegten Kampfes für eine radikale Arbeitszeitverkürzung bei vollem Entgelt- und Personalausgleich. • Breiteste gewerkschaftliche und gesellschaftliche Unterstützung für einen »Tarifvertrag Entlastung« (nicht nur in den Krankenhäusern) organisieren.
  • Für eine radikale Wende in der Verkehrs- und Infrastrukturpolitik. Raus aus der Autogesellschaft, Konversion der Autoindustrie, Ausbau des ÖPNV und kostenlose Nutzung. • Vergesellschaftung der großen Konzerne unter Kontrolle der Beschäftigten und der Öffentlichkeit.

Anmerkungen:

1) Martin Kempe: Die Kraft kommt von den Wurzeln, Frankfurt am Main/Wien 1990

2) Gäbe es keinen Tarifvertrag, wäre es mit der Leiharbeit ganz schnell vorbei. Mehr zur Vorbereitung einer Klage Wolfgang Däublers vor dem EUGH unter: www.tinyurl.com/ln4xcgj ( http://www.labournet.de/?p=11617 0)

3) Siehe hierzu Klaus Pickshaus: Belastungen zeitnah ausgleichen. In: Gudrun Faller (Hg.): Lehrbuch Betriebliche Gesundheitsförderung, Bern 2017, S. 487–496 u. ders.: Rücksichtslos gegen Gesundheit und Leben. Gute Arbeit und Kapitalismuskritik – ein politisches Projekt auf dem Prüfstand, Hamburg 2014

4) Kempe, a. a. O., S. 245 f.

5) Mehr dazu bei: Dieter Braeg (Hg.): Wilder Streik. Das ist Revolution. Der Streik der Arbeiterinnen bei Pierburg in Neuss 1973, Berlin 2013 6 Mehr dazu bei Veit Wilhelmy: Der politische Streik. Materialien zu einem Tabu, Frankfurt am Main 2008

Quelle: http://gewerkschaftsforum-do.de/ am 14.2.2018